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Was ist Aufklärung?

Hello, Freunde der Aufklärung,

ist Homophobie ein Produkt der Aufklärung? Oder der Gegenaufklärung?

Leben wir in einem Zeitalter der Aufklärung? Der überwundenen, über sich selbst aufgeklärten Aufklärung? Oder in einem Zeitalter der Gegenaufklärung? Den Begriff Gegenaufklärung gibt’s heute nicht mehr.

Liegt das daran, dass unsere Epoche sich nicht kenntlich machen will, indem sie sich erhaben wähnt über Begriffe der Vergangenheit, die wir im Zeitalter der unendlichen Informationen hinter uns gelassen hätten?

Wer sich definiert, sich mit einem Begriff oder einer Ideologie vorstellt, ist leicht widerlegbar. An seiner Selbstbezeichnung kann er gewogen und zu leicht befunden werden. Seine Reden können sein Tun, sein Tun seine Reden ad absurdum führen. Also bleiben wir im Nebel – wie gegenwärtig 400 Millionen Chinesen, die vor selbstgemachten Dünsten und Dämpfen die eigene Hand nicht mehr vor den Augen sehen.

Gegenaufklärung sorgt auch für physikalische Verdüsterung der Sonne. Denn Aufklärung ist Erleuchtung durch das Licht der Sonne. Enlightenment, eclaircissement, siecle des lumieres. Aufklären ist, der Wahrheit entgegengehen, die durch das Sonnenlicht dargestellt wird. Durch das natürliche Licht der Sonne, nicht durch das übernatürliche Licht einer Offenbarung, die uns blendet, und niederwirft:

„Während er aber dahinzog, geschah es, dass er in die Nähe von Damaskus kam, und plötzlich umstrahlte ihn ein Licht vom Himmel her und er stürzte zu Boden und hörte eine Stimme. Und er konnte drei Tage nicht sehen.“ Manchmal hält die Blindheit

 ein ganzes Leben lang an.

Das war die Beschreibung der Gegenaufklärung. Der Mensch mit seinen natürlichen Erkenntnismitteln ist verloren und auf rettende Offenbarung angewiesen. Was er für sein kärgliches Leben wissen muss, muss ihm gesagt werden. Er ist unfähig, selbst zu erkennen, selbst zu entscheiden, sein Geschick selbst zu leiten.

In der Gegenaufklärung muss natürliches Licht durch das künstliche Licht einer Gottheit verdunkelt werden, die sich anmaßt, über dem natürlichen Licht zu stehen. Ja, das natürliche Licht geschaffen zu haben mit dem Recht, es wieder zu vernichten.

Die Rauchschwaden, Emissionen und Smogs der modernen Industrie sind die physikalischen Begleiterscheinungen geistiger Verdunkelungen. Wer durch menschengemachte Düsternisse in der Natur desorientiert ist, muss auf ein Wunder übernatürlicher Offenbarung warten, um seinen vorgeschriebenen Weg zu finden.

Wer den eigenen Weg finden will, muss dem Licht der Vernunft vertrauen, einer Gabe der Natur, die er erst entfalten muss, um ihr gerecht zu werden. Lernen und Erkennen sind Entfaltungen der Vernunft. Gegenaufklärung lehnt das natürliche Licht ab und will das künstliche Licht selbst erfundener Götter an dessen Stelle setzen. Natürliches Licht und göttliches Offenbarungslicht schließen sich aus.

Je düsterer und dunkler die Natur bei Tag und je penetranter das Kunstlicht bei Nacht, je gefährdeter ist das Überleben auf dem Planeten.

Der SPIEGEL-Journalist Matthias Matussek – eben zur WELT gewechselt – ist der erste bekennende Taliban der Gegenaufklärung in Deutschland. Was muss mit dem SPIEGEL geschehen sein, dass das einstige „Sturmgeschütz der Aufklärung“ einen der militantesten Feinde der Aufklärung in seinen Reihen ausbrüten konnte? Matussek ist der erste Gazettenschreiber, der bereit wäre, seine ideologischen Gegner zu steinigen. Noch formuliert er das Steinigen passiv:

„So, und nun lasse ich mich gerne dafür steinigen, dass ich Spaemann und Aristotels zustimmend zitiere. Oder auch dafür, dass ich keine Lust habe, mich von den Gleichstellungsfunktionären plattmachen zu lassen, egal wie oft sie mir vorhalten mögen, dass es auch in der Natur bei irgendwelchen Pantoffeltierchen Homosexualität gebe und dass meine Haltung mittelalterlich sei“. (Matthias Matussek in der WELT)

Es werden Zeiten kommen – und dafür betet Matussek zu seinem Gott der Steine –, in denen er seine Gegner steinigen wird, wie es in der Schrift beschrieben wird: „Und sie stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn“. „So sollst du jenen Mann oder jenes Weib, die solchen Frevel begangen haben, zu deinen Toren hinausführen, den Mann oder das Weib und sollst sie zu Tode steinigen.“

Wer sich zur passiven Steinigung anbietet, bereitet sich innerlich drauf vor, selbst zu den Steinen zu greifen, um seine Widersacher zu bestrafen. Matussek glaubt an Talarmänner, die keine Kinder zeugen dürfen, um jene zu hassen, die keine zeugen wollen.

Wenn man den Begriff Homophobie aus dem Lateinischen übersetzt, erhalten wir: Furcht vor dem Menschen. Wenn man ihn aus dem Griechischen übersetzt, erhalten wir: Furcht vor dem Gleichen. Furcht steht hier verharmlosend für Hass. Wer Menschen oder Gleiche hasst, der steht fest auf dem Boden der Aufklärungsfeindschaft oder der biblischen Offenbarung.

(Der Hass auf Gleiches liegt auch dem Neoliberalismus zugrunde, den wir als Wirtschaftsform der Homophobie bezeichnen können. Der Sinn der neoliberalen Wirtschaft ist das Herstellen von Ungleichheit. Der Weizen gehört wenigen, die Spreu muss ins Feuer. Viele sind berufen, wenige auserwählt – in der kapitalistischen Ökonomie.)

Die Homophobie ist ein typisches Erzeugnis der Gegenaufklärung – die sich seltsamerweise auf das Natur-Recht beruft. Allein, es ist nicht die Natur der Griechen, aus der das Naturrecht abgeleitet ist, es ist die vom Gott der Offenbarung dressierte und abgerichtete Natur. Es ist jene Natur, die mit dem Sündenfall des Menschen in Sünde fiel und am Ende der Tage vernichtet wird, um als nagelneue Natur aufzuerstehen: Siehe, ich mache einen neuen Himmel und eine neue Erde.

Schlaue Katholiken berufen sich gern auf das Naturrecht, um den Anschein zu erwecken, als hätten sie keine Probleme mit natürlicher Vernunft und Wissenschaft. Ihre Natur ist die äußerlich von Aristoteles übernommene, aber durch Thomas von Aquin im Säurebad der Offenbarung verätzte und gezeichnete Natur der Offenbarung. Sie geben sich gern weltläufig, die katholischen Herren, um ihren Offenbarungsbonus nicht zu sehr zu strapazieren.

In der Tierwelt gibt es oft genug Homoerotisches, ohne das Zeugen nachfolgender Generationen zu gefährden. In der Natur gibt es aber keine Steinigungen. Zwar muss man sich gegenseitig fressen, um zu überleben, doch ohne moralische Abwertung des Objekts der Begierde. Im Schweiße seines Angesichts muss man sein Opfer jagen, oft vergeblich und unter eigener Gefährdung, nie aber mit der Selbstauszeichnung, alle anderen Geschöpfe seien nur dazu da, um der eigenen Gattung – der Krone der Schöpfung – zu dienen.

Gesättigte Tiere kennen keine Feinde, die sie aus moralischen Gründen vernichten müssten. Diese exquisite Fähigkeit besitzt der Mensch allein, der Myriaden von Tieren und Pflanzen zerstört – um sie als Kadaver ihrer Verwesung zu überlassen.

Die katholische Natur, aus der die Pfaffen ihr katholisches Naturrecht ableiten, ist eine dauergeschändete Magd Gottes – kein heidnischer Kosmos im Glanz seiner unerschaffenen Schönheit und Ordnung.

Erstaunlich, dass in keiner zeitgenössischen Abhandlung über Aufklärung ein Hinweis auf die Uraufklärung der griechischen Philosophie zu finden ist. Hier haben wir die Mutter aller Lügen: das griechische Erbe wird zunehmend verleugnet durch Dunkelmänner, die diesen Job seit Jahrhunderten professionell exekutieren. Das Licht der Natur soll eliminiert werden durch das Kunstlicht göttlicher Offenbarung.

Der Begriff Licht wird oft in der Schrift benutzt. „Ich bin das Licht der Welt, Ihr seid das Licht der Welt. Das Licht scheint in die Finsternis und die Finsternis hat es nicht begriffen. Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Es war in der Welt und die Welt ist durch Ihn – Jesus – geworden, und die Welt erkannte ihn nicht.“

In der Welt gibt es eine heftige Rivalität der Lichter. Es geht um Sein oder Nichtsein beim Vernichtungskampf des übernatürlichen gegen das natürliche Licht. Am Ausgang des geschichtsentscheidenden Kampfes allerdings gibt es keine Zweifel. Die Sonne hat nicht die geringste Chance gegen Gott:

„Und es wird keine Nacht mehr geben und sie bedürfen nicht des Lichts einer Lampe noch des Lichtes der Sonne; denn Gott der Herr wird über ihnen leuchten und sie werden herrschen in alle Ewigkeit.“

Nestle nannte sein Buch über die Entstehung der griechischen Aufklärung „Vom Mythos zum Logos“. Er hätte es auch nennen können: Aus dem Dunklen ins Helle, Aus der Herrschaft der Autoritäten zur autonomen Vernunft, Aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit. So hätte Kant formuliert.

Jeder kennt seine Aufklärungsformel, immer weniger nehmen sie ernst. Eliten und Medien erheben den großkotzigen Anspruch, stellvertretend für den gehirnamputierten Pöbel zu denken. Schauen wir genau hin:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Sollten wir in Zeiten einer stärker werdenden Gegenaufklärung leben – diese These wird hier vertreten –, liegen die Gründe auf der Hand. Es liegt an unserem mangelhaften Mut, unseren Verstand ohne Gängelung durch andere zu benutzen. Uns fehlen Wille und Courage – nicht Mangel an Verstand –, mit unserem Kopf zu denken. Autonomie ist eine Sache der Tapferkeit. Denken könnte jeder, wenn er sich von drohenden Autoritäten nicht einschüchtern ließe.

Die Natur hat jeden Menschen mit ausreichender Denkkraft bedacht. Dumme Menschen gibt es von Natur aus nicht. Dummheiten sind menschengemacht, sind schädliche Früchte der Erziehung. Schon an dieser Stelle machen die meisten nicht mit. Für sie steht fest, dass Menschen so unvernünftig sind wie Tiere – denn sie stammen von Tieren ab.

Oder sie sind gekennzeichnet von der Erbsünde, die mangelndes Denken miteinschließt, denn sie ist Folge eines gottfeindlichen Erkenntniswillens. Die Urmutter aß vom Baum der Erkenntnis, dafür muss die ganze Menschheit bis zum Ende aller Tage büßen. Obgleich der Schöpfer – hinter vorgehaltener Hand – seine Bewunderung für den Ungehorsam nicht verbergen konnte: Siehe, der Mensch ist worden wie Unsereiner, dass er weiß, was gut und böse ist.

Eine dubiose Aussage; hat der Mensch im Stand der Unschuld nicht gewusst, was gut und böse ist? Musste er es nicht wissen, weil er ohnehin moralisch perfekt war? Kann man Gutes tun, wenn man nicht weiß, was das Böse ist? Ist Gutes nicht die Entscheidung gegen das Böse? Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man lässt. Nach Wilhelm Busch kann man ohne Wissen des Bösen nichts Gutes tun.

Kants Aufklärung ist ein antiautoritäres Aufbegehren. Nicht nur Kindern, allen BürgerInnen soll die Fähigkeit vermittelt werden, angstfrei ihre Meinung zu sagen.

Das Internet hat vielen die Möglichkeit gegeben, aus ihrem Herzen keine Mördergrube zu machen. Tun sie es? Immer mehr tun es, wenn auch unter Angst. Anders würden sie nicht unter Anonyma schreiben.

Im Schutz der Verborgenheit ventilieren sie ihre lang unterdrückten Gefühle. Das ist noch keine angstfreie Meinungsäußerung, doch eindeutig mehr als totale Duckmäuserei. Man könnte sagen: der Plebs lernt es, seine Seele zu lüften. Eines Tages wird er den Schutz der Dunkelheit nicht mehr benötigen.

Im Gegensatz zu den codierten Schreibregeln der Profischreiber sind die Äußerungen des Shitstorms ehrlich. Man kann sich nur wundern, wie justament jene am meisten die moralische rote Karte zücken, die sich sonst allergisch zeigen gegen jedes Moralisieren. Wollen sie ernsthaft eine Moral der Unmoral predigen?

Sie sind gespalten. Privat sind sie Vertreter der strengsten Moral – vor allem ihren Kindern, Untergebenen und Abhängigen gegenüber –, doch in ihrem Kopf sind sie frei flottierende Antinomiker, die unter Moral etwas Schwächliches und Erbarmenswürdiges sehen.

Seit der Romantik wenden sich alle antiautoritären Bewegungen gegen die Autoritäten der Vernunft- und der Gottesmoral, die in einen Sack gesteckt wurden. Wie man sich von den Predigern befreite, so wollte man sich von Voltaire, Holbach – und Kant befreien.

Der Aufstand der Romantiker widersetzte sich gleichmäßig der Vernunft wie dem Glauben ihrer Väter – bis sie wieder fromm wurden und zum Glauben der Väter zurückkehrten. Die Vernunft der Aufklärung blieb auf der Strecke und mit ihr der kategorische Imperativ einer strengen Moral.

Die Deutschen wurden zu ambulanten Janusköpfen: einerseits verstand sich Moral im Privaten von selbst, andererseits lebten sie einer zukünftig politischen Welt ohne jegliche Moral.

Solange die konkrete Politik auf sich warten ließ, weil die Deutschen es zu keiner geschlossenen Nation brachten, solange fiel die schreiende Ambivalenz nicht auf. Erst bei Bismarck platzte der Knoten und der fromme Kanzler bekannte: mit der Bergpredigt kann ich keine Politik machen. Mit Blut und Eisen hob er die embryonale kleindeutsche Nation aus der Taufe.

Die Deutschen wurden private Biedermänner und politische Machiavellisten. Ihre lange politische Abstinenz verleitete sie, die Wirklichkeit allein unter den Vorzeichen der Gewalt, List und Verschlagenheit wahrzunehmen. (Die SPD-Proleten wiederholen diesen Gang in die schnöde Politik. Zu Hause die verlässlichsten Moralisten, verwandeln sie sich draußen in der Welt zu Meisterexperten der schmutzigen Politik.)

Die deutsche Schizophrenie kulminierte katastrophal im Reich der Schergen. Eben noch liebende Väter und Ehemänner, im nächsten Moment reißende Völkerverbrecher. Es war nicht nur der präsentische Gruppendruck des biederen Polizeibataillons, der aus braven Familienvätern „Schlächter mit bestem Gewissen“ machte, es war die Jahrhunderte alte Schizophrenie der deutschen Moralentwicklung, die Tugend zur Privatsache und Amoral zur politischen ultima ratio machte.

Kein Zufall, dass ein besonders liebreizender Vertreter der jetzigen Gegenaufklärung und Liebling der BILD-Zeitung sein neuestes Buch gegen den Tugendterror der Deutschen schreibt. Das Feindbild der Gegenaufklärer ist der Moralist.

Der Aufstand gegen die Moral begann bereits mit dem SPIEGEL-Artikel gegen die Gutmenschen. Danach kamen die Attacken gegen das politisch korrekte Verhalten. Jetzt wird jede moralische Erwägung – vor allem in ökologischer Hinsicht – zum totalitären Moralgebot. Moral ist identisch geworden mit Zwangsbeglückung. Zwangsbeglückung aber ist Faschismus.

Die Deutschen sind – zurecht – auf der Hut vor der Wiederholung des Faschismus, allein, sie können nicht unterscheiden zwischen freiwilliger Erkenntnismoral und erzwungener Gewaltmoral. Jetzt rächt sich, dass sie keine klare Vorstellung von Faschismus haben.

Man hat ihnen von gelehrter Seite aus so viele Kompliziertheiten unter die Weste gejubelt, dass sie vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen. Das sollen sie auch nicht, denn sonst könnten sie ja mündig werden und mit ihrem eigenen Kopf denken.

Die Gegenaufklärung der Eliten hantiert vornehmlich mit Verdunkelung durch Komplexitätsvermehrung. Nicht Reduktion der Komplexität – das ist Sache des Plebs –, sondern Ausdehnung des Komplexen ins Numinose und Grenzenlose, der Heimat der Religion: das ist die Hauptstrategie der illustren Vordenker. Wer einfach schreibt, weil er einfach denkt, braucht auf einen Platz im Pantheon nicht zu warten. Er wird als Trivialdenker oder Epigone in den Archiven vermodern.

Womit wir bei Sokrates wären, der in der ganzen deutschen Entwicklung keine Rolle spielt – außer der unrühmlichen eines Urvaters der Gegenaufklärung. Ausgerechnet Hamann, Begründer der modernen Gegenaufklärung, bezieht sich auf den sokratischen Satz: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Wenn schon der heidnische Weise – so Hamann – zugeben muss, dass der Mensch nichts wissen kann, dann sollte jeder Christ zum demütigen Bekenntnis kommen: weil ich nichts weiß, muss ich – glauben.

Der Glaube wird zum Ersatz mangelnden Wissens. Die Schwäche der menschlichen Vernunft sollte die Notwendigkeit des Glaubens erweisen. Dieser Spur folgte Kierkegaard, der dänische Schüler Hamanns und machte Sokrates zum heidnischen Zeugen seines christlichen Glaubens:

„Doch wird Sokrates, was er war, der einfältige Weise, durch seine besondere Distinktion, die er selbst aussprach und vollkommen darstellte, welche erst der sonderbare Hamann zwei Jahrtausende später bewundernd wiederholte – denn Sokrates war dadurch groß, daß er unterschied zwischen dem, was er verstand, und dem, was er nicht verstand.“

Wer nichts wissen kann, der muss zum Glauben übergehen. Unfasslich, aber wahr: die europäischen Denker brachten das Kunststück fertig, den mäeutischen Artisten der Erkenntnis zum Gewährsmann vernunftfeindlicher Erkenntnisallergie zu machen.

Wohl hatte Sokrates erklärt, dass er von vielen Dingen keine Ahnung hatte – besonders von Göttern und allen Dingen nach dem Tode –, doch eins war ihm über alles gewiss: die Moral der autonomen Unbeugsamkeit und das notwendige Suchen nach der Wahrheit. Diese moralische Rigidität war es, die ihn veranlasste, für sein moralisches „Wissen“ in den Tod zu gehen.

Seine modernen Schüler der Gegenaufklärung gingen den umgekehrten Weg. Unmoralischen Tod brachten sie über all jene, die sich ihrer Macht nicht beugen wollten. Den sokratischen Grundsatz, besser Unrecht erleiden als Unrecht tun, stellten sie auf den Kopf: besser Unrecht tun im Namen des Bösen, als schwache und jammernde Opfer anderer Nationen zu werden.

Oder wie Carl Schmitt formulierte: der Führer bestimmt und schützt das Recht.