Philosophie der Erde

Philosophie der Erde – Bacchantische Spiralen aus der unteren Welt

von Fritz Gebhardt       Manuskript (Auszüge)

Je endgültiger sie die Erde verwarfen, je tiefer hatten sie gedacht, je höher geglaubt. Jede Verwerfung eine staunenerregende Filosofie. Jede Missachtung ein unwiderlegbarer Glaube. Geist, kein Widersacher der Seele, wurde Widersacher der Erde. Hienieden, im Irdischen, hatten sie keine bleibende Stadt. Die bleibende suchten sie im Zukünftigen, im Gewürfelten, im Gnädig-Geworfenen, im Ungetanen, im erdevertilgenden Neuen. Im Nicht-Jetzt. Im Nicht-Hier. Im Nicht-Menschlichen. Im Nicht-Natürlichen. Im Nicht. Im Nichts.

Welt war früh komplett. Schon waren die üppigen Landstriche, schon war die fruchtbare Horizontale besetzt. Noch nährte die Natur den Menschen einfach: nennen wir’s das Weibliche. Dann kamen sie als Verspätete, als Zurückgebliebene, als Zahlreiche wie Sand am Meer. Mußten hinab in unbesetzte Tiefen, um kommandierende Höhen zu erringen. Das war die Erfindung des Komplexen und Vertikalen: des Männlichen. Die erigierte Spitze der überzähligen Hierarchie besetzte homo faber sapiens ludens omnipotens triumphans, der allesvermögende, -beherrschende, -wissende männliche Spieler. Mit physischen Ohren nicht zu hören, mit sinnlichen Augen nicht zu sehen, mit irdischer Empfindung nicht zu widerlegen. Der Glaube ersetzte die Erfahrung. Als Letzter angekommen, wurde er der Erste, der das Weibliche – das Horizontale oder die Erde – bereits erschaffen hatte. Aus dem unerfahrenen Nichts.

Jederzeit könnte er das Erschaffene wieder zurückverwandeln in Nichts. Er wäre dann der Erste und der Letzte, das A und O, Alpha und Omega. Das Weibliche wäre eine winzige Episode gewesen, begonnen und zu Ende gebracht vom Männlichen.

Welt war vollkommen überall, wo sie nicht hinkamen in ihrer Qual. Überall kamen sie hin, mit todbringender Sicherheit. Spätlinge überfluteten umkämpfte Oasen, okkupierten den gesamten Erdball als ungeteilte Regenten-Nische. Kein Fleckchen Sumpf, Öde, Eis und Wüste, das sie verschmäht hätten oder unangetastet ließen. Die Erde war eine Jungfrau: keine gleichgeachtete schöne Freundin, deren Haar herabwallt vom Gebirge Gilead wie eine Herde Ziegen, deren Zähne wie frischgeschorene Schafe sind, die von der Schwemme heraufsteigen, deren Brüste gleich sind zwei Böcklein, Zwillingen der Gazelle, die auf Lilienauen weiden. Die Jungfrau war eine brünstig-geheimnisvolle Fremde, voll süßen Gifts unter schlangenhafter Zunge, mit unwiderstehlicher Bezauberung den Herren der Welt, das tumbe Triebbündel, ins Verderben lockend. Der tödlich-orgiastischen Verlockung konnte er nur widerstehen durch  Schändung des aufreizenden Objekts. Planmäßig musste die schöne Versucherin defloriert werden – bis in letzte Poren und Zellen, blutend auf unwirtlichstem Terrain.

Post coitum, nach heiliger Schändung, waren sie vieles – traurig waren sie nicht. Welche Lebewesen sie auf Widerruf gewähren ließen, tummelten sich jetzt unter ihnen. Was ihnen entgegentrat, wurde liquidiert. Was ohne Nutzen schien, vegetierte nur vorläufig: existierte ohne Legitimation.

Das reviergebundene Schweifen hatte seine Grenzen erreicht. Es begann das fundamentale Wandern, die Tour der Leiden in allen Variationen, vom Bauchkriechen bis zu rasender Beschleunigung. Mobilität als Konfession der Unmüßigen, die ein Ziel jagen, ohne es zu kennen. Schöpfend-erschöpfte Bewegungen als Doktrin der Nieankommenden. Grenzenloses Ausbreiten einer ruhelosen Gattung in die letzten Winkel der Erde. Solange sie im Leibe waren, fern vom Herrn, waren sie auf Wanderung.

Ihre Zeugungsgeschwindigkeit folgte der Schnelligkeit ihrer imperialen Besitzergreifung. Nicht auf bequemen breiten Straßen, auf unzähligen steinigen und engen Pfaden der Entsagung quälten, bissen und schlugen sie sich durch bis zu den Pforten der Weltherrschaft. Rastlos den Planeten durcheilend, überquerend, durchwandernd, erkletternd, sich durchbohrend und einsaugend, Lüfte und Gewässer erforschend, besiedelten sie die Kontinente, besetzten alle Elemente. Selbst das unbekannte Land jenseits der Anschauung blieb ihnen nicht verschlossen. Sind hinabgestiegen in Gebiete unter der Erde, über alle Himmel hinaufgestiegen, um alles mit ihrer Gegenwart zu erfüllen.

Frohe Weise erging an die Welt, daß alle Kreaturen sich wertschätzen ließen, um sich zur beliebigen Verfügung zu halten. Die Frage der Fragen: warum überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts, erhielt die Antwort: um SEINETWILLEN, des herausragenden Menschen.

Homo masculinis, männlicher Mensch, war Weswegen, Woraufhin und Umwillen, Zweck und Sinn, Norm und Telos seiner pflanzenhaften Weiber und unüberschaubaren Nachkommen. Besonders all dessen, was da kreucht und fleucht, vor ihm auf dem Bauche kriecht und ihm  vergeblich zu entfliehen trachtet.

Schreckte frau nicht zurück vor der Anschlußfrage: warum überhaupt ER, der allpräsente und allgewaltige MANN, warum nicht vielmehr ER nicht? versänke alles im Abyssus, dem Abgrund männermordenden Seins. Wegen hybriden Aufruhrs und Vorwitz’ müßte die Majestätsbefragung abgewiesen werden. MAN blieb Selbstzweck, alles andere bloßes Mittel, in seine Dienste gezwungen. Der Mann ist Abglanz des Herrn, sein Haupt soll er nicht verhüllen. Die Frau ist Abglanz des Mannes. Er wurde nicht um ihretwillen, sie wurde um seinetwillen erschaffen. ER hatte für niemanden da zu sein, alles hatte für IHN da zu sein. Aseität nannten es Intim-Lyriker des allmächtigen Mannes, die Theologen. Obwohl aller Welten bedürftig und auf Ehrerweisung, Danksagen und Lobpreisen angewiesen, benötigt der in sich ruhende Mann nichts weiter als: Nichts. Dies wird er auch erhalten, sollte frau in ihrem Kampf sich darin erschöpfen, mann- oder gottgleich zu werden.

Vollendung der Natur ist ihre Domestikation durch den leidenden und leiden-schaffenden Pilger, vagabundierenden Priester-Soldaten, heilbringenden Diener-Herrscher, hasardierenden Philister, kommandierenden Erkennenden, den ziellos schweifenden Selbstzweck.

Die Ehre des Seienden besteht im Abgenutzt-, Verbraucht-, Ausgebrannt-, Verzehrt-, Verschlungen-, Mutiert-, Genverändert-, Ausgereutet- und Neuerschaffen-werden durch Creative aus dem Nichts ins Nichts, der Welten Meister über das ewige Stirb und Werde. Fällt das Weizenkorn nicht in die Erde und erstirbt, so bleibt es allein. Erstirbt es aber, so trägt es viel Frucht.

Vor allem muß gründlich gestorben, wahlweise gezüchtigt oder heimgesucht werden. Dann wird zum wahren Leben auferweckt ohn eigen Verdienst und Würdigkeit. Durch den Tod des Todes, den Sanften Überwinder, den Dornenkuß des blutenden Prinzen des Universums.

Vorlaufender Tod der uralten Natur ist Bedingung ihrer Wiedergeburt zur Neuen Erde. Siehe, es ist alles neu geworden. Obwohl durch homo creator erschaffen, war die erste Geburt nur naturhaft, aus Materie, dem Mütterlichen – oder minderwertig. Dieser alte Himmel, diese alte Erde: sie müssen vergehen. Erst die zweite Geburt, von männlichem Geist zu männlichem Geist, befreit sie aus Entfremdung und vollendet sie. Werden der Natur ist Werden zum Geist.

Was aber, wenn die Natur sich sträubte? Sich widersetzte der Empor-Erziehung zum maskulinen Geist? Was, wenn jungfräulicher Stolz den freigewählten Tod verweigerte: das Amputieren ihrer sinnlich-sinnenhaften Vollständigkeit als Vorleistung zur Heiligen Ehe mit dem Phallischen Herrn – dem hieros gamos?

Dann wird ein wenig nachgeholfen. Ohn töricht Erbarmen und eiteles Mitleid. Nun hebt das Edle Töten an. Die abendländische Exekutierungs-Egge schnurrt in Unerbittlichkeit ihr digitales Liebeswerk. Bisweilen heimlich zur Nacht, zumeist am hellen Tageslicht, nicht selten vom Turme verkündet. Ungeheures – nicht Unsagbares – gerinnt zur kulturellen Gewohnheit derart, daß frau von der Banalität des Bösen sprach. Ist das Schreckenerregende eines Kulturkreises banal geworden, gibt es keine Trennung in Verführer und Verführte. Sie sind polare Aktivierungsgrade, sich im Untergründigen aufreizend, wer tollkühner ist, die herrschende Moral zu stürzen. Den westlichen Heuchelkulturen unterstellen sie – jenseits ihrer Sonntagsreden – verdeckt-zensierte, aber  gemeinsame Vernichtungsphantasien.

Dies ist – um das Banale weiter zu banalisieren – das Spiel böser Buben, die den gehassten Predigern die verdrängte Rückseite des erzwungenen Guten zurückspiegeln. Sie beweisen sich, wer bislang Geflüstertes und Halbgesagtes als erster in schockierender Unverfrorenheit ausspricht, sich zwingend, das nicht mehr rückholbare Frevelwort durch ungeheure Tat derart zu bewahrheiten, daß die charismatische Führerschaft der Gesamthorde dem Ersten von selbst zufällt.

Wo Gutes ohne Einsicht regiert, wird der Böseste zum Besten. Nicht mehr der Vater den Sohn, der Sohn schlachtet den Vater vorbildlich auf dem Altar des bestrafenden und belohnenden Guten. Was wäre Gutes ohne authentische Blutströme?

Wenn Gutes die Welt kontrolliert, liegt das Böse an der Kette: es muß dienen. In weiß-schwarzen Rastern vollzieht die abendländische Tötungs-Egge ihr Liebeswerk im Dienst des verborgenen Gottes, der Kehrseite des offenbaren Gottes. Welch schmerzende Fürsorglichkeit muß es sein, Wesen auf den Pfad des Guten zu führen, die diese Liebe verschmähen. Wer kann zusehen, wenn seine Kinder verblendet ins Verderben stürzen? Verzweifelt wird er sie locken, treiben und nötigen, zu seinem väterlichen Heil zurückzukehren, damit sein Haus voll werde.

Das Unkraut sollte erst am Tag der Ernte gejätet werden, damit man es verbrenne. Von Anfang an dämmerte ihnen, dieser Tag werde ins Unendliche verziehen. Also kauften sie die Zeit, deklarierten sie zur Richterin, hielten immerwährenden Erntetag: sie erfanden die Geschichte. Täglich war nun Jüngstes Gericht, jede Sekunde anklageverwertbar. Seit Beginn ihrer Zeitrechnung schlafen noch schlummern sie nicht, sie tun es Tag für Tag: das Bündeln und Verbrennen des Bösen; das Sammeln des Weizens und vererbungssicherer Schätze in Scheunen der Listigen und Gehorsamen, der Guten.

Wohl ist es nötig, daß Unkraut sei, doch wehe denen, die es säen. Und wenn dich entblößte Natur verführt, so reiß sie raus und wirf sie von dir. Es ist besser für dich, daß du naturlos eingehst in naturloses Unleben, als daß du bloße Natur bleibst und ins Feuer geworfen wirst. Wenn dich aber Parasiten locken zu Mammon, Macht und syphilitischer Lust, so reiß sie raus und verbrenne sie; es ist besser, die Vorsehung hat dich ausersehen zur Herrschaft, um die gesamte Welt zu retten, als daß du dein Leben lang zitterst vor einer verschworenen Offensive der Bazillen und ekelhaften Gewürms. Denn die Starken und Rechtwinkligen sind anfällig geworden; siehe, die Schwachen rotten sich zusammen, um ihnen das blonde Haupt vom Rumpfe zu trennen. Da hilft, zur Sicherung der Überlebensprämie, nur ein säkularisiertes Harmaggedon; ist doch die moderne Biologie nur Randglosse eines Heiligen Testaments.

Zeitige End-Lösung ist Sproß eines absoluten End-Zwecks, des überzeitigen Ziels der Geschichte. Der Endzweck beurteilt alles, er selbst wird von niemandem beurteilt; wie die Geistbegabten, die alles verurteilen, von niemandem beurteilt werden. Liegt der Endzweck jenseits von Raum und Zeit, entzieht er dem Irdischen alle innewohnenden Kriterien. Unerträglich die heitere Leichtigkeit des Seins: sie bedenkt das Ende nicht.

Kein triviales Tagewerk ohne Jüngsten Tag. Keine Ausgelassenheit und Tollheit, kein befreiender Schmerz- oder Liebesschrei, nicht die kleinste Regung des Unbewußten, kein unheiliger Zorn – ohne finale Quittung. Kein Plappern und Schwatzen, kein Tun und Lassen ohne Ewigkeitsgewichte einer vorenthaltenen Gesamtzensur. Am Ende werden Bücher aufgetan mit unfehlbaren Bilanzen des voyeuristischen Äthers. Tiefendimensional präsentieren Observanten aus dem Drüben das Geschehen im Jammertal, um Rechtfertigungen aus eigener Kraft einspruchslos zu verwerfen.

Nach allem, über allem das Gericht. Tausende von Jahren sind vor ihm wie ein einziger Tag des Zorns. Jedes Leben kafkaesk und torquemadesk. Eine einzige nicht enträtselbare und nicht widerlegbare Anklage. Wer von selbst gesteht, hat schon gestanden; wer sich störrisch zeigt, ist durch Verstocktheit widerlegt. Wer sich selber richtet, hat die projektive Anklage schon unterschrieben: er ist bereits gerichtet.

Kein Leben ohne urständige Selbstempfindung. Keine Biographie ohne erfahrungs-gesättigtes, bewertungs-sicheres Einheitsgefühl. Gesättigt? Schon sind sie satt geworden. Sicher? Gerecht? Schon sind sie selbst-sicher, selbst-gerecht geworden. Schon sind sie von selbst geworden, was sie geworden sind. Fremdbestimmungen, Berufungen von höherer Stelle lehnen sie ab. Schon sind sie Selbst-ernannte; schon sind sie ein Selbst, ein Ich geworden. Auf Ich-Autonomie und Selbst-Bewußtsein: die Todesstrafe.

Auch Geistbegabte können des günstigen Ausgangs ihres Schicksals nicht sicher sein. Unter Furcht und Zittern müssen sie ihr Leben nach Winken absuchen, es dechiffrieren wie einen Geheimcode – immer unterwegs nach einem mysteriösen Schlüssel der Schlüssel, um sich Gewissheit zu verschaffen, ob sie dem Kreis der Erwählten angehören. Haben sie das geheimnisvolle Buch der Rose am Kreuz gefunden, endet die heilsuchende Wanderschaft mit verwesten Leichnamen in geweihten Gewölben.

Sie vergraben ihre Pfunde nicht, wuchern und spekulieren mit ihnen, um aus vorläufigem Erfolg auf den schlechthinigen zu schließen. Sie kaufen die Zeit aus, machen pure Zeit zu purem Geld, um über aufsummierte Zeit und aufsummiertes Geld den Dow Jones ihrer Heilsaktien zu berechnen – im Dermaleinst. Wenn Geldmachen religiöse Besessenheit ist, gibt es nur Präsentationsunterschiede zwischen ökonomischen und klerikalen Unternehmen. Mit allen Mitteln reich werden, heißt, mit allen Mittel selig werden. Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, als daß sie sich ihrer Güter erfreuten; sich aufmachten zur unbelasteten Suche nach Erdenlust, nach Meeresstille der Seele. Erdenglück, Erdenlust sind Sünden wider den Geist: ehebrecherisch-bacchantische Brunst. Sie begnügen sich mit tiefenreiner Psychohygiene, erdenfeindlichen Lustimitaten wie Raum- und Zeittöten per Beschleunigung, süchtigem Beherrschen der Natur, Machtverfügen über Menschen, Neidstimulieren, elitärem Selbstberauschen, sportivem Unterwerfungssex und rostfreien Kapitalorgasmen.

Reich sind sie, als ob sie es wären, auch schuldigst zeigen müßten. Ihrem Reichtum wohnt ein Mechanismus der Selbstzerstörung inne: zur steten Mahnung, den irdischen Schätzen nicht um ihretwillen zu verfallen, im Überfluss asketisch und wachsam zu bleiben. Was hülfe es dem Menschen, wenn er Weltlust gewönne, nähme aber keinesfalls Schaden an seiner mitfreuenden Seele? Je mehr ihr Wohlstand schwillt, je nachhaltiger zerstört er seine Quellen. Auf dem Gipfel wird er in Nichts zerfallen, damit er jene Himmelsleiter bleibe, auf der Man nach oben steigt, um sie hinter sich zu stoßen. So weiß der Reichtum nicht, was er ist: Designerdroge der Lumpen-Expropriateure, chiffrierter Index seelengeschüttelter Angst und Pein. Letztere dürfen nicht scheinen, was sie sind und müssen Selbstsicherheit simulieren, obgleich diese als Blasphemie verrechnet wird.

Unerheblich, ob sie glauben; gleichgültig, was sie glauben. Als sie Kinder waren, redeten und sannen sie wie Kinder. Da sie Männer geworden, legten sie ab kindischen Glauben. Nun tun sie, was sie einst geglaubt. Todsuchenden Glauben haben sie in todherstellende  Wirklichkeit überführt. Einst glaubten sie, was absurd war, heute tun sie das Absurde. Wenn Glauben Vermuten und Hoffen war, sind sie auf Vermuten und Hoffen nicht mehr angewiesen. Sie sehen von Angesicht zu Angesicht, wie ihr stürmischer Glaube die Welt unterwirft. Ihre gewaltigen Glaubens-Entwürfe sind Realitätsprinzip geworden. Ihre widersprüchlichen Sehnsüchte, alldominierend wie ohnmächtig zu sein, haben irdische Gestalt gewonnen. Lückenlos sind sie materialisiert, kulturiert, zivilisiert und politisiert. Die Heimstatt Erde haben sie verwandelt in eine gemütlose Transitstrecke ins Nirgendwo. Der verstiegenen Gattung, homo transcendens, ist der Planet Erde zum Interimsplaneten geworden. Nach ihnen die endgültige Sünden-Flut, der reinigende Weltenbrand. Die monotone Mutter Erde ist der hochfahrenden Art keine Residenz mehr; sie soll verlassen und vernichtet werden. Wer vorausschauend in Trauer zurückblickt, wird erstarren zur strahlenden Aschensäule.

Mittlerweilen plant Man die trans-rapide, trans-zendierende, trans-futuristische Fortsetzung der steinigen Pilgerreise: in die Tiefen erregender Galaxy. Doch mangels technischer Fertigkeiten wird es eine Direktreise in die weitgeöffneten Arme eines trans-natürlichen Vaters: mit Hilfe des indirekten Sonnentempler-Effekts. Nein, sie werden keinen kollektiven Selbstmord begehen, sie werden sich selbstmorden lassen. Durch das blendende Werk ihrer von reiner Neugierde getriebenen, technischen Intelligenz. Diesem Sprößling stehen sie gelähmt gegenüber wie einer fremden Schicksalsmacht. Ihre kleinen Hände können sie posthum in Unschuld waschen. Viele hatten es von vorneherein gewußt: wie konnte aus Krummholz etwas Gerades werden? Wie befriedigend war es, ihr Wissen selbst zu erfüllen. Postmortal sind sie für immer gerechtfertigt.

In heiligmäßiger Transsubstantiation hatten sich mütterliche Nesthocker zu väterlichen Nestflüchtern verwandelt. Vatermord war Verwirrspur der Muttermörder gewesen, die nach vollbrachter Tat bei Vater Äther Vollzug meldeten: terra mater, tabula rasa, die Erde haben wir zur Kenntlichkeit gestutzt. Siehe, sie harrten eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Das Alte ist vergangen, warte nur, balde ist alles neu geworden. Dann wird endlich klar geworden sein: Mann und Frau, sie paßten nicht zueinander. Der kosmische Geschlechterkampf mußte einen Sieger küren. Es war der Sieger, dem die Augen übergingen im Moment des Triumphs. Ehr sei dem Vater, auch dem Sohn; doch Frauen haben sich beteiligt, willig oder nicht.

Männlicher Norm hatte die Frau nicht entsprochen, sie war abgefallen. Die Erde, Ort ihrer Repräsentanz, wurde zum Korpus des Falls: des Ver-falls, des Sünden-falls, des zwiefachen Ab-falls. Also mußte sie verworfen, ihr Verfallsdatum durch Männerhand festgesetzt werden. Auf den Wärmetod des Universums wollte Man nicht warten.

War Erde, die Heimstatt des Maßes und der Endlichkeit, zum Untergang bestimmt, mußten ihre Grenzen gesprengt werden. Die große Reise in männliche Unendlichkeit konnte beginnen. Knotenpunkte der Qualität lösten sich, dehnten und streckten sich in maß- und endlose Quantitäten. Reisen heißt unterwegs sein und nicht ankommen, definierten sie forsch ihre erde- und atemberaubende Zielgehemmtheit. Fürchteten dennoch ihre getriebene Unrast; ihre Unfähigkeit, im Vertrauten anzudocken und präsent zu sein. Die Gegenwart durften sie nicht erreichen, Zukunft mußten sie unentwegt suchen. Nach dem Neuen immer begierig, dem schnell Alternden verfallen, in paradoxer Präsenz des Vergehenden und Vergangenen. Vorsorglich zerstörten sie den abgesprengten mütterlichen Ursprung, um diabolischer Versuchung durch Schönheit der Natur nicht zu erliegen. Sollten sie niederknien, sollten sie anbeten, was sie nicht erschaffen, dem eigenen Genie nicht zu verdanken hatten?

Das wäre Vergöttern der ersten Natur, Anbetung des Geschaffenen, des Sekundären, der Kopie. Mißachtung des Primären, des Schaffenden, des Originals. Das Einmalige geschah: Natur wurde ihrer Aura beraubt. Der Enthusiasmus der Menschen wurde ihr entzogen von einem über- und antinatürlichen Prinzip. Von oberster Substanz wurde sie degradiert zur untersten; zerschmettert ins Gegenteil ihrer selbst. Die Alles-creierende wurde Creatur; die Unvergängliche wurde hinfällig; die Unerschaffene wurde Geschöpf. Die sich stets Erneuernde und Vollkommene degenerierte zur erziehungsbedürftigen, defizitären, bedrohlichen, grausamen, unverläßlichen, lasziven, ungeistigen, inferioren, heilsbedürftigen, unschönen Alten und Vergreisten. Sie sollte nur begrenzte Zeit existieren: die mißlungene Mixtur aus Notwendigem und Unreinem, Lockendem und Ekelerregendem, wenig Erwähltem und massenhaft Verworfenem. Nur als Vorlaufs-zeit war sie autorisiert, die Geister zu sortieren im Dienst der Neuen Zeit, welche die alte zunichte machen wird.

In die erste Natur fühlten sie sich hinein- und abgeworfen. Die Geworfenheit wollten sie überwinden: sie mußten sich selbst entwerfen. Der Selbstentwurf mußte Gegenentwurf sein. Die Erstnatur empfanden sie wie dirigierendes Fremdgeschick oder wie überflutendes, nie rückzahlbares Geschenk. Der Schickenden wollten sie nicht folgen, der Schenkenden nichts schuldig bleiben. Erneut mußten sie vom Baum der Erkenntnis essen, um eine zweite Natur zu schaffen, die eigenem Intellekt entsprang. Die zweite sollte die erste in den Schatten stellen, sie zum Vergessen bringen, als ob es sie nie gegeben hätte.

Sie haßten, worauf sie für immer angewiesen waren: das Andere, das Unverfügbare. Sich selbst und nur sich selbst wollten sie entsprungen sein. Vielleicht ihrem muskulösen Oberschenkel oder ihrem Vaterkuchen-Gehirn, einem libidinösen Glaskolben oder einem weiblichkeitsfreien locus novus, dem zweiten Paradies oder tiefengereinigten Unisex-Labor. Das androgyne Mißexperiment der Evolution, die fehlgeschlagene Bipolarität der Natur sollte sterilisiert und euthanasiert werden. Der Mann gedachte, in eigener Person ausreichend androgyn zu sein.

Wenig wissen wir von vielerprobender, erhaltender und verwerfender Natur. Wenn sie den Menschen just for fun zum Abgang oder zur Metamorphose bestimmte – wir wären chancenlos. Gäbe sie uns aber Freiheitsgrade zur Eigengestaltung, kann es keine anthroprozentrische Verblendung sein, Konflikte unserer Gattung Natur in Natur zu versöhnen.

© Fritz Gebhardt