Der Fall Breivik
Anders Breivik hat in Norwegen 77 Menschen getötet (Juli 2012). Im Prozess geht es darum, ob er schuldfähig ist und als Straftäter verurteilt werden – oder ob er psychisch krank ist und in ein Psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen werden muss.
Es gibt 2 kontroverse Gutachten: ein Gutachter plädiert für Schuldfähigkeit, der andere auf Unzurechnungsfähigkeit.
In der Presse wird hochemotional über Anders Breivik und den Prozess in Norwegen berichtet, Psychiater geben Ferndiagnosen ab, Journalisten ereifern sich über diesen „Killer-Teufel“, das „Monstrum“ und das unerklärbare „Böse“.
Der Sokratische Marktplatz zum Fall Breivik
Kritik und philosophisch-politische Analyse zum Fall Breivik und der Berichterstattung in den Medien
[Zusammenfassung aus den Tagesmails vom 03.09.2011 bis 22.06.2012]
Aus der Tagesmail vom 27. Oktober 2011 – „Das Böse ist das Gute“
… Niemand versteht ihn, er ist ein Massenschlächter ohne Empathie, prahlerisch, redselig und roboterhaft. Ein unverständliches Monstrum.
Schnell und unvermeidlich wird der Norweger Breivik in die Kiste: das Böse, abgeschoben. Das Böse ist von Normalen und Ehrbaren nicht zu verstehen. Das Böse unterliegt nicht dem Gesetz der Kausalität. Es ist ein negatives Wunder.
Nach Kant ist der Grund des radikalen Bösen unerfindlich, ein irrationales Geschehen unserer subjektiven Willkür. Damit öffnete Kant den Hintereingang zum Dämonischen und Teuflischen, mit natürlichen Mitteln nicht nachzuvollziehen. Da war‘s um die Aufklärung als natürliches Verstehenwollen des Menschen geschehen.
Doch, Breivik hat Empathie – mit all jenen desorientierten Abendländern, die er vor dem Ungeist der Muslime und anderer Verwirrter erretten muss. Breivik besitzt dieselbe Erlöserseele wie jeder neoliberale Ökonom, Puritaner, naturfeindliche Fortschrittler und wiedergeborene Texaner. Nur die Objekte seiner bösen Begierde unterscheiden sich ein wenig von denen der Mehrheitsmoralisten.
Seine Liebesorgie mit dem blutenden Schwert ist Fleisch vom Fleische christlicher Erlöser. Was heute böse, kann morgen das Beste sein. Im Namen des ewig Neuen lässt die rasende Moderne keinen Stein auf dem andern.
Hitler litt an einem Übermaß an Empathie – mit einer Natur, die er nur retten konnte, wenn er die bösen Keime der Juden vernichtete. Das Böse ist identisch mit der Form des Guten. Seine Inhalte kommen und gehen wie Launen der Mode.
Das gilt für alle unverständlichen Teufel, bei denen wir uns dumm stellen, damit wir das religiös eingepflanzte Böse in der eigenen Brust nicht wahrnehmen müssen.
Wer schrieb einst einen Artikel über „Bruder Hitler“? Ein gewisser Thomas Mann. Wer schreibt über unsere verleugneten Brüder im Geiste: Breivik, Himmler und Heydrich? Der SPIEGEL bestimmt nicht.
Aus der Tagesmail vom 03. September 2011 – „Holocaust und Abendmahl“
… Sind Breivik & Co Verkörperungen des Bösen?
Für einen Gerichtsgutachter gibt’s diese theologische Kategorie nicht. Er will den Täter verstehen, nicht ohne eine gewisse Basissympathie für den Übeltäter. Denn ganz ohne Empathie ginge dieses schwierige Geschäft nicht, sagt ein forensischer Gutachter in der TAZ.
Auch Verbrecher hätten eine Würde. Ob man Leute wie Broder als geistige Brandstifter der Taten Breiviks benennen könne? Das sei Unsinn, behauptet der Psychiater, das Anschauen eines Quelle-Katalogs mit Kindermoden verleite auch niemanden zur pädophilen Tat.
Das halte ich wiederum für Unsinn. Natürlich geht’s nicht um simple Monokausalitäten, sondern um eine Gesamtstimmung in der Gesellschaft, die sich aus vielen Quelle-Katalogen, TV-Serien und relevanten Hauptströmungen des Zeitgeistes zusammensetzt.
Zu sagen, hier spielen viele Faktoren eine Rolle, also dürfe man keine speziellen herauspicken, entspricht ebenfalls dem Zeitgeist, der zwar immer und gern Verantwortung übernimmt, aber nur, um sich hinter derselben zu verstecken. Wenn alle schuldig sind, ist‘s niemand mehr, das ist das Gesetz der undurchdringlichen Anonymität einer hochkomplexen Moderne.
Niemand hätte Broder verübelt, sich einmal selbst zu befragen, ob seine einseitigen Attacken gegen immer dieselben Minderheiten nicht zu einem Gesamtklima beitragen, das den Norweger erst zu seiner Schreckenstat ermutigte. Dessen dickes Memorandum zeigt doch zur Genüge, wie viel Recherchen er als Abstützungen seines Vorhabens nötig hatte, um des „Segens“ des Zeitgeistes in ganz Europa versichert zu sein. Hier müsste sich jeder an die eigene Nase langen, der sich der Broderei politisch nicht klar widersetzt hat.
Davon abgesehen, wehrt sich der mit gesundem Menschenverstand arbeitende Gutachter zu Recht gegen die Determinierungsdogmen der Gehirnheinis, wir seien nix als ausführende Organe der Amygdala.
Aus der Tagesmail vom 30. November 2011 – „Krume“
… Warum erschoss Breivik über 70 Menschen? Weil er sein Land vor dem Verderben retten wollte. Empathie nennt er das Mitleiden mit seinem Volk, das er erlösen muss. Nun wurde er für unzurechnungsfähig erklärt.
Psychiater kennen nicht den psychologischen Humus der abendländischen Religion, auf dem Erlösungssyndrome mit blutigem Schwert seit Jahrhunderten gedeihen. In den Letzten Tagen wird Christus die unrettbare Welt vernichten, um eine neue Schöpfung vorzubereiten. Tod und Teufel, die Repräsentanten der Erde, hat er virtuell am Kreuz getötet.
Breiviks Tat ist eine christogene Nachahmungstat. Was er für schädlich und verderblich hielt, hat er aus Gnaden umgenietet, um dem Heiligen Rest eine Chance zu geben. Wer an den Todes- und Teufelstöter glaubt, muss Erlösung durch Vernichten in vorauseilendem Gehorsam vollstrecken.
Was man früher noch glauben musste, ist längst zum beinharten System geworden. Zur weltumspannenden Struktur, die man nicht mehr anbeten, sondern befolgen muss. Als Gefangene des Systems handeln wir automatisch im Sinne des Credos. Ob wir Atheisten, Agnostiker oder wiedergeborener Texaner sind.
Bei Demenz muss ich nicht glauben, dass ich Eisenbahn fahre, wenn ich gerade Eisenbahn fahre. Ob wir’s glauben oder nicht: die Menschheit sitzt im globalen Zug in Richtung Apokalypse, um sich durch Selbstvernichtung zu erneuern. „Denn wer gestorben ist, der ist von der Herrschaft der Sünde losgesprochen.“ (Röm. 6,7) Tod ist die Voraussetzung der Taufe zum ewigen Leben. „Wir sind durch die Taufe auf seinen Tod mit ihm begraben worden, damit wir … in einem neuen Leben wandeln.“ (Röm. 6,3)
Das ist nicht das Erlösungsprogramm eines Einzelnen, das ist das Geschichtsprogramm der ganzen Menschheit, die das System des christlichen Westens in Technik, Wissenschaft und Wirtschaft übernommen hat. Unerheblich, ob sie an das Programm glaubt. Sie exekutiert es.
Wenn Breivik Autist sein sollte, handelt die Moderne schon lange in empathielosem Religionsautismus. Wir wissen, dass wir uns das Grab schaufeln – und handeln ungerührt weiter. Wir wissen, dass wir Natur quälen und vernichten – und handeln ungerührt weiter. Wir wissen, dass wir radikal umsteuern müssten – und machen ungerührt business as usual.
Gnade für die uneinfühlbare, in sich verschlossene und verkapselte Menschheit. Wir tragen keine Schuld. Denn wir sind unzurechnungsfähig. Unser aller Nachname sei Breivik.
Aus der Tagesmail vom 03. Dezember 2011 – „Kausale und moralische Schuld“
… Unser aller Name sei Breivik, schrieb ich vor Tagen. Nun antwortet Bommarius in der BZ/FR: „Breivik und wir.“ Hier enden die Gemeinsamkeiten.
Das waren noch Zeiten, als ein gewisser Fromm, Analytiker und politischer Kopf, Verrücktsein als dunkle Kehrseite der Normalität definieren konnte. Was die Kumpanei der Mehrheit für durchschnittlich, passabel oder vorbildlich hält, wird von der Gesellschaft als Gesundheit abgesegnet. Was nicht ins Schema passt, wird abserviert und aussortiert als seelische Krankheit, Psychose, auffälliges oder abnormes Verhalten.
Das Kranke ist die Müllhalde des Gesunden, das seine Krankheit nicht erkennen will. Wie bei deutscher Mülltrennung wird das Kranke nach Kategorien getrennt. Da sind die recycelbaren Neurosen. Sie ernähren die große Gemeinde der Smalltalk-Seelsorger oder Psychotherapeuten und werden dem Arbeitsleben wieder zurückgeführt.
Da sind die Unkorrigierbaren. Sie wandern in den gelben Sack der Psychiatrie und werden mit Pillen und Medikamenten ruhig gestellt. In früheren Zeiten wurden sie als entartetes Leben mit der Giftspritze entsorgt. Zusammen mit unheilbaren Juden, Zigeunern, Schwulen und sonstigem Gesindel.
Was verrückt ist, hängt von der jeweiligen Gesellschaft ab. Im real existierenden Sozialismus landeten Dissidenten in der Psychiatrie. Wer gegen ein allwissendes System aufbegehrt: muss der nicht komplett ver-rückt sein?
In seligen Priesterzeiten war jeder Ketzer ein Teufelsbraten, jede Glaubensverweigerin eine veritable Hexe, die man so lange unter Wasser oder in Feuer hielt, bis der Himmlische sie wider Erwarten rettete oder jenseitigen Qualen überstellte. Waterboarding ist keine Erfindung der Neuzeit.
Gibt es eine allgemeine, nicht-relative Definition seelischer Krankheit und Gesundheit? Solange die Menschheit sich nicht über Glück, individuelles und kollektives Wohlbehagen – gewöhnlich Utopie genannt – einigen kann, solange wird jeder Kulturkreis seine kranken Sonderwege beibehalten und gegen abweichende Vorstellungen militärische oder wirtschaftliche Kriege führen.
Kann man ganze Gesellschaften und Kulturkreise als krank oder gesund bezeichnen? Aus dem Blickwinkel des christlichen Westens sind Burkatragen, Steinigen von Ehebrecherinnen oder Klitorisbeschneidungen Anfälle kollektiven Wahns. Umgekehrt ist für Muslime die freie Selbstbestimmung des Einzelnen fortgeschrittene Seelenzerrüttung. In religiös bestimmten Völkern gilt Verrücktsein als göttliche Strafe, Sünde oder Besessenheit.
Solange die Menschheit sich nicht auf planetarische Gesundheit als politisches Leitziel einigt, kann es keine Rettung für sie geben. Den Gesundheitsgrad einer Gesellschaft oder der Menschheit erkennt man an der Ausschussquote ihrer Kranken, Verrückten, Kriminellen, Gedemütigten, Verachteten, Hungernden und Krepierenden. Also am Ausschluss aller Unglücklichen, wobei die Ausschließenden alles andere als glücklich sein müssen.
Amerika sperrt eine ungeheure Anzahl Ver-Unglückter in Gefängnisse, damit sie das normale Wirtschaftsleben nicht stören. Auch kriminelle Energie ist verrückte Energie. Naturgesellschaften kennen weder abweichendes, noch kriminelles Verhalten. Der Auffällige wird bei ihnen als Gottbegnadeter von der ganzen Sippe verehrt.
Eine gesunde Gesellschaft ist im Einklang mit sich und der Natur, wenn sie einen Glückszustand erreicht hat, der niemanden ausschließt und den keiner mehr verändern will.
Bommarius verknüpft Verrücktsein mit der Frage möglicher Schuld, als ob erzwungenes Verhalten die freie Tat des Einzelnen sein könnte.
Im Rahmen des christlichen Credo ist die Schuldfrage ein unlösbares Problem. Ein omnipotenter Schöpfer will an der Fehlbarkeit seiner Geschöpfe partout unschuldig sein. Das ist, als sei an einem missglückten Bild nicht der Künstler, sondern das Bild selber schuldig.
Die moralische Schuldfrage verdirbt alles. Sie hat in unserer Scham- und Schuldkultur die Funktion, von der wahren Kausalität menschlicher Phänomene abzulenken. Es geht um kausale Schuld. Um das Aufschlüsseln jener übermächtigen Faktoren in unserer Kultur, gegen die das Individuum ohnmächtig ist.
Die Frage nach der Schuld der Gesellschaft stellt Bommarius vorsichtshalber nicht. Wohin auch würde die Reihe der Schuldzuweisungen führen, wenn man Eltern, Gesellschaft, Kulturkreis und Vergangenheit in die Spurensuche mit einbezöge? Man landete bei Adam und Eva und deren allmächtigem Schöpfer.
Das darf nicht sein. Also wird die kausale Kette willkürlich gekappt und die Schuld dem letzten Glied der Kette in die Schuhe geschoben. Nicht Religion und kollektive Kulturmächte bestimmen das Schicksal des Einzelnen. Ab Geburt bestimmt der Gigant frei über sich selbst. Auch dann, wenn er vollständig unfrei erzogen wurde und niemals das Privileg genoss, seine Freiheit zu erlernen.
Ob Breivik lebenslang im Gefängnis oder in der Psychiatrie verschwindet, ist unwichtig im Vergleich mit der Frage, ob die Gesellschaft auch dem größten Übeltäter eine zweite Chance einzuräumen gedenkt. Diese Chance wird von seiner erworbenen Einsichtsfähigkeit abhängen, nicht von der externalisierten Schuldzuweisung einer Gesellschaft, die von eigener Schuld nichts wissen will.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein – nur bei jenen, deren kleines Bewusstsein vom allmächtigen Sein überwuchert ist. Gälte der Satz für die Menschheit, wäre sie an ihrem Untergang schuldlos. Wo bliebe der Geist, der den stolzen homo sapiens zum Herrn über das Sein erklärte?
Das Sein bestimmt das Bewusstsein schon lange nicht mehr. Was nämlich bedeuten würde, die Natur bestimmte die Geschicke des Menschen nach Belieben. Dann wäre der Mensch zum Dissens mit der Natur gar nicht fähig.
Spätestens mit der neolithischen Erfindung des Ackerbaus, der Produktion und Speicherung von Lebensmitteln hat der Mensch begonnen, sich von der Natur in kleinen Schritten unabhängig zu machen.
Seitdem versucht das Bewusstsein, das Sein zu domestizieren und in seinen Dienst zu stellen. Erst am Ende der Geschichte wird das Sein das Bewusstsein wieder an die Kandare nehmen. Dann ist Schluss mit den Eskapaden des selbstherrlichen Geists über eine gepeinigte Natur.
„Breivik und wir“: der Schlagzeile seines Kommentars wird Bommarius nicht gerecht. Einen Zusammenhang zwischen dem Täter und der Gesellschaft, die ihn zum Bösen zwang, stellt er nicht her.
Die Psychiater haben den Norweger für unschuldig erklärt, doch nur, um seinen ideologischen Sündenstolz zu brechen. Indem sie das Würmchen für krank erklärten, haben sie dem gesellschaftlichen Lindwurm gesunden Menschenverstand bescheinigt.
Die Herkunft seiner Verrücktheit aus einer verleugneten, auf die Schwächsten verschobenen Krankheit der Gesellschaft wird nicht untersucht.
Breivik wird für schuldunfähig, gleichwohl für verrückt erklärt: das ist eine viel größere Schuld. Und ein folgenreiches Verhängnis. Geisteskranke muss man nicht zur Kenntnis nehmen, die Inhalte ihres Wahns haben mit unserer Realität nichts zu tun.
Erklären wir den anderen für abnorm, haben wir uns von ihm befreit.
Wenn „Einzigartigkeit und Auserwähltheit“, so Bommarius, eine klinische Diagnose legitimierten, müsste das ganze Juden- und Christentum für verrückt erklärt werden. Wie wäre es, die Nazischergen zu paranoiden Irren zu erklären? Dann wären sie ein Fall für Psychiatriehistoriker. Die Deutschen wären ihre Vergangenheit los.
Das unausgesprochene triumphierende Fazit des norwegischen Dramas: Wir Normale sind unschuldig und pumperlgesund. Das sagte auch Gott, als das schändliche Weib den schuldunfähigen Adam zum Terror gegen den Schöpfer aller verruchten Lebewesen verführte.
Schuld ist immer der Ohnmächtige, die Mächtigen dürfen ihre Hände in Unschuld waschen.
Aus der Tagesmail vom 19. Januar 2012 – „Mein Kampf“
… Ist Breivik zurechnungsfähig, weil er in mörderischer Stringenz planen konnte oder ist er psychisch krank, weil nur Kranke zu solchen Untaten fähig sind? Ist das Böse nicht die Frucht eines durch und durch angekränkelten Baumes? Die Situation ist pervers, danach das Opfer der Situation.
Seit die Deutschen schreckliche Täter waren, halten sie es für Vergangenheitsbewältigung, den Begriff Opfer aus ihrem Vokabular zu streichen. Selbst Nazi-Täter waren Opfer ihrer deutschen Vergangenheit. Erwachsen wird man nur, wenn man verhängnisvolle Traditionen durchschauen und sich von ihnen lösen kann.
Welcher deutsche Jugendliche hatte im 1000-jährigen Reich die geringste Chance, sich aus eigener Kraft vom messianischen Wahn zu lösen? Es ist bequeme und dualistische Scheineindeutigkeit, Menschen reinlich in Täter und Opfer zu teilen. Jeder Täter tut, was man ihm angetan hat. Was nicht bedeutet, dass es den Tätern nicht an den Kragen gehen soll.
Die Gesellschaft muss vor ihnen geschützt werden. Das wird sie aber nicht, wenn in den vergitterten Hochburgen der Verwahrlosung die kriminelle Energie der Eingeschlossenen erst richtig aktiviert wird.
Eine humane Gesellschaft würde den Versuch unternehmen, die Motive der Täter nicht nur in billigem Parolenton zu verurteilen, sondern so zu verstehen, dass die Quelle der Taten ausgetrocknet werden könnte. Was in jeder Hinsicht effektiver wäre, um zukünftige Untaten zu vermeiden, als das bloße Schafottgeschrei jener, die das Glück hatten, in besseren Umständen aufzuwachsen.
Unverstandene Taten stehen strikt unter Wiederholungszwang. Die Deutschen wissen nichts von ihrer Vergangenheit. Es fehlt ihnen das geringste Verständnis, warum gerade sie zu Tätern werden mussten. Nicht im Sinne hirngeleiteter oder calvinistischer Determinierung, sondern im Sinn jahrhundertelanger Prägung bis ins Mark durch platonisch-christliche Faktoren, die man längst zum Teufel hätte jagen müssen.
Solches gelänge nur, wenn die Vernunft übers Land ginge. Mit anderen Worten, wenn es zum nächsten Aufklärungsschub in Europa käme.
Die Gerichte spielen ein absurdes Als-Ob-Spiel. Tun wir einfach so, als sei der Mutter- und Kindermörder eine coole Killermaschine und nicht das unvermeidliche Produkt einer seelenzerstörenden Erziehung, die zur eigenen Entlastung andere zerstören musste. Hatte Klassiker Schiller unrecht mit seiner Sentenz: dies ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären?
Das Als-Ob freiwillig-bösartiger Schuld erleichtert das Gewissen der Gesellschaft, die ihre Hände beim Hören des vernichtenden Urteilsspruchs in Unschuld wäscht. Die Gefängnisse sind zu Orten gesellschaftlicher Racheorgien geworden, nachdem sie vor Dezennien in Sozialtherapeutischen Anstalten eine kleine Weile die Chance hatten, den Bestraften eine zweite Chance zu geben.
Merke: zweite Chancen erhalten nur prominente Moderatoren, adlige Lügenbarone und Gebrochene im Dschungelcamp. Was ist das für eine Gesellschaft, die sich nur noch in der Lage sieht, die Täter hinter schwedischen Gardinen bei lebendigem Leibe zu begraben.
Aus der Tagesmail vom 17. April 2012 – „Breivik und Hitler“ Tagesmail hierher verlinken
… Ist der norwegische Verbrecher Breivik zurechnungsfähig oder nicht? Es liegen zwei Gutachten vor. Das erste will ihn als psychisch Kranken lebenslang in die Psychiatrie schicken, das zweite beharrt auf Schuldfähigkeit und angemessener Gefängnisstrafe.
Das erste Gutachten diagnostizierte paranoide Schizophrenie, stieß aber auf einen Sturm der Entrüstung. Die Gesellschaft wolle durch Abschieben in die Krankheit sich davor drücken, den schrecklichen Botschaften des Massenmörders zuzuhören und sich nicht die Frage stellen, wie das Monströse in ihrer Mitte aufwachsen konnte, so die Kritiker.
Das Gericht muss nun entscheiden, welches Gutachten zum Zuge kommt. Breivik selbst will auf keinen Fall als psychiatrischer Fall abgeschoben werden, sondern sich vor der Weltöffentlichkeit als vorbildlicher Ritter im Kampf gegen das Böse – in der Form des Islam und der Multikultigesellschaft – präsentieren.
Stolz hat er seine Taten zugegeben, jegliche Schuld aber bestritten. Im Gegenteil, für seine singulären Heldentaten will er belobigt und freigesprochen werden.
In der Form erinnert dies an den Prozess gegen Sokrates, der alle Verstöße gegen das Gesetz, die die Athener ihm vorwarfen, zurückwies, seinen Lebenswandel als demokratisch vorbildlich pries und dafür von der Polis offiziell anerkannt werden wollte.
Auch der Galiläer fühlte sich gänzlich unschuldig und ging als Märtyrer in den Tod.
Es gebe keine Anzeichen für eine Psychose, erklärten die Gutachter mit der „These Zurechnungsfähigkeit“. Breivik sei gefährlich, aber er verstehe, was er getan habe.
Der Unmut über Gutachten I – der Unzurechnungsfähigkeit – beruht auf dem Bedürfnis nach Sühne und ausgleichender Gerechtigkeit. Besonders die Angehörigen forderten eine normale Verhandlung mit lebenslanger Strafe.
Auch die Sorge spielte eine Rolle, die Gesellschaft könne sich davor drücken, sich im Spiegel ihres schrecklichen Bürgers zu betrachten, um sich zu fragen, was schief in Norwegen gelaufen sei, dass ein junger Mann zu einer solchen terroristischen Tat fähig wurde.
Politischer Extremismus dürfe nicht mit Krankheit gleichgesetzt und damit verdrängt werden.
Für die Psychiatrie spricht, meint Schulte von Drach in der SZ, dass auch der Aufenthalt in einer geschlossenen Anstalt eine Strafe sei. Doch hier habe der Delinquent eher die Möglichkeit, das Ungeheure seiner Taten einzusehen, als in einem Gefängnis, wo die Einsitzenden zunehmend verwahrlosten. Büßen ohne Chance zur Einsicht – was solle das bringen?
Andererseits: erhält der Angeklagte jene Bühne zur Selbstinszenierung, die er ständig fordert, könnte das zu Nachahmungstaten führen.
In die Psychiatrie können nur Angeklagte minderer oder gänzlicher Schuldunfähigkeit eingewiesen werden. Schuldunfähig ist, wer nicht weiß, was Unrecht ist oder im Augenblick der Tat nicht in der Lage war, dieser Erkenntnis gemäß zu handeln. Das träfe bei Breivik nicht zu, sagen Gutachter II, er habe kein gestörtes Urteilsvermögen und sei strafrechtlich zurechnungsfähig.
Doch was wäre, wenn der Täter sich selbst für einen Guten hielte, der das Böse in der Welt bekämpft habe? Wenn er beanspruchte, besser als die Gesellschaft zu wissen, was gut und böse ist und sich berechtigt fühlte, mit brutalster Gewalt seine Ziele zu verfolgen?
Ein Ziel kaltblütig zu verfolgen, heiße aber noch lange nicht, der Täter sei nicht wahnsinnig. Könne ein Geisteskranker nicht wissen, was die Gesellschaft für richtig und falsch hält, er aber sei unfähig, diese moralischen Ziele zu verfolgen?
Christian Bommarius hält es für richtig, dass das Gericht dem Täter die Möglichkeit zur sensationellen Selbstdarstellung verweigert habe. Die „Umwidmung des Strafverfahrens in einen Sensationsprozess und die mediale Metamorphose Breiviks vom Massenmörder zum Diskursteilnehmer“ sei damit vom Tisch.
Es wäre zum ultimativen Triumph des Mörders geworden, wenn er seine Thesen tagelang im Fernsehen hätte verkündigen können. Und zur postmortalen Verhöhnung seiner 77 Opfer.
Die Frage nach Schuldfähigkeit empfindet Bommarius wie ein rührendes Relikt. Wie bei den Mitgliedern der Rote Armee Fraktion sei der Befund der Paranoia „offensichtlich“. Allerdings nicht im klassischen Sinne der Krankheit, als hätten wir‘s mit isolierten Wahnsinnigen zu tun. Gleichwohl sei niemand auf die Idee gekommen, die Killerkommandos der RAF für schuldunfähig zu halten. Alle Terroristen dieser Welt bildeten eine überzeugte Gemeinschaft, Kämpfer in einem Krieg zu sein, der sie zu jedem Mord berechtige.
Hier kann man dem BZ-Kommentator, sonst ein verlässlicher Deuter der juristischen und demokratischen Szenerie, einige Fragen nicht ersparen, die vor vielen Dekaden in der Strafrechtsreform debattiert und unter anderem zur Einrichtung sozialtherapeutischer Anstalten geführt haben, in denen Strafgefangenen die Möglichkeit einer Therapie angeboten wurden.
Was ist der Sinn der Strafe? Rache? Schutz der Gesellschaft vor gefährlichen Verbrechern? Eine hinter Gittern ablaufende zweite Chance für Menschen, die kein humanes Leben erlernen konnten? Eine „objektive Wiederherstellung des verletzten Guten durch eine – der bösen Tat angemessene – Strafe“, wie Hegel meinte?
Eine Gesellschaft, die sich von der Todesstrafe verabschiedet hat, sollte sich auch von allen Strafen unter dem Aspekt der Rache befreien. Denn jede Strafe ohne Möglichkeit potentieller Einsicht und Umkehr ist eine endlose Todesstrafe mitten im Leben.
Wer einem Täter Kerkerverhältnisse zumutet, die ihn mit Sicherheit noch krimineller machen als er ohnehin schon war, raubt ihm jede Aussicht, sein Menschsein in actu zurückzugewinnen. Seine Strafe wird zur lebenslangen Folter ohne Aussicht auf geringste Besserung. Ein solches Leben kann grausamer sein als ein schneller Tod unter der Guillotine.
Wenn man hier mal wirtschaftlich argumentieren darf: eine Gesellschaft muss mehr Geld aufwenden, um „reißende Raubtiere“ viele Jahre lang verlässlich einzusperren als wenn man ihnen den Ausblick eröffnete, sich zu humanisieren und allmählich in die Gesellschaft zurückzukehren.
Den Angehörigen der Opfer müsste klar gemacht werden, dass Rache den getöteten Menschen nicht wiederbringt und sie kein erfüllteres Leben führen, wenn der Verbrecher unter schlimmen Umständen immer verbrecherischer wird.
Bommarius erfindet eine neue Art Paranoia, die es ihm ermöglicht, Breivik für krank zu erklären und ihn dennoch als Schuldfähigen ins Gefängnis zu schicken. Das ist eine Konstruktion, die in sich zusammenbricht.
Konsequenter wäre es, die ganze Begrifflichkeit der Schuldfähigkeit oder -unfähigkeit zu streichen und Psychologen und Psychiatern aus der Hand zu nehmen. Denn Schuld – wie die unantastbare Würde – ist eine philosophisch-politische Zusage einer humanen Gesellschaft an ihre Mitglieder und nicht durch empirische oder neurologische Tests eruierbar.
Der Begriff ist nur als Synonym kausaler Ursachen sinnvoll. Jemand ist schuldig, weil er eine Tat getan hat. Mit welchem Bewusstsein, spielt keine Rolle. Wer es kaltblütig tat wie Breivik oder im Affekt wie gewisse Amokläufer: niemand ist schuldiger, weil er die Freiheit der Entscheidung zu völlig anderen Taten gehabt hätte.
Jeder Mensch ist das Ergebnis seiner Umgebung und Erziehung, niemand ist fähig, aus diesem inneren Gehäuse aussteigen – es sei, dass die Umgebung selbst ihm die Chance gibt, sein inneres Gefängnis zu verstehen und durch Einsicht zu verlassen.
Wem es gelang, den Zwängen seiner unfreien Biografie zu entkommen, hat die Möglichkeit des Entkommens auch von jenen Menschen erhalten, die ihn misshandelt und gequält haben, weshalb er gezwungen war, seine erlittenen Wunden andern zuzufügen, um sich zu entlasten. Die Stärke des Willens und der Fähigkeit, sich zu verändern, ist auch eine Gabe, die sich niemand aus den eigenen Rippen schneidet.
Es gibt katastrophale Verhältnisse, in denen die geringsten Anlagen zur Selbstbestimmung am Boden zerstört werden. Freiheit muss, wie alles Menschenwürdige, gelernt werden; Tugenden sind keine kostenlosen Beilagen der Gene.
Wer Moral nicht lernen konnte, kann kein moralisches Leben führen. Insofern ist jeder Begriff der Schuld, der mehr sein will als die Nennung des Täters, ein religiöses Relikt, das man den Menschen wie ein Kainszeichen auf die Stirne brennt.
Es ist ein perverser Freiheitsbegriff aus dem Papismus, wonach der Mensch sich ständig zwischen Gut und Böse – man weiß nicht wie und aus welchen Gründen – entscheiden soll. Die Entscheidung wird zu einem Fetisch gemacht, der den Menschen aus unbegreiflichen Gründen einmal zum Guten und das nächste Mal zum Bösen führt.
Das sind Phantastereien aus dem Gehirn von Pfaffen und Mönchen, die nichts anderes zu tun haben, als gute Taten dem Willen Gottes und böse dem Willen eines Satans in die Schuhe zu schieben. Nach ihnen ist der Mensch ein Wesen zwischen Gott und Teufel, der sich ein Leben lang zwischen beiden Gentlemen entscheiden soll.
Wie soll man sich entscheiden, wenn man gar keine Entscheidungsfreiheit hat, und entweder dem Willen des Gottes oder dem seines Widersachers untertan sein muss?
Wer wirklich frei ist, ist unfähig zum Bösen geworden, denn sonst wäre er nicht frei. Freiheit ist nämlich nichts anderes als die Fähigkeit zum Guten und die Unfähigkeit zum Schlechten. Wer wirklich frei ist, ist unfrei zum Bösen.
Hier stimmt das Gleichnis aus dem Neuen Testament: der gute Baum bringt von selbst gute Früchte hervor, schlechte Früchte kann er nicht bringen. Nun nebenbei sei erwähnt, dass dieses Gleichnis dem Naturdenken der Griechen entnommen und mit der Lehre von der „erbsündigen Natur“ des Neuen Testaments völlig inkompatibel ist.
Kein Mensch ist perfekt, auch der gute nicht. Jeder kann hinzulernen. Die Fähigkeit des Lernens aber muss selbst erlernt werden. Freiheit und Moral sind Früchte des Lernens, wer sie „kann“, verlernt sie so wenig, wie man Essen und Trinken verlernt.
Wie der fröhliche Mensch per Entscheidung nicht traurig werden kann, so kann der humane Mensch nicht per Willkür oder Zufall einige Menschen über den Haufen schießen.
Lauert aber das Böse nicht in jedem von uns, ständig bereit, uns zu überwältigen und der bösen Tat auszuliefern? Es lauert nur insoweit in uns, insoweit wir es in uns lauern lassen und ihm nicht per Selbstreflexion an den Kragen gehen. Möchte jemand behaupten, ein Gandhi wäre über Nacht zu Untaten eines Hitlers fähig gewesen?
Breivik ist ein Hitler im Nanobereich. Er sieht sich als Vertreter des Guten, der das Böse in der Welt tilgen muss.
Das Schwarz-Weiß-Schema ist mit beliebigen Inhalten zu füllen, oft genug werden sie von „moralischen Rebellen“ im absoluten Gegensatz zu den Schwarz-Weiß-Begriffen der Gesellschaft definiert. Für Breivik und Hitler lag die Welt im Argen und sie mussten alles unternehmen, um sie zu retten.
Auch Sokrates wollte die athenische Polis vor dem Verfall bewahren. Seine therapeutischen Mittel waren die mäeutische Disputation auf dem Marktplatz. Breivik und Hitler sind pervertierte Kritiker ihrer Gesellschaft, die nicht mehr auf Argumente, sondern auf Gewalt setzten.
Bommarius will den Übeltäter aus dem Diskurs der Gesellschaft ausschließen. Das wäre verhängnisvoll, denn moralisierende und erlösende Gewalttäter wachsen in jenen Nischen der Gesellschaft auf, wo ihnen niemand mehr zuhört und den Diskurs verweigert.
Das war bei Nazi-Deutschen nicht anders, die im Hass auf den Westen ihr Gut-Böse-Schema demokratischen Menschenrechten diametral entgegensetzten. Dennoch hatten die NS-Schergen mit dem christlichen Westen eine Gemeinsamkeit: das unbedingte Gute ist immer auf der eigenen Seite, der hassenswerte Feind ist stets die Verkörperung des radikalen Bösen.
Fast alle Kommentatoren schlagen inzwischen auf Breivik ein, als sei er der leibhaftige Gottseibeiuns. Es fallen dieselben unempathischen Begriffe einer dämonisierenden Aversion wie in gängigen Biografien über Hitler. Offensichtlich erscheint die Ansteckungskraft des norwegischen Erlösers so groß, dass man nur unter Signalen äußerster Abscheu und Verachtung glaubt, sich von dem Breivik in sich („Bruder Hitler“, wie Thomas Mann trefflich formulierte) distanzieren zu können.
Die Folgerung ist unvermeidlich: das christliche Erbe in der Gestalt Hitlers lebt mitten unter uns.
Aus der Tagesmail vom 18. April 2012 – „Göttliche Inszenierung“ Tagesmail hierher verlinken
… Nun kommen die norwegischen Oberammergauer Festspiele mit satanischem Erlöser Breivik. Hätte letzterer die Chance – was Gott verhindern mag, auch wenn er tot ist –, Norwegen mit seinen Gewaltphantasien zu erobern und zum Führer der Fjorde zu werden, würden dieselben Medien umfallen und aus einem um sich schießenden Teufel den apokryphen Messias der Zukunft machen.
Eine Inszenierung ist etwas in Szene setzen, damit das Publikum im Saal, die republikanische Öffentlichkeit etwas sieht, was sie unbedingt sehen sollte, um eine fühlende und denkende Menschheit zu werden.
Das kann man mit zweierlei Methoden versuchen. Erstens mit Vorbildern, um den Leuten zu sagen: macht ihnen nach, dann werden wir zusammen glücklich. Zweitens mit abschreckenden Hauptfiguren oder paradoxer Intervention: so darf man es auf keinen Fall machen.
Damit die Schaubühne als direkte oder indirekte moralische Anstalt niemanden langweilt und auch niemand merken soll, dass hier Oberlehrer am Werk sind, müssen die präsentierten Stücke lustig, spannend und unterhaltsam sein, damit, wie bei Kindern, denen man den Hustensaft mit Honig mischt, die bittere Lektion niemanden abschreckt.
Ergötzen und belehren nannten das die alten Römer, und die waren Weltmeister der Inszenierungen mit Gladiatoren, wilden Tieren, Toten, Verstümmelten und Verletzten.
Leider gibt es noch eine dritte Variante. Man will die Leute unterhalten, aber nicht mehr belehren, sonst würden sie die Welt verbessern und in eine Utopie verwandeln. Und das wäre nach dem überaus lebhaften Professor Hörisch der absolute Wahnsinn, nämlich die absolute Langeweile.
Damit wir uns nicht langweilen, soll‘s ruhig Mord und Totschlag, Tsunamis und Finanzkrisen geben. Erstens, weil sonst alle Medialen arbeitslos würden, denn sie hätten nichts mehr Sensationelles zu melden, zweitens, weil die Menschheit sonst aufs Faulbett fiele und nichts mehr für Reibach und den planmäßigen Fortschritt täte. …
… Jetzt endlich zu Breivik und den Medien, den gottgleichen Meistern der Inszenierung. Die Medien glauben, sie allein hätten das Recht des Inszenierens. Was sie auf die Weltbühne bringen, das ist – und nur das ist von Bedeutung. Wenn Menschen aber sich erdreisten, mit Hilfe der Medien sich selbst zu inszenieren, werden letztere ganz ganz böse oder skrupulös: dürfen wir den Schwerverbrecher bringen, wie er selber gebracht werden will, damit sein Ruhm sich in der Welt verbreite?
Werden die manipulierenden Medien durch solche raffinierten Selbstdarsteller nicht selbst manipuliert? Die Grundbotschaft der Vierten Gewalt an ihre Konsumenten lautet: Wir sind der Herr, euer inszenierender Gott. Ihr dürft keine anderen Inszenierer haben neben uns – sonst knipsen wir euch aus.
Norwegische Zeitungen sollen ihren Lesern die technische Möglichkeit angeboten haben, das Konterfei des Übeltäters einzuschwärzen. Der Teufel muss verschwiegen oder unsichtbar gemacht werden, damit man nicht seiner Gewalt anheim fällt.
Mitten in der Moderne sind wir von heiligen Röcken, Teufelsspuk und Höllenmagie umgeben.
Aus der Tagesmail vom 19. April 2012 – „Der Verbrecher und seine Richter“ Tagesmail hierher verlinken
… Regelmäßig bei schlimmen Gewaltverbrechen verfällt die westliche Presse in Exorzistenfieber mit Selbstmitleid und Fremdgeißelung. Nicht die Angehörigen der Toten, es sind die Gazetten und Kanäle, die am meisten unter dem Monstrum zu leiden haben.
Wie sie‘s machen, ist es falsch. Ausführlich berichten, so knapp wie möglich? Momentan sprechen sie vor allem über sich selbst, in wehleidigem und sich selbstbemitleidendem Ton. Total anders als der Angeklagte, der sich nur wehleidig selbst bemitleidet.
Passiert etwas Schreckliches, geschieht stets dasselbe Ritual. Am dritten Tag berichten die Medien nur noch über sich selbst: welche Bilder sind erlaubt, welche müssen tabuisiert werden? Der Kern des Ereignisses verschwindet hinter der problematisierten Form der Inszenierung.
Das Numinose gibt es in guter und böser Form. Man kann es nicht oft genug wiederholen: laut Heiliger Schrift sind Gott und Teufel identisch und sprechen: Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen, weder der teuflisch vorgereckten Faust noch der „kruden, wirren, plagiierten, in sich selbst zerfallenden“ Botschaft, die dennoch so viel Faszination, nein, nicht auf die ausgekochten Berichterstatter, sondern auf die leicht erreg- und verführbare Schwarmdemenz des Großen Rüpels auszuüben vermag.
Selbst das Faustrecken hat dieser infame Mensch bei ehrbaren Leuten abgekupfert. Im Lande des urfaustischen Strebens muss die Faust zurückerobert werden.
ER zeigt kein Mitgefühl mit den Opfern, Ihn rührt nur die eigene Propaganda, schreibt die einfühlsame ZEIT, voller Mitgefühl mit dem Angeklagten, den sie für einen Täter hält, obgleich alle Täter Opfer sind. Wären Täter keine Opfer ihrer idyllischen Verhältnisse, hätten sie keine Täterkarriere machen können.
Warum rührt Ihn nur die eigene Propaganda? Vielleicht deshalb, weil er in seinem Leben nie ausreichend von Anderen bemitleidet worden ist? Doch die Rede von der kalten, gefühllosen Gesellschaft gehört bei gutgeführten Medien in die Abteilung „Wirtschaft und Gesellschaft“, nicht in die forensische Selbstmitleidsabteilung mit verschärfter Bigotterie.
In Alt-China sollen Eltern bestraft worden sein, wenn ihre Kinder aus dem Ruder liefen. In unserer nächstenliebenden Westgesellschaft werden die Kinder dafür bestraft, weil sie sich die falschen Eltern ausgesucht haben.
Kinder brauchen Führung, sagte gestern bei ZDF-Lanz – kurz vor den heiteren Passagen des Gruppen-Gesprächs – ein lockiger Kinderpsychiater in jovialem Ton. Da werden doch nicht die Führer des kruden Verwirrten selbst verwirrt gewesen sein und in ihrer verwahrlosten Führung versagt haben?
War da nicht von einem Diplomatenvater zu lesen, der sich früh von seinem vielversprechenden Sohn hat scheiden lassen und sich nun rechtzeitig zu spät Vorwürfe macht? Der arme Mann. Nun wird ihm noch sein eigenes Fleisch und Blut aufs Konto gerechnet.
Wenn das nicht eine faschistoide Erziehungskausalität bedeutet, sich für seine Kinder verantwortlich fühlen zu müssen, wo doch jeder selbst in freier Gesellschaft seines Unglückes Schmied ist.
Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt. Heute wird dieser Satz in allen Variationen auf den Kopf gestellt. Nicht die Gesellschaft ist pervers, sondern diejenigen, die deren Perversion ausagieren müssen, weil sie – horribile dictu – die Schwächsten, Reizbarsten und Empfänglichsten für die perversen Signale der Gesellschaft sind.
Warum heult das Monstrum über seinen eigenen Film, fragt ihn die Staatsanwältin. „Weil ich daran denken musste, dass unser Land dabei ist zu sterben. Und dass meine eigene Ethnie dabei ist zu sterben. Es ist die Sorge darüber, zusehen zu müssen, wie das eigene Land und das eigene Volk dekonstruiert werden.“
Nur Mitleid für sich? Hat das Monstrum nicht Mitleid für sein geschundenes Land, das er retten will? Könnte man nicht umgekehrt von zu wenig Mitleid bei normalen Leuten, empfindungslosen Medien und gefühllosen Wirtschaftseliten sprechen?
Aber die Analyse des Monstrums ist doch völlig falsch und pervers! Wenn sich jemand irrt, gibt es Gründe, warum er sich irrte. Deshalb ist er noch lange nicht gefühllos. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Da könnte jemand zu viel Gefühl, zu viel Mitleid mit seinem Land, ein zu überdimensioniertes hilfloses Helfersyndrom haben, das ihm zum Verhängnis wurde.
Gab es so was nicht schon vor 2000 Jahren, als jemand aus einem unermesslichen Grandiositäts-Ich die ganze Welt retten wollte, dafür zum Märtyrer wurde und aus Rache gegenüber der Undankbarkeit der Welt, sich nicht helfen zu lassen, in endzeitlichen Vernichtungsphantasien endete?
Gibt es nicht in fast jeder Generation einen Jesus-Darsteller, der sich im Katechismusunterricht insgeheim schwor, zum Retter und Heiland seiner Familie, seines Clans, seines Volkes, der ganzen Menschheit zu werden?
Es schlägt die Stunde deutungsaggressiver Psychiater. Wo sind eigentlich die verstehenden Psychotherapeuten, Freudianer, Jungianer, Adlerianer und Gesprächstherapeuten? Die Psychiater dominieren das Feld, von der Kinderdressur – lasst ruhig die Kinder weinen – bis zur Deutungshoheit über Verrückte und Verbrecher.
Da muss ein alter Witz erzählt werden. Woran erkennt man in einer psychiatrischen Anstalt den Fachmann? Daran, dass er den weißen Kittel trägt. Die Psychiater benutzen ihre Krankheitskategorien wie Metzger ihr Hackebeilchen. Sie wollen nichts verstehen, weil es nichts zu verstehen gibt. Organische Gehirndeformationen lassen sich so wenig verstehen wie die Erklärung des Bösen.
Von den Tiefenpsychologen haben sie den inflationären Begriff „Narzisstische Störung“ übernommen, der auf alles passt, was bei drei nicht auf den Bäumen ist.
Der junge Popper, als er noch in Wien lebte, ist an seinem Mentor Adler irregeworden, da der bei allen verschiedenen Fällen, die sein Schüler vortrug, die ewig gleiche Diagnose hatte: Minderwertigkeitskomplex. Popper musste sich zu einem bedeutenden Wissenschaftstheoretiker entwickeln, um in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ der Psychoanalyse eine doppelt verschanzte Immunisierungsstrategie vorzuwerfen.
Wer alles erklärt, mit immer dem gleichen Etikett, erklärt nichts.
Dass jeder Medienfuzzi sich als Nachschwätzer der Krankenverurteiler betätigt, kann niemanden mehr verwundern. Gestern Abend wusste eine Berliner Obergutachterin in PHÖNIX in Ferndiagnose, ohne ein einziges Wort mit dem Monstrum gewechselt zu haben, dass ER zweifelsfrei eine narzisstische Störung habe, bei vollständig erhaltener Schuldfähigkeit, sonst hätte ER sein Verbrechen nicht so kaltblütig exekutieren können.
ER weine über seine eigene Vortrefflichkeit, wusste ein Rechtspsychiater, er habe keine Empathie und besitze ein aufgeblasenes Bild von sich. Da muss man nur einige Edelgazetten lesen, die Diagnosen aufsummieren und eine Diagonale ziehen, dann kann man sich bereits als forensischer Gutachter niederlassen. „ER wirkt so, als sei seine gefühlsmäßige Kapazität ganz auf seine eigene Person begrenzt.“
Hat man einen Schwerverbrecher, der nicht zur humanen Selbstbeschreibung einer modernen Nation passt, endlich dingfest gemacht, wird er zwiefach gerichtet: einmal durch die Strafe, dann durch das psychopathologische Kainszeichen: Dieses Monstrum gehört nicht zu uns. Er stammt aus einer anderen Welt. Seine kruden Botschaften sind uns völlig unbekannt.
Krude ist das Lieblingswort der Täterrichter geworden. Wenn ihnen sonst nichts einfällt, ist die Botschaft des Unholds roh und im unbearbeiteten Urzustand. Wäre den Damen & Herren eine sublime, fein tarierte, hochkomplex angereicherte Killerideologie lieber, mit vielen Zitaten aus Bibel, Talmud, Koran, Nietzsche, Chamberlain, Rosenberg?
Man kann das Wort des Abscheus über das Monstrum noch wesentlich steigern. Dann landet man bei Arschloch, wie beim dem TAZ-Artikel, der sich vor Arschloch überschlägt. Zu steigern wäre dieses Glanzstück linker Tiefendeutung rechten Frevels nur noch, wenn man alle sonstigen kostbaren Wörter der deutschen Sprache sich ersparte und sich mit der Repetition der ewigen Wiederholung des Arschlochs begnügte.
Reinhard Haller ist Gerichtspsychiater und befindet in SPIEGEL über den Delinquenten. (Das waren noch Zeiten, als im SPIEGEL ein Gerhard Mauz sich über das Innenleben einer fehlgeleiteten Persönlichkeit auslassen durfte. Der noch wusste, dass Täter erst mal Opfer sind, bevor sie zu Tätern werden. Jeder Täter ist Opfer, das kein Opfer mehr sein will und tun muss, als sei er fähig, seiner Opferrolle zu entkommen. Und wenn nicht anders mit dem Flammenwerfer. Niemand käme auf die Idee, zu morden und zu töten, wenn an ihm selbst nicht seelisch gemordet worden wäre. Menschen, die keine Opfer sind, haben keine Chance, Täter zu werden).
Haller befürchtet einen Nachahmungseffekt, wenn allzu opulent in Bild und Ton über das Monstrum berichtet wird. Es gebe eine stille Absprache zwischen Psychiatern und Tagesschreibern, dass über suizidale „Vorkommnisse“ nicht berichtet werde, sagte der oben zitierte Experte. Der Nachahmungseffekt sei eminent. Desgleichen auch bei Amokläufen.
In den Kreis der Tabus, die es bei uns nicht gibt, wäre auch die Berichterstattung über Finanzschwindel, Wetter- und Klimakatastrophen einzuschließen – und überhaupt alle apokalyptischen Gefahren, die sich die Gattung selber eingebrockt hat. Da berichten sie tagtäglich über Katastrophen in der Welt, um ihr Publikum bei Laune zu halten und Herrn Professor Hörisch nicht mit Gutem zu langweilen, aber über Katastrophen darf nicht berichtet werden?
Gibt es denn schon eine geheime Liste über aufbauende und negative Desaster? Hier zeigt sich das Misstrauen der Eliten in die psychische Stabilität der demokratischen Öffentlichkeit, die sie zwangsbeglückend-patriarchalisch von allem fern halten wollen, was den unmündigen Schäfchen schaden könnte. Wir leben längst in einer Mischung aus Platons Zensurstaat und Orwells 1984.
Schon der Laie könne erkennen, dass das Monstrum wahnhaft ist. Da muss ich ein verdammter Experte sein, dass mir diese laienhaften Einsichten nicht zu Gebote stehen.
Was ist ein Wahn? Wenn einige Verrückte auf die Idee kommen, per Krieg am Hindukusch, im Irak oder Iran, Frieden zwischen den Völkern zu „implementieren“? Wenn einige des Wahns sind, auf den Mond und Mars zu düsen, um bei Kollaps der Menschheit auf Erden eine neue zweite Heimat zu erobern? Gibt’s noch was Gehirnverbrannteres?
„Die völlige Gemütskälte, die Mitleidlosigkeit, nicht die Spur einer Reue“ – das sollen untrügliche Zeichen von Wahn sein? Dann sind alle ökonomischen und politischen Welteliten wahnhaft, die massenhaftes Elend über Mensch und Natur bringen.
Er habe der Menschheit einen Dienst tun wollen: wahnhaft? Okay, alle Albert Schweitzers, Gandhis, Mütter Theresas, Erlöser am Kreuz, Entwicklungshelfer e tutti quanti – alle in die Psychiatrie zu Professor Haller, dass er sie von ihren paranoiden Menschheitsverbesserungswahnideen heile. Vielleicht mir der hochtherapeutischen Lektüre von Darwin, Malthus, Stalin, Hitler und Pol Pot?
War er nicht ein hoffnungsloser Aufschneider, Versager und Gescheiterter, der sich eine schreckliche Heldentat ausbrüten musste, um als Herostrat in die Schlagzeilen zu kommen? Nicht zu leugnen. Doch, halten zu Gnaden, kein Vergleich mit jenen Karrieristen und Lebensmittel-Zockern, die nicht nur 70, sondern Hunderttausende von Menschen in Not und Tod bringen?
Hat der Mensch einen freien Willen, ist er überhaupt schuldfähig? Darüber könne sich die Justiz kein eigenes Urteil erlauben, so Haller. Sie müsse einen „pragmatischen Standpunkt“ einnehmen, um handlungsfähig sein. Dennoch halte sie grundsätzlich daran fest, dass der Mensch im Allgemeinen frei sei. (Pragmatisch und grundsätzlich sind Gegensätze, Herr Rechtsgutachter). Es sei denn, er habe eine narzisstische Störung am Backen.
Pragmatisch bedeutet hier, mit der Theorie eines Thomas von Aquin wird der Mensch zu einer biografielosen Entscheidungsmaschine mutiert, die sich willkürlich einmal so und einmal anders entscheidet. Das war die Lehre von einem Gott über allen Gesetzen der Vernunft, dessen absolute Freiheit in absoluter Willkür besteht .
Wer einen solch göttlich freien Willen hat, liebt an einem Tag seine Nächsten wie sich selbst und schießt sie am nächsten Tag über den Haufen. Auf diesem morschen mittelalterlichen Fundament hat die moderne Justiz ihr Rechtsgebäude errichtet und ist nicht in der Lage, sich im Geiste neuer Erkenntnisse fortzuentwickeln.
Was ist der Unterschied zwischen einem Fanatiker und einem Wahn-Sinnigen? Den Fanatiker zeichne noch ein gewisses Realitätsbewusstsein aus, der Wahnkranke hingegen ist jenseits von Gut und Böse. Erkennbar daran, dass er sein ganzes Leben und Handeln nach einer Idee ausrichte.
Dann müssten alle Idee-alisten, in der Adenauerzeit noch hoch gerühmt, zu Vollidioten geworden sein. Als da sind alle Schwärmer, die die Idee von einer besseren Welt, von Gerechtigkeit und Frieden noch nicht in der nächsten Mülltonne entsorgt haben.
Fazit: Im Fall Breivik will die Gesellschaft sich von ihrem Wahn befreien, indem sie ihr eigenes Gewächs verleugnen und zu einer Giftpflanze aus einem ganz anderen, fremden und bösen Revier verfälschen muss.
Alle Krankheiten, körperliche und seelische, sind unbewusste Ausdünstungen der Widersprüche einer desolaten Gesellschaft, die von den Sensibelsten, Unglücklichsten und Trotzigsten aufgenommen und gegen die Gesellschaft in Militanz zurückgewendet werden.
Der Täter hält eine Gesellschaft für böse, die ihn zwingt, im Dienste des Guten „böse“ zu werden. Wie Hitler und Judas muss er den Schein des Bösen auf sich nehmen, um den Fortgang des Guten zu bewirken. Im religiösen Fundus der Gesellschaft findet er genügend Vorbilder, die nichts anderes taten, als die böse Welt mit Gewalt dem Heil zuzuführen.
Zurzeit erleben wir die medial-gleichgeschaltete Selbstreinigungsorgie einer Gesellschaft, die an allem unschuldig sein will. Das Stück heißt: Der Verbrecher und seine scheinheiligen Richter, die den Sünder mit Abscheu angiften, als sei er ein noch nicht festgestelltes wildes Tier.
Sage mir, wie eine Gesellschaft ihre Kranken und Verbrecher traktiert und ich sage dir, wie krank und verbrecherisch die Gesellschaft ist.
Aus der Tagesmail vom 20. April 2012 – „Wahn und Realität“ Tagesmail hierher verlinken
… Der SPIEGEL weiter auf unerbittlichem Exorzismuskurs in gefährlicher Nähe zum Gottseibeiuns. Der „gescheiterte Gernegroß“ verliere sich in „großen Worten, verkaufe seine Hirngespinste als Ideologie und sein berufliches Scheitern als selbstgewählte Schaffenspause“. Die Zeit seiner Radikalisierung sei „weniger politisch motiviert, sondern Ergebnis persönlichen Versagens“.
Nach der Pleite als Unternehmer zog der Angeklagte wieder ins Hotel Mama und verbrachte jeden Tag bis zu 16 Stunden mit dem Computerspiel World of Warcraft. Diese Zeit, in der er nichts auf die Reihe brachte, beschreibt er als Sabbatical, als Märtyrertum-Geschenk. „Freilich“ rief er auf der Insel Utoya zweimal die Polizei an und „bettelte“ darum, jetzt festgenommen zu werden.
Freilich? Das kann nur bedeuten: obgleich der Täter sich viele Jahre akribisch auf seine militante Märtyrerrolle vorbereitete, war er im entscheidenden Moment Memme genug, sein Massaker nicht kalt wie eine Maschine zu exekutieren. Er wurde weich und bettelte die Polizei an, ihn von seiner fürchterlichen Zwangsrolle zu befreien.
Ein Monstrum, das noch Gefühle kennt, vielleicht gar Mitleid mit seinen Opfern? Hier fällt der ganze gefühllose, selbstgefällige und im Ton des Abscheus gehaltene Voyeurismus der Medien in sich zusammen. Schnell drüberweglesen, damit es niemand merkt.
Zur Dekonstruktion des aufgeblasenen Scharlatans passt wie angemessen die komplementäre Figur der Staatsanwältin als strenge Ersatzmutter, die – im Gegensatz zur „verwöhnenden, viel zu viel verstehenden, keine Grenzen setzenden“ leiblichen Mutter – zwar sanft spricht, dem Angeklagten sogar regelmäßig die Hand gibt, ihn aber rasiermesserscharf demontiert, indem sie nur Fakten gelten lässt.
Mit dieser Fakten-Strategie „entlarvt sie Breiviks Organisation als Phantasiegebäude“. Immer wieder treibt sie ihn in die Enge. Mit jeder Stunde, die das Kreuzverhör dauert, fällt die Welt der Tempelritter in sich zusammen. Auch am dritten Verhandlungstag wird die kühle Blonde den Saal als „Siegerin“ verlassen.
Alle Mittelschichtsängste der Schreiber, sozial in den Abgrund zu fallen und monströse Kinder als Zeitbomben zu kriegen, werden von der unerbittlich sachlichen Anklägerin gebändigt. Solange der Rechtsstaat solche Johannas von Orleans hat, muss uns nicht bange sein um den Fortbestand abendländischer Werte.
„Jeden Morgen liefert sie ihre zwei kleinen Söhne im Kindergarten ab.“ Also, geht doch: die Vereinbarkeit von Beruf, Mutter und Verteidigerin Europas.
Immer wieder gelingt es ihr, das Pompöse der Aussagen Breiviks zu entlarven. Ihre Körpersprache signalisiert, dass sie ihm „fast nichts abnimmt“, was er in seinem Manifest verzapft hat. So gelingt es ihr, seine Äußerungen immer mehr als Übertreibung, Wunschvorstellung, ja als Lüge zu entlarven.
Und dann, im Stile eines reißerischen Serienromans die letzte Frage, um die Spannung aufrechtzuerhalten: „Wird es ihr gelingen, Breiviks „Templertum“ als psychotische Wahnvorstellung zu entlarven?“
Wir kennen die Philosophie der harten Fakten, die nichts zulassen wollte als das, was man handgreiflich beweisen konnte. Es ist die Philosophie des Positivismus, der sich in jenem Wien breit machte, in dem Freud seine Bücher über Traumdeutung, Es, Ich und Über-Ich schrieb.
Nicht alles, was sich nicht quantitativ belegen ist, ist erfunden und erlogen. Freud schrieb ein religionskritisches Werk mit dem Titel „Die Zukunft einer Illusion“. Wenn Religion Illusion ist, ist Religion dann kein Wahn? Solche Fragen werden im christlich-identischen Europa nicht mehr gestellt.
Auch Phantasien, Fiktionen und Illusionen sind Fakten, denn sie sind selbsterfüllende Prophezeiungen und verwandeln sich im Verlauf der Ereignisse in harte Tatsachen. Wie heißt das amerikanische Dogma in Kurzform? „Verwirkliche deinen Traum“.
Ob Breivik tatsächlich einer Gruppe mit Namen Templer angehörte oder nicht, ist völlig belanglos. Relevant in höchstem Maß aber ist die „Wahnidee“, ein moderner Templer zu sein. Diese „Illusionen“ haben sein ganzes Tun geprägt.
Kein einziger Satz, wer diese Templer waren und welch verhängnisvolle Wirkung sie auf den Heranwachsenden ausübten. Die historia sancta muss geschont werden. Sie darf keinerlei Wirkungen mehr auf die Gegenwart ausüben.
Während die Neurologen die Freiheit des Menschen verabschieden, verabschieden die Historiker alle prägenden Ursachen der Geschichte. Im Neoliberalismus vollends ist die Vergangenheit zum Unwort geworden.
An Kausalitäten der Vergangenheit glauben nur Ewiggestrige, es sei, es handelt sich um wundertätige Folgen eines Heiligen Rocks.
Ein Blick in Wikipedia würde genügen und wir erführen über die Psyche des schrecklichen Mannes mehr als auf 1000 Seiten deutscher Berichterstattung. Templer waren Symbiosen aus Mönchen und Rittern, die durch Kreuzzüge die Welt von der Vorherrschaft – tatsächlich – der Muslime befreien wollten: auf dem allerheiligsten Terrain, auf dem der Erlöser persönlich wandelte.
Verbreitete Hitler nicht gezielt eine Atmosphäre aus mönchischer Askese – kein Sex, kein Fleisch, keine biologische Familie – und strahlendem Jesusritter?
Wer etwas als Wahn definiert, will mit dem Inhalt des Wahns nichts mehr zu tun haben. Tagesschreiber sind außerordentlich kritisch gegen kleine Würstchen, die am Boden liegen. Doch die Kategorien obrigkeitstauglicher Psychiater übernehmen die Berichterstatter wie Sätze aus dem Neuen Testament.
Schaumermal: „Wahn ist in der Psychiatrie eine inhaltliche Denkstörung. Der Wahn ist eine die Lebensführung behindernde Überzeugung, an der der Patient trotz der Unvereinbarkeit mit der objektiv nachprüfbaren Realität unbeirrt festhält.“
Solche Sätze sind zu unterirdisch, als dass man sie noch glauben kann. Seit wann gibt es in der Postmoderne objektive Realitäten? Werden wir nicht von den Gazetten täglich mit Sätzen zugeschüttet wie: jeder lebt in seiner Monaden-Ecke des Universums, jeder hat nur subjektive Perspektiven zu bieten, keiner kann sagen: so ist es?
Dieselben Gazetten wollen uns nun das Gegenteil weismachen? Die Erklärung ist einfach. Wahrheiten sind heute schichtenspezifisch geworden. Was für sublime hochkulturierte Bürgerdenker gilt, gilt noch lange nicht für Gescheiterte und Verbrecher. Die haben sich an die ordinäre Objektivität zu halten, die man ihnen von oben serviert.
Wollen wir tatsächlich noch den subjektiven Idealismus, den wissenschaftstheoretischen Konstruktivismus und all die anderen bedeutungsschweren Ismen bemühen, um nebenbei darauf hinzuweisen, dass weder Gottgläubige noch die überwiegende Mehrheit moderner Denker von der Objektivität der Natur überzeugt sind? Sondern nur davon, dass es allein der Mensch ist, der die Natur prägt, konstruiert, erfindet und zu Tode bringt, wie es ihm gerade beliebt?
Dann wären all diese ehrbaren Konstrukte im Herz der Neuzeit nichts als – Wahnsysteme? Dann wäre das Normale das Ver-rückte? Kommt einem irgendwie bekannt vor, diese These.
War das nicht, ach ja, der nicht unbekannte Frankfurter Dialektiker Adorno, der solche Frechheiten vom Stapel ließ und bei dem alle späteren Professoren und TV-Größen wie Alexander Kluge studierten, die heute den Geist der Republik kontaminieren?
Doch bleiben wir auf dem Boden der durchschnittlichen Tatsachen. Zeichnen sich hoffnungsvolle Jugendliche nicht dadurch aus, dass sie mit ihren Visionen, Träumen und Ideen die schlechte Realität bezwingen wollen, um sie zu ändern, zu verbessern und den evolutiven Fortschritt weiterzutreiben?
Gelten nicht jene als Genies, die sich nicht gleich unterkriegen lassen, wenn ihre Vorstellungen nicht gleich ankommen, die zäh und unbeugsam ihre Ziele verfolgen? Sogar mit dem Gedanken verbunden, erst ihre Nachwelt werde die Wahrheit ihrer seltsamen Ideen erkennen und bestätigen? Ja, erst am Ende aller Zeiten wird Gott die von der Welt verfolgten Märtyrer glanzvoll rehabilitieren?
Ist der christliche Glaube nicht die Überzeugung, dass er hienieden nicht mehr zur vollen Wahrheit gedeihe, sondern erst am Jüngsten Tag seine ganze Strahlkraft zeigen werde?
Ginge es nach den Psychiatern, müsste jeder Gläubige sofort mit dem Lasso eingefangen und in die Verrückten-Anstalten eingeliefert werden. Die großen Giganten der Menschheit waren all diejenigen, die sich von widrigen Umständen nicht abschrecken ließen und es irgendwann schafften, ihre Zielvorstellungen wie aus dem Boden zu stampfen oder ex nihilo zu kreieren.
War Gott nicht der größte Wahnsinnige, der sogar das Nichts überwältigte, um seine Schöpfung in die Welt zu setzen? Sind unsere teuren Abendländer nicht allesamt gehorsame Ebenbilder dieses omnipotenten Berserkers?
„Sie Idiot. Wenn ich nie in meinem Leben ein Phantast gewesen wäre, wo wären Sie und wo wären wir alle heute?“ fragte wer? Ein gewisser „Adolf Nazi“, wie selbst ein Helmut Schmidt den Teufelsnamen verstümmeln muss, um von diesem nicht noch aus dem Grabe befleckt zu werden.
Wir sehen, auch hier dasselbe Problem wie bei Breivik. Wer den Teufel bei Namen nennt, wer seine Fratze zeigt, seine Gebärden, sein Grinsen, seine triumphierende Miene, der bietet dem Unhold eine Bühne zur Selbstinszenierung und macht sich mitschuldig.
Wie viele Hitler-Dokus darf PHÖNIX senden, ohne die Schar der Neonazis zu vermehren? (Der SPIEGEL hingegen darf alles, der bringt immer dann leckere Hitler-Storys, wenn’s mit der Quote hapert). Warum darf „Mein Kampf“ nicht gedruckt werden, wenn doch nur wirre Gedanken drin stehen? Wahnwitziges wird doch kein gesundes Volk unterminieren?
Überhaupt: was wäre, wenn Hitler heute vor Gericht stünde? Wäre er schuldfähig, verrückt, wahnsinnig, ein Phantast – oder kalt berechnend und technisch zuverlässig wie ein Alien-Roboter?
Wie ist das zweite Kapitel in Fests Hitler-Biografie überschrieben? „Der gescheiterte Traum“. Darunter: „Erneutes Scheitern. Die Wendung gegen die bürgerliche Welt“.
Hat Breivik sich nicht selbst als „risiko-pervers“ bezeichnet, weil er brav verinnerlichte, dass man heute nichts wird, wenn man nichts riskiert? Wird uns nicht die Risikogesellschaft von allen Magnaten, Tycoons, Merkels und Futurologen von morgens bis abends eingebleut?
Da ist die Botschaft tatsächlich bei einem kleinen Norweger angekommen, der die Formel aufsaugte, um vorbildlich die Welt per Risiko zu heilen und nach vorne zu bringen. Nein, der Täter ist kein Fremder aus einer anderen Welt. Er ist dieser Welt derart aus dem Gesicht geschnitten, dass die Welt aufjault und alle DNA-Spuren der Vaterschaft mit List und Brutalität ungeschehen machen muss.
Apropos risikopervers. Wer hat erfolgreiche Politiker als Programmatiker beschrieben, „von denen es heißt, den Göttern nur zu gefallen, wenn sie Unmögliches verlangen und wollen. Er wird auf die Anerkennung der Gegenwart fast immer Verzicht zu leisten haben, erntet aber dafür, falls seine Gedanken unsterblich sind, den Ruhm der Nachwelt“? Adolf Nazi, das große Vorbild des Norwegers, der im ganzen Prozess, in allen Gazetten, total unter dem Teppich gehalten wird.
Vergessen wir nicht, auch das vorbildliche Norwegen hatte einst eine nicht geringe Nazivergangenheit. Der Name des Führers der Nazi-Kollaborateure – Pastorensohn Quiesling – wurde zum Synonym eines haltlosen gewaltbereiten Mitläufers und nationalen Verräters.
Kann es sein, dass das Land der Mitternachtssonne, voll bester humaner und demokratischer Grundsätze, dennoch seine braune Vergangenheit allzuschnell weggepackt hat? Sodass widerspenstige Jugendliche wie Breivik die geheime Spur witterten und sie den verlogenen Erwachsenen um die Ohren hauen konnten?
Stammt nicht ein literarischer Nobelpreisträger aus Norwegen, der ein glühender Verehrer des arischen Führers und dessen Blut- und Bodenideologie war und auf den Namen Knut Hamsun hörte? Gab es nicht mehr als 10 000 „Nazi-Kinder“, deren Spuren nicht einfach verschwunden sein können?
Müsste man über solche Petitessen nicht viel mehr erfahren als darüber, dass einer provokativ die Faust reckt, sie vor lauter Eitelkeit aber sofort wieder sinken lässt – um sich die Schuppen von seinen Schultern zu kämmen?
Ihr blinden Medien, die ihr die Mücken belangloser Fakten seiht, aber die Kamele der mit Händen greifenden mentalen Ursachen verschluckt. Wehe euch, dass ihr über die Außenseite des Gewaltverbrechens berichtet, nicht aber über dessen geistige Ursachen, gefüllt mit Verleugnungen, Verdrängungen, doppelten Wahrheitsbegriffen, eklatanten Widersprüchen, versteckten Ansteckungsängsten, Verfluchungsmagie und unüberbietbarer Selbstgefälligkeit.
Der Neoliberalismus hat ganze Arbeit getan und die psychischen Ursachen des Menschseins als „unglückliche Kindheitsstory“ lächerlich gemacht.
Jeder soll, an welchem Platz auch immer, sein Schicksal titanenhaft selbst gestalten, als gebe es keine Beschädigungen und Benachteiligungen, an denen er unschuldig ist, die Gesellschaften aber ihr gerüttelt und geschüttelt Maß an Schuld tragen?
Womit wir über den Gesamtwahn der Moderne, sich selbst in fiebrigem Kollektiv-Wahn abzuschaffen, noch gar nicht geredet haben.
Was, wenn die forensischen Psychiater über die Weltpolitik der gesamten Gattung ein Gutachten schreiben müssten? Müsste es nicht wortwörtlich identisch sein dem Psycho-Profil eines beschädigten, fehlgeleiteten, erlösungs- und vernichtungswütigen nordischen Nachwuchsmessias?
Aus der Tagesmail vom 21. April 2012 – „Die Frage nach dem Warum?“ Tagesmail hierher verlinken
… Die Selbstexkulpierungsspiele der Gazetten, besonders im SPIEGEL, gehen unvermindert weiter. Man muss den personalisierten Bösen in jeder Facette seiner Verruchtheit nach Schwefel- und Brandgeruch abgeschnüffelt haben, um sich zu beweisen, dass man als Mustermann und -frau zu solchen Schandtaten nicht fähig wäre. Nicht im Traum, nicht im Über-Ich, nicht im ES, das Josef Joffe eindeutig als Dependance des Satanischen reserviert hat, besonders bei Schriftstellern, die nicht mal ein Gedicht zustande kriegen.
Leibhaftige Teufel sind zu keinen Gefühlsempfindungen fähig. An den Genen kann es aber noch nicht liegen, denn Breivik hat eine enorme Schwäche zugegeben. Dass er nämlich in früheren Zeiten durchaus das Gefühl hatte, Gefühle zu haben. Die habe er sich in Vorbereitung zum Terrorakt gründlich ausgetrieben. Übrigens fühle er eine große Liebe zu seinem Land.
Keine Gefühle, falsche Gefühle? Ohne mühsam einstudierte „Entemotionalisierung“ könne man niemanden töten, so der Angeklagte. Man müsse sich mental vorbereiten.
Halten wir fest, dass der junge Breivik ohne Gefühle nicht sein konnte. Wie kam er nur auf die Idee, sich diese abzutrainieren? Ohne diesen emotionslosen Schutzschild würde er sofort zusammenbrechen, sagt er. Er habe seine Opfer „entmenschlicht“, sonst hätte er sie nicht töten können.
Dass er sich vom Grauen seiner Taten völlig entkoppeln könne, wäre möglicherweise ein Zeichen für psychotische Schizophrenie, so ein Gutachter. Sicher aber sei diese Diagnose nicht, es könnte sich auch lediglich um eine schwere Persönlichkeitsstörung handeln.
Es könnte sich aber auch darum handeln, längst bekannte inhumane Kompetenzen und langwierig antrainierte, ja zivilisatorisch geforderte Gefühlssterilisierungen der abendländischen Kultur zu verleugnen und in das Reich hemmungslosen Schwafelns zu projizieren. In eine ver-rückte Welt also, die mit der unsrigen in beruhigender Weise nichts mehr zu tun hat.
Fangen wir von oben an: Welche Gefühllosigkeit benötigt die Menschheit, um ihre eigene Gattung einer suizidalen Apokalypse auszusetzen? Um viele Mitglieder dieser Gattung täglich dem Elend und dem Tode auszuliefern?
Wie viele Tiere werden alltäglich in vielen Labors dieser Welt im Namen des Fortschritts drangsaliert, tranchiert und unbetäubt abgeschlachtet? Welche Qualen allein muss ein Medizinstudent des ersten Semesters erdulden, um einen Frosch lebend zu sezieren?
Wie viele Bilder von Kriegen und Verbrechen flimmern uns täglich in die Bude, die uns schon längst – aus Selbstschutzgründen – bis ins Innerste unsrer schwarzen Seelen verpanzert haben, sodass wir unseren Kindern nicht mal die Tagesschau zumuten wollen?
Die Grundregel lautet überall gleich: Um des Guten willen ist das Böse unvermeidlich. Das Böse ist notwendiges Instrument im Dienste des Guten und Heiligen. Der Teufel ist seit Adam und Eva Werkzeug Gottes.
Von wem ist folgende Geheimrede?
„Wie es dem Russen, dem Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. … Ob die andern Völker in Wohlfahrt leben, ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur insoweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen. … Man wird einmal nach dem Krieg feststellen können, welcher Segen es für Deutschland war, dass wir allen Humanitätsdusslern zum Trotz …, dass ich diese gesamte kriminelle Unterschicht des deutschen Volkes in die KZs sperrte. Und deswegen sind wir verpflichtet …, uns unseren Grundgesetzes zu besinnen: Blüte, Auslese, Härte. Das Gesetz der Natur ist ebenso: Was hart ist, ist gut. Was kräftig ist, ist gut …Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 da liegen oder wenn 1000 da liegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“
Ich weiß nicht, ob Breivik Himmler und seine Geheimrede vor SS-Leuten kennt, aber seinen Geist hat er völlig verinnerlicht. Breivik, der schreckliche Täter, ist Opfer einer europäischen Herrenkultur, die weder Skrupel kannte, noch kennt, um ihres Vorteils willen ohne Humantätsduselei, ohne Schwäche der Menschlichkeit, andere auszulöschen, die ihr als Rivalen, Andersdenkende, Fremde oder Bösewichter im Wege stehen.
Die nachkriegsdeutsche Vergangenheitsbewältigung muss als nichtexistent betrachtet werden, wenn die meisten deutschen Blätter, mit SPIEGEL an der Front, über einen spät geborenen Himmlerfan berichten können, ohne auch nur ein einziges Mal anzuschlagen, dass es bei ihnen im Vorderlappen einen Klick macht: Kommt mir das nicht alles irgendwie bekannt vor?
Wenn das noch nicht reicht, um das genuine Gewächs des eigenen Ungeistes zu exterritorialisieren und den Täter zu einem jener Monstren zu machen, die in abgeschmacktesten Varianten in vielen Hollywoodschinken zu begruseln sind, muss auch noch das Leid und die Trauer der Opferangehörigen herhalten, um einen Menschen – der auch dann noch Mensch ist, wenn er alle Menschlichkeit in den Staub getreten hat – in einen entarteten, unmenschlichen Dämon zu verwandeln.
Da werden den Angehörigen Sätze in den Mund gelegt, die sie – wenn sie nicht gerade Experten für Kierkegaard sind – mit Sicherheit nicht gesagt haben. Je unerträglicher der Schmerz der Leidtragenden, je mehr wird er von den Sensationsschreibern ins Satanische des Täters hochgerechnet.
„Die unerträgliche Frage nach dem Warum“ ist unschwer als Standard- und Scheinfrage jedes Seelenhirten zu erkennen, der in Trauergottesdiensten seinen Gott verteidigt, indem er rhetorisch die Frage stellt: Warum hat Gott dies zugelassen?
Die Antwort ist seit Erfindung der Theologie immer dieselbe: Das Tun des Höchsten übersteigt allen menschlichen Verstand. Gott lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Der Herr nimmt, der Herr gibt, der Name des Herrn sei gepriesen.
So schwer der Verlust der Liebsten zu ertragen ist: eine mündige Gesellschaft darf das Schreckliche in ihrer Mitte weder einem unbegreiflichen Gott, noch einem unfassbaren und unerklärlichen Bösen überlassen.
Wer solche furchtbaren Amokläufe verhindern will, sollte in den Spiegel schauen, ob er alles unternommen hat, um sie vorbeugend zu verhindern. Und ob er bereit ist, das Schreckliche als Fleisch vom eigenen Fleisch anzuerkennen. Aus nichts entsteht nichts. Auch das Grässliche und Abscheuliche nicht.
Tagesmail vom 22. April 2012 – „Das ganz Andere und das Identische“ Tagesmail hierher verlinken
Was ist der Unterschied zwischen Wahn und Realität? Wenn der Wahn erfolgreich ist, wird er dekoriert, der Wahn-Sinn zur Realpolitik. Was erfolglos ist, wird bestraft, und muss zurück ins Wahnfach.
Woran erkennt man die Differenz zwischen zukünftigem Helden, Erfinder, Genie und Verrückten? Im embryonalen Zustand überhaupt nicht. Alles klingt unisono verrückt, überspannt, abenteuerlich, erst am Ende entscheidet der pure Erfolg.
Der Erfolgreiche spricht: wer es nicht aushält, in seiner Umgebung als verrückt zu gelten, hat keinen Erfolg verdient. Der große Erfolg ist der Sieg des Verrückten über die phantasie- und risikolose Normalität.
Kein Erfolgreicher, der seine Lebensstory nicht so erzählte: an wie vielen Türen musste ich anklopfen, wie viele Körbe und Absagen, wie viel Ignoranz und Ablehnung musste ich einstecken, bevor sich die ersten Anzeichen des Sieges zeigten.
„Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du“, war die Lebenserfahrung Gandhis.
Man könnte variieren: zuerst ignorieren sie dich, dann sind sie entsetzt und halten dich für einen gefährlichen Spinner und bekämpfen dich, dann sehen sie, dass deine Verstiegenheiten, Dreistigkeiten und Brutalitäten ankommen, sich durchsetzen, selbst offizielle Staatsorgane dich heimlich oder offen unterstützen, dann beobachten sie noch eine Weile aus sicherer Entfernung, schließlich laufen alle zu dir über: die Gelehrten und Intellektuellen, die Industriellen und Meinungsführer, der Pöbel und die Eliten lassen sich von der Erneuerung, Begeisterung, nationalen Erweckung anstecken und rufen ekstatisch: Heil dem Führer. Nichts ist charismatischer als Erfolg.
Welch psychisches Gesetz steckt hinter dieser Merkwürdigkeit? Sind Menschen so oberflächlich und verführbar, dass sie jedem Rattenfänger von Hameln hinterherlaufen? Sind sie unbegrenzt charakterlos, durch jede Werbekampagne manipulierbar, fasziniert von jedem charismatischen Redner und großen Mann?
Das würde manches erklären, aber nicht das genaue Gegenteil, das man noch öfter beobachten kann: das zähe Festhalten am Bekannten, das Misstrauen gegen Überflieger und Scharlatane, die Abneigung gegen alle, die mit List und Tücke ins Rampenlicht drängen.
Menschen sind Wahrheitstiere, die nicht wissen, woran sie die Wahrheit erkennen können. Also setzen sie auf Erfolg. Der Erfolg ist für sie das Wahrheitskriterium, an dem sie nicht mehr rütteln können.
Wer sich gegen meine anfängliche Skepsis und Ablehnung durchgesetzt, wer die bewährte Normalität überwunden, das Altvertraute, Verlässliche und Liebgewonnene besiegt und überwältigt hat, an dem muss was dran sein, das kann kein Zufall, kein Irrtum der Geschichte sein.
Erfolg ist, wenn viele Menschen von ihm überzeugt sind – oder sich nicht mehr dagegen wehren. Der Glaube an den Erfolg ist der Glaube an die qualitative Wahrheitsfähigkeit des Menschen in quantitativer Gestalt der Menschen. Zwei Augen können irren, viele Augen sehen mehr als zwei.
Hier sehen wir ein tiefes Überzeugtsein des einzelnen Menschen von der gesamten Menschheit. Zumindest von der Mehrheit, woher auch das demokratische Ritual der Mehrheitsentscheidung kommt. Ich als Einzelner kann irren und schwanken, doch wenn viele Menschen zur selben Überzeugung gelangen, hat der Irrtum keine Chancen mehr.
Vox populi, vox dei, das ist religiös formuliert, meint im Grunde: die Stimme des Volkes ist die Stimme der Wahrheit (vox populi, vox veritatis). Wenn man elitärer CSU-Katholik ist, Strauß heißt und an die Offenbarung von oben glaubt, kann man trefflich hämen: vox populi, vox rindvieh.
Für Gläubige ist das Wahrheitsproblem durch autoritäres Verfahren für immer gelöst. Wahr ist, was die priesterliche Stimme als Mundstück des Himmels sagt. Hat Rom gesprochen, ist die causa erledigt.
Wenn wir jetzt noch den vulgären Spruch hinzufügen: fresst Scheiße, Millionen Fliegen können nicht irren, dann haben wir die letzten Reste der noch herumschwirrenden Versatzstücke einer uralten, aber nicht mehr wahrgenommenen Wahrheitsdebatte beisammen.
Es gibt keinen Menschen, der nicht an Wahrheit glaubte. Selbst moderne Wahrheitsleugner sind von der Wahrheit ihrer Leugnung felsenfest überzeugt.
Doch woran soll man Wahrheit erkennen? Hier beginnt der Streit der verschiedenen Wahrheitstheorien, die in der Aufklärungszeit der Griechen aufkamen, als sie die eine selbstverständliche Wahrheit des Überkommenen anzuzweifeln begannen.
Wenn die Identität einer Tradition zerbricht, wenn viele Wahrheiten aufkommen und miteinander rivalisieren, entsteht zwangsläufig die Frage, welche Wahrheit richtig ist. Gibt es nur eine Wahrheit? Kann es nicht mehrere Wahrheiten geben und eine besiegt alle anderen, um als die wahre aufs Treppchen zu gelangen? Aus eins wird viel, aus Identität Pluralität.
Wenn Kauder von deutscher Identität spricht, spricht aus seinen Worten eine regressive Sehnsucht nach einer Zeit, in der noch alle in einer Wahrheit eine tief befriedigende Einheit erlebten. Wenn schon das Tagesgeschehen durch Wettbewerb und endlosen Streit zerklüftet ist, soll es wenigstens ein Fundament geben, das niemand mehr in Zweifel ziehen kann.
Es ist die Sehnsucht zurück in den Mutterleib, in dem alle werdenden Menschlein egalitär waren, das spalterisch-unvergleichliche Individuum noch nicht das Licht der Welt erblickt hatte.
Wer identisch sein will, will vergleichbar sein. Das Vergleichliche hat sich vom mütterlichen Bezirk abgelöst und den Bereich des Vaters betreten, der seine unvergleichlich gewordenen Sprösslinge nicht mehr in gleichem Maße liebt wie die allliebende Mutter. Ab jetzt herrscht Ranking per Leistung oder Willkür, Laune und Zufall.
Leistung klingt noch nach Gerechtigkeit und kann verglichen, nachgezählt und berechnet werden, Willkür und Laune sind ungerecht – es sei, es handelt sich um die Willkür eines Gottes, der seine Willkür als Gerechtigkeit ausgibt.
Trefflich beschrieben im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, wo der Hausherr seine Leute völlig willkürlich entlohnt. Als jene protestieren, erklärt der Herr der willkürlichen Tarife: „Ich will aber diesem Letzten so viel geben wie dir. Oder steht es mir nicht frei mit dem Meinigen zu tun, was ich will? Oder ist dein Auge neidisch, weil ich gütig bin? So werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein.“ (Matth. 20,1 ff)
Dasselbe bei Paulus im Römerbrief: „O Mensch, jawohl, wer bist du, dass du mit Gott rechten willst? Wird etwa das Gebilde zum Bildner sagen: Warum hast du mich so gemacht? Oder hat der Töpfer nicht Macht über den Ton, aus der nämlichen Masse das eine Gefäss zur Ehre, das andre zur Unehre zu machen?“ (Röm. 9,20 f)
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Obgleich Gott selbst zugibt, will-kürlich zu sein (willkürlich ist, was der launisch-unberechenbare Wille will), nennt er seine launische Willkür – gerecht.
Begründung: was gerecht ist, bestimme noch immer ICH. Was immer ICH tue und will, es ist per definitionem gut und gerecht, denn ICH kann nicht ungerecht sein.
Deshalb legt das Neue Testament erhöhten Wert auf den Begriff „die Gerechtigkeit Gottes“, die mit der menschlichen Gerechtigkeit nichts am Hut hat und höher ist denn alle menschliche Vernunft. Gott besetzt die Begriffe wie Napoleon die deutschen Länder. Wahrheit hat, wer über die Wahrheitsdefinition per Autorität verfügt.
Das griechische Wahrheitsverständnis war diametral umgekehrt. Wahrheit kann nicht par ordre du mufti bestimmt, sie muss gesucht werden. Sie hängt ab von der Abbildung (imitatio) der Wirklichkeit, die mit dem Kosmos identisch ist.
Das ist die schlichte Wahrheitstheorie der Kinder, des gesunden Menschenverstandes und fast aller außerchristlichen Kulturen.
Heute will niemand mehr imitieren, das ist ehrenrührig passiv und devot vor der Natur. Man muss sie aktiv, ja gewalttätig formen und gestalten, damit man in den Spiegel der Sieger blicken kann.
Die uralten Ägypter hielten die Griechen für ewige Kinder. Der Heiland pervertiert die unbefangene Kindlichkeit, indem er die Kinder zu sich kommen lässt, um sie der Erde zu entfremden und sie als unbefleckte Engel in den Himmel zu schicken.
Wahrheit ist Übereinstimmung mit der Natur: die Konvergenztheorie der Wahrheit. Das Denken hat sich nach der Natur zu richten, nicht Natur nach dem Denken. Wahr ist, was mit der Natur übereinstimmt.
Heute will man Natur schützen und bewahren, hält aber an naturfeindlichen Wahrheitstheorien der christlichen Moderne fest, wonach Wahrheit Untertanmachen, Vorschreiben, Prägen, Beherrschen, Eliminieren und Neuschaffen der Natur sein soll.
Heutige Naturschützer und Grüne sind pragmatisch-bornierte Agitatoren, die jedes Nachdenken über grundsätzliche Fragen für lächerlich, ja für Kompensation mangelhaften Engagements halten.
Sie glauben durch blindes Tun und Machen ihre Pflicht zu tun. Wenn’s nicht klappt – dann eben nicht. Die neue messianische Natur kommt eh so sicher, wie das Amen im Gebet.
Der erste grüne Ministerpräsident gibt freimütig zu, dass er die Welt (= Natur) nicht retten kann. Ist er Jesus? Da die meisten Naturfreunde denken wie Kretschmann, die ihre Werkgerechtigkeit als Pflichtübung absolvieren, um sich über einen neuen Ablasshandel Punkte im Himmel zu verschaffen, sollte es niemanden verwundern, dass die Umweltbewegung längst in ihrer tiefsten Krise sitzt und nicht fähig ist, darüber Rechenschaft abzulegen.
Halten wir fest. Der Wahrheitsbegriff einer mündigen Menschheit besteht auf der Wahrheit als Übereinstimmung mit der Natur, wobei es weder um Über-, noch um Unterordnung des Menschen geht. Sondern um ein gleichberechtigtes Aufeinanderzugehen von Mensch und Natur, denn der Mensch ist selbst Teil der Natur, hat die Einheit mit der Natur im Mütterlichen erlebt und will sie aufs tägliche Leben übertragen.
Es ist kein retour à la nature. Es ist das Vorhaben, die Welt in einen utopischen Uterus zu verwandeln. Heutige Kritiker dieser „rückwärtsgerichteten“ Utopie werfen dem Bestreben infantil-regressive Sehnsüchte vor. Im Mutterleib ist’s langweilig, da kann man weder zocken noch befriedigende Kriege am Hindukusch führen.
Die Utopie der Utopieverächter ist das kurzweilige Elend männergemachter Unterschiede, männlichen Wettbewerbs um die besten Plätze, des amüsanten Kampfes aller gegen alle. Heidiheida, im Getümmel und Gemetzel geht’s fein lustig zu.
Irdische Wahrheit als Einheit mit der Natur wird über den Haufen geworfen von einer göttlichen Wahrheit, die darauf besteht, dass menschliche Wahrheit Lüge und Verblendung, die Übereinstimmung mit Gott hingegen die wahre Wahrheit sei.
Die Wahrheit Gottes tötet die Wahrheit der Natur. („Vernichten werde ich die Wahrheit der Philosophen“). Ist Wahrheit nicht von der Natur abhängig, gibt es kein natürliches Kriterium, mit dem man sie überprüfen kann. Natur wird durch die neue göttliche Offenbarungswahrheit zum Reich teufelsfixierter Unwahrheit abgewertet.
Auf diesem naturfeindlichen Boden wachsen alle Wahrheitstheorien der Moderne. Selbst der atheistische Materialismus von Marx und Engels, der als einziger die Übereinstimmung mit der Materie (= Natur) propagiert, legt gesteigerten Wert auf Beherrschung dieser Materie, die nach Bloch – just wie im Christentum – eh vergehen muss, um einer völlig neuen jungfräulichen Materie Platz zu machen. Womit der Marxismus seine anfängliche Naturkonvergenz ins Gegenteil verkehrt.
Mit Eintritt des christlichen Offenbarungsglaubens wird menschlich-natürliche Wahrheit als Teufelswerk gebrandmarkt.
Was wird zum neuen Merkmal göttlicher Wahrheit? Der Erfolg. Gott setzt sich mit Brachialgewalt gegen seinen teuflisch-natürlichen Widersacher durch. Gegen den Sturmlauf seiner Wahrheit ist kein Kraut gewachsen.
Kraft und Herrlichkeit sind Anzeichen der neuen Wahrheit, die sich nicht mit Schwatzen und Disputieren auf der Volksversammlung begnügt, sondern nur mit dem finalen Erfolg oder Endsieg, der am Jüngsten Tag alles Widerständige niedermacht.
Was mit der Wahrheit geschieht, geschieht in gleichem Stil mit der Gerechtigkeit, denn Gerechtigkeit ist nichts anderes als Wahrheit der sozialen Beziehungen.
Wenn irdische Gerechtigkeits-Maßstäbe wie im obigen Gleichnis verhöhnt werden, bleibt nur eine Gerechtigkeit, an die man glauben muss, weil man sie nirgendwo erlebt.
Gott als despotischer Hausherr trampelt mit Vergnügen auf den Gerechtigkeitsvorstellungen seiner Arbeitnehmer herum, die sich an die simple Übereinstimmung von Leistung und Lohn halten. Es muss proportional zugehen zwischen Maloche und Zaster.
Die autonome Definition der Gerechtigkeit wird vom Großen Despoten ad absurdum geführt. Wer auf Gerechtigkeit beharrt, wird als Neidhammel angemacht, als einer, der es nicht aushält, dass der Tycoon gütig ist – zu anderen. Die einen werden grundlos bevorzugt, die andern gucken in die Röhre.
Mit diesem Divide et Impera wird die Menschheit gespalten. Eine gespaltene Menschheit wird keinem Herrscher gefährlich, weder auf Erden, noch im Himmel.
Sind menschliche Wahrheit und Gerechtigkeit vom Tisch gefegt, bleiben nur Willkürkonstruktionen, die man glauben muss. Selbst an den letzten Erfolg, wo Wahrheit sich im „Schauen“ zu erkennen gibt, kann man nur glauben.
Als vorläufiger Ersatz für das noch nicht eingetretene Schauen bleiben Glauben und brachialer Erfolg. Erfolg als Kriterium für Wahrheit wird zum Kern der führenden Wahrheitstheorien der Neuzeit: des Pragmatismus und des Utilitarismus, die nicht erst in Amerika von James und Dewey entwickelt, sondern längst vom lutherischen Hegel als Krönung seiner Geschichtsphilosophie vorgestellt wurden.
Bei ihm gibt’s zwar einen kleinen Karfreitag des Geistes, der sich aber schnell von seiner scheinbaren Niederlage erholt und am Ende als Alleinsieger über alle konkurrierenden Unwahrheiten im Ziel ankommen wird – und in Preußen schon angekommen ist.
Bei dieser desaströsen Auslöschung aller menschlichen Wahrheits- und Gerechtigkeitskriterien darf man sich nicht mehr über die außerordentlichen Unsicherheitsgefühle der menschlichen Wahrheitstiere wundern, denen nichts mehr übrig bleibt, als sich mit Haut und Haaren dem Erfolg auszuliefern.
Sie wissen nicht mehr, was wahr ist, weil sie es nicht wissen dürfen. Es wäre ein blasphemischer Aufstand gegen Gott, eigenmächtig mit menschlichen Denkorganen über Wahrheit nachzudenken.
Eigene Kriterien als Übereinstimmung mit Natur und Logik sind verboten. Logik ist der Natur immanent, das Buch der Natur ist seit Pythagoras und Galilei in logisch-mathematischen Lettern geschrieben.
Wahn ist Wahrheit ohne Erfolg – also psychisch gestörte, paranoide Unwahrheit. Wäre Jesus im Grabe geblieben, würde man ihn heute nicht mehr kennen oder er wäre als einer unter vielen paranoid-wahnhaften Messiassen der Antike als Randnotiz abgeheftet.
Paulus hält sich mit dem gekreuzigten Christus gar nicht auf, er hat ihn auch nie gesehen. Für ihn ist allein entscheidend seine Privatoffenbarung, in der ihm der Herr als Auferstandener und Weltenherrscher – also als Erfolgreicher – erschienen ist.
Der Triumph des Siegers ist der Ausgangspunkt des „Erfinders des Christentums“. Alles andere ist Tandaradei: die Moral, die Bergpredigt, die ganze Botschaft des Zimmermannssohns. „Ist aber Christus nicht auferweckt worden, so ist ja unsere Predigt leer, leer auch euer Glaube.“ (1.Kor. 15,13 ff) Allein der Erfolg entscheidet, der Erfolg über Tod, Teufel und Natur. Ein erfolgloser Erlöser ist eine Lachplatte.
Hätte Breivik Erfolg gehabt wie sein Mentor Hitler, wäre es ihm gelungen, Jünger und Gefolgsleute um sich zu scharen, wie Osama bin Laden ein Heiligtum seiner Gegner in die Luft zu sprengen – vielleicht die Kaaba in Mekka –, wäre er ein seriöser Terrorist, ein verwegener Glaubenskrieger und Held des Abendlands.
Im Artikel des Soziologen Wolf Lepenies wird de Gaulle mit folgenden Worten beschrieben: „Ich war schon immer einer gegen alle“, was ihn zum antideutschen Breivik gemacht hätte, wenn es ihm nicht gelungen wäre, seine Visionen von der französischen „Grandeur“ – Grandiosität – in Politik umzusetzen. Erfolglose Grandeur ist Wahn und Großmannssucht.
Kein Zufall, dass die Gegenspielerin des Finsterlings Breivik zur blonden Maria und zum kühlen Engel stilisiert wird, der im Auftrag der guten Mächte das Böse niederringen muss.
Sie ist das exakte Gegenbild zum erfolglosen Versager: frühe Karriere, schon als Kind sich leidenschaftlich für Gerechtigkeit einsetzend, mitten im Leben stehend mit zwei Kindern und intakter Familie, rational bis auf die Knochen, dabei gleichmäßig freundlich und – stopp, jetzt kommt eine Aussage, die nicht ins Bild passt: „Die Anklage hat sie ungerührt verlesen wie Seiten aus dem Telefonbuch“. Dabei ging es um schlimmste Details aus den Obduktionsberichten. „Ich bin nicht emotional, ich mache hier meinen Job.“
Was ist der Unterschied zwischen krankhafter „Entemotionalisierung“ und professioneller Gefühllosigkeit? Richtig, letztere zeigt sich nur bei erfolgreichen Karrieristen in Chirurgie, Zahnmedizin und der ganzen Liste unserer Helfer im Dienste der Menschheit rauf und runter.
Ein echter Kriminalpsychiater will seinen „Fall“ aus den Klauen der rachsüchtigen Meute befreien und in sein Institut einliefern lassen, damit er ein interessantes Buch über das Monstrum schreiben kann.
Bei dem Thema Schuldfähigkeit geht es nur darum, ob der Angeklagte ins Gefängnis oder aber in die Psychiatrie einwandern muss. Einen größeren Unterschied zwischen beiden Häusern gibt es nicht. Beide sind Gefängnisse. Das eine offiziell, das andere mit dem selbstverliehenen Etikett einer therapeutischen Anstalt, die aber nicht erfolgreich sein darf. Selbst wenn der Kranke geheilt werden würde, hätte er keine Chancen mehr, in Freiheit zu gelangen.
Was unterscheidet einen echten Terroristen von einem Kranken? Der letztere ist isoliert, die anderen arbeiten in Gruppen. „Er war ein von jeglichem Diskurs abgeschnittener Phantast“. Aha, echte Terroristen sind Diskursteilnehmer à la Habermas? Was wäre dann ein Eremit oder Guru, der jahrelang einsam vor sich hin vegetiert?
Auf die Frage nach der schwierigen Kindheit geht ein echter Psychiater gar nicht erst ein. „Ja, er hat auch keinen qualifizierten Schulabschluss bekommen.“
Seit Hitler wissen wir, was aus gescheiterten Schulabgängern werden kann. Also, liebe Kinder, macht schnell eure Aufgaben, sonst werdet ihr Wahnsinnige oder Terroristen.
Schizophren erkrankte er, weil er bei Mama nichts mehr Sinnvolles arbeitete. Kleine Frage: warum ist er zu Mama zurückgekehrt? Warum hat er sich isoliert? Wovor hatte er Ängste? Keine Fragen, keine Antworten.
Wer keinem sinnvollen Job nachgeht, muss per se krank sein. Wie viele Gesunde sind regelmäßig ihrem Job nachgegangen und haben Atomwaffen, Giftgase und andere liebreizende Ausrottungsmittel für die Menschheit entwickelt?
„Sein Manifest unterscheidet sich in der Verstiegenheit und Verworrenheit erheblich von den politischen Theorien anderer Attentäter.“ Was ist verworren an der Rede, dass er Norwegen in Gefahr sieht, von rassisch und religiös Minderwertigen überflutet und überrannt zu werden? Das ist die punktgenaue Wiederholung der Nazi-Ideologie mit ausgewechselter Feindespopulation.
Tatsächlich, die Wahnhaften tun alles, um wie normale Menschen auszusehen. Da haben sie aber nicht mit ausgekochten Dämonologen gerechnet, die den Braten in kleinsten Gesichtszuckungen wittern.
„Sein Manifest ist ja keine politische Überzeugung, die fanatisch-wahnhaft wie etwa „Mein Kampf“ von Hitler ist.“ War Hitler wahnhaft? Oder politisch? Ist es unpolitisch, ein ganzes Land vor dem Verderben zu bewahren?
Schizophrene versuchen alles, um ihre Taten als nachvollziehbar und rational aussehen zu lassen, so der Experte. In Wirklichkeit aber gehe es um einen ganz anderen Film. „Der Messerstecher hörte Stimmen und hatte Verfolgungswahn.“
Damit sind die Kranken endgültig aus dem Bereich der Kultur entfernt und ausgewiesen. Sie haben nichts mit dem gesunden Blut und Boden des Abendlands zu tun. Sie kommen aus dem ganz Anderen, einer fernen, fremden und gefährlichen Welt, die unsere Welt mit Wahnvorstellungen und galoppierenden Größenphantasien zu verderben droht.
Wer leidet hier eigentlich unter paranoiden Verfolgungstheorien? Das ganz Andere war vor kurzem in Deutschland die Welt der Juden, Roma und geistig Behinderten. Dieses Reich des Bösen und Hinterhältigen hatte nur die Absicht, unsere friedliche Heimat zum Einsturz zu bringen. Also musste es vollständig vernichtet werden, auf dass wir uns als Retter des Planeten feiern konnten.
Heute sind an die Stelle der Naziopfer die geistig Kranken und Verbrecher getreten. Der Dualismus des christlichen Credos, das unbedingte Gute und radikale Böse, hat sich in die beiden Welten der Gesunden und Kranken verwandelt.
Die Welt der Guten und Erfolgreichen muss rein und unbefleckt bleiben von der ganz anderen Welt der Gescheiterten, Nieten und Versager.
Das walte Gott und die Wissenschaft der Psychiatrie.
Aus der Tagesmail vom 24. April 2012 – „Recht ist eine Wahrheitsleistung“ Tagesmail hierher verlinken
… Warum dieses pompöse Schaugepränge des Breivik-Prozesses, wenn der Täter seine Taten nicht im Geringsten leugnet, sich kooperativ zeigt, ja, sich bei einigen Opfern sogar entschuldigt, die er – an seinen Kriterien gemessen – nicht hätte töten dürfen. Dieses Verfahren diene nicht der Wahrheitsfindung, sondern der Traumabearbeitung, meint Isolde Charim in der TAZ:
Das Verbrechen habe gezielt eine ganze Gesellschaftsordnung in Frage gestellt, deshalb bedürfe es einer angemessenen Antwort. Das Verlesen der Opfernamen, die Erzählung des Tatvorgangs diene exakt dieser Bearbeitung des Traumas und der Heilung erlittener Wunden. Bei der Tötung Osama bin Ladens habe man dies versäumt.
Breivik bekomme keine Bühne, um sich zu inszenieren. Was immer er sage: durch die Verhandlungsführung der Justizorgane werde er demontiert und auseinander genommen. „Dieser Prozess ist ein unglaublich zivilisatorischer Akt.“ Eine demokratische Gesellschaftsordnung könne eine Feinderklärung nicht annehmen.
Wohl habe sie keine adäquate Antwort auf die Feinderklärung, aber sie habe etwas viel Besseres, sie habe eine inadäquate Antwort: „nicht Rache, sondern Recht.“
Es gebe auch keine adäquate Strafe. Die 21 Jahre – die Breivik für erbärmlich hält – sei eine „inadäquate Strafe“, so die Wiener Philosophin.
Warum sie eine Kollektivtherapie per Rechtsordnung streng von der Wahrheitsfindung trennt, bleibt unerfindlich. Dient Wahrheit nicht der Linderung seelischer Schmerzen? Ist sie antitherapeutisch? Dann sollten alle Psychotherapeuten den Versuch aufgeben, die biografische Wahrheit ihrer leidenden Patienten anamnestisch zu ergründen. Dann sollte es genügen, mit ihnen Heile Heile Gänschen zu singen, ihnen Schlammbäder und Heilgymnastik zu verschreiben.
Die Berichterstattung rund um den Prozess war alles andere als eine lindernde Trauma-Therapie. Im Gegenteil, sie war genau das, was Charim ablehnt: eine feindliche Reaktion auf die Feinderklärung des Mörders.
Sicher war es nicht Auge um Auge, sonst hätte Breivik geteert, gefedert und vor aller Augen zersiebt werden müssen. Aber auf emotionaler Ebene näherte sich die Berichterstattung einer verbalen Lynchjustiz. Alles, was man nicht verstehen will und nur begeifert, ist Feindesbehandlung.
Nüchtern darstellen, begreifen und den Täter solange wegsperren, bis er keine Gefahr mehr für die Gesellschaft bedeutet – wäre das keine adäquate Reaktion einer rechtsbewussten, souveränen Gesellschaft, die es nicht nötig hat, Täteropfer erneut zu erniedrigen?
Ein Prozess darf nicht coram publico dieselben Diskriminierungen wiederholen, die die Angeklagten in ihrer Biografie erlitten haben. So werden nur Rachegefühle der Gesellschaft bedient, die nicht darüber nachdenken muss, ob nicht sie selbst auf der Anklagebank Platz nehmen müsste.
Jede Strafe ist inadäquat, weil Strafe überhaupt unangemessen ist zur Behandlung determinierter Triebtäter. Es kann nur eine einzige angemessene Reaktion auf unfreie Amokläufer geben: zum Schutz der Gesellschaft und ihrer selbst müssen sie solange weggesperrt und einer – freiwilligen – Therapie unterzogen werden, bis sie zu sich gekommen sind, ihre schrecklichen Untaten eingesehen und bereut haben – um auf der Basis der Selbsterkenntnis und Selbstkritik eine zweite Chance zu erhalten.
Auch das Recht und seine maßvolle Anwendung gehören zur Wahrheitsleistung einer Gesellschaft, die regelmäßig von einer mündigen Öffentlichkeit überprüft werden müssten.
Es ist ein Irrweg, Therapie von diagnostischer Wahrheitsfindung abzukoppeln. Die beste Therapie ist Erkennen und Verstehen der unerhörten Vorgänge aus der Sicht der Opfer, des Täters und der Gesellschaft. Der beste Prozess wäre der, der zur prophylaktischen Vorbeugung ähnlicher Delikte beitrüge.
Eine humane Polis erkennt man daran, dass sie lernfähig ist. Wie zerrüttet und seelisch gebrochen muss eine Gesellschaft sein, die von einem mustergültigen Prozess keine kathartischen Wirkungen, sondern nur blindwütige Nachahmungseffekte erwartet?
Von der Faszination des Bösen in der Kunst schreiben Literaten und Germanisten, die sich vom Guten gelangweilt fühlen. Breivik führte die Kunst ins Leben und sorgte dafür, dass wir uns eine Woche lang prächtig unterhalten fühlen. Er sollte von den Feuilletonisten aller Gazetten den Börne-Preis für angewandte Literatur erhalten.
Aus der Tagesmail vom 14. Juni 2012 – „Die Unfähigkeit zu trauern“ Tagesmail hierher verlinken
Der Veitstanz der norwegischen Psychiater, die nicht wissen, im welchem Land, auf welchem Kontinent, in welcher Geschichte sie leben, ist vorüber. Man kann Hitler & Co für wahnhaft und psychotisch erklären und sich das Hemd zerreißen vor Empörung. Wenn man aber nicht gleichzeitig die europäische Historie und einen Großteil der Europäer für krank und wahnhaft erklärt, dann sollte man die Finger von Breivik & Co lassen.
Mit einer dämlichen Kunstsprache, die ihre Abkunft von der Realität längst abgestreift hat, kann man dieselbe nicht beschreiben, nicht verstehen und nicht erklären. Der Fall Breivik ist ein Waterloo für die Psychiatrie. Das Theoriegebäude der Psychiater ähnelt einem Beinhaus, errichtet aus verknöcherten Resten längst abgestorbener Wahrnehmungen, die ihren letzten Realitätstest schon längst vergessen haben.
Man könnte auch von selbstentzündbaren Begriffen sprechen, die ein hübsches Feuerwerk entflammen, wenn man sie en gros übereinander türmt und mit jener Gesinnung entfacht, die sich selbst am meisten beweisen muss, dass sie den Übeltäter niemals verstehen wird. Aus Angst, die öffentliche Meinung könnte Verstehen als klammheimliche Kumpanei auffassen.
Nicht, dass es das nicht schon gegeben hätte. Die gerade in biblischem Alter verstorbene Margarete Mitscherlich wollte einst die psychische Motivation der RAF-Leute in Erfahrung bringen. Da war es die FAZ, die sie der Rechtfertigung des Terrors beschuldigte. Seitdem ist Verstehen in der christlichen Republik ein subkutanes Delikt, das mindestens mit Rufmord bestraft wird.
In Oslo scheinen endlich Fachleute zu Worte zu kommen, die den Fall Breivik politisch und historisch einordnen können. Hier müsste ein offizieller Streit der Fakultäten ausbrechen, den Beinhaus-Psychiatern hätte man längst die Lizenz entziehen müssen. Sie agieren wie Exorzisten, die den Teufel persönlich in der Hölle besucht und aus nächster Perspektive das wüste Treiben der gottverdammten Kreaturen erlebt haben.
Wer Berichte früherer inquisitorischer Experten – theologische Seelenkenner vom feinsten – liest, hat seltsame Déjà-vue-Erlebnisse, wenn er die Argumente der modernen Psychiater vernimmt, die den banalen Faschisten für einen nicht zurechnungsfähigen Satansbraten erklären. Mit einem klitzekleinen Unterschied: früher hieß es, je teuflischer, je schuldiger und bestrafungswürdiger. Heute heißt es: je verrückter, umso strafunwürdiger.
Doch der Schein täuscht, nichts hat sich verändert. Noch schlimmer als bestraft werden müssen, ist nicht bestraft werden können – und lebenslang hinter psychiatrischen Gittern verschwinden. Strafe ist die Ehre des Verbrechers. Weit unter dem Verbrecher steht der Verrückte, der nicht weiß, was er tat und in einer Welt lebt, die mit der unseren nichts gemein hat.
Ist er meschugge, ist er ein Fall für Experten exotischer Welten. Aus unserer Welt kann er nicht kommen, er ist ein Fremder. Mitten unter uns haust das unterirdische Fremde wie der Rattenkönig in den Gullys.
Den Massenmörder haben keine Menschen gezeugt, keine Menschen erzogen, keine Lehrer indoktriniert, keine Pastoren konfirmiert, keine Hetzblätter und keine Nazischwarten beeinflusst. Wenn schon der Holocaust akausal vom Himmel gefallen sein soll – wenn man Kunstexperten folgt -, dann kann Breivik nur dem Otto-Katalog Hinterpatagoniens entstammen.
Fremdenphobie ist keine Erfindung von Leuten in Thor Steinar-Look, in der Psychiatrie hat sie schon den Doktorhut einer Uni-Disziplin erworben. „Das Verdrängte aber ist für das Ich Ausland, inneres Ausland“, sagte Meister Freud. Wer Freud ist, wissen Psychiater heute nicht mehr, sie hantieren nur noch mit Ruhigstellern und Bettanschnallmethoden.
Fehlt nur noch eine Fraktion: die Gehirngucker. Können die noch immer nicht feststellen, ob das Zurechnungsareal im limbischen System des gottebenbildlichen Wesens die Flatter gemacht hat?
Breivik sei kein Mysterium, sondern ein Faschist, sagt ein Religionswissenschaftler. Dessen Ideen stünden in einer langen faschistischen Tradition, nur die Juden seien gegen Muslime ausgetauscht worden. Das Ganze sei ein Gebräu aus antimuslimischen und antifeministischen Elementen, aufgekocht mit White-Power-Argumenten und christlich-fundamentalistischen Ideen, wie sie auch in der Tea Party-Bewegung üblich seien.
Ein norwegischer Historiker konstatiert präzis: „Für Faschisten sind Morde keine Barbarei, sondern heilige, liebevolle Handlungen im Interesse der Nation.“ So ist es. Das Verhalten Breiviks ist Frucht vom Baum einer Religion, die bedenkenlos das Böse in den Dienst des Guten stellt, womit es zum Heiligen promovieren konnte.
Ein Philosoph erinnert an Hannah Arendts Analyse diverser Nazi-Ärzte, die am Tage die schrecklichsten Verbrechen begingen und abends glühende Liebesbriefe schrieben. Es wäre gefährlich, politischen Extremismus als psychische Erkrankung einzustufen, für die man keine Verantwortung übernehmen müsse. Von der Sorte Breivik gebe es in Norwegen etwa 1500 Menschen, in Europa mindestens eine Million.
Solche Sätze waren in keiner deutschen Gazette zu lesen. Wer noch immer die Frage stellt: wie konnte nur eine gebildete, humanistische Nation wie die deutsche solch schreckliche Verbrechen begehen, der müsste zur Strafe alle Protokolle des Breivik-Prozesses mit der Hand abschreiben. (…)
Tagesmail vom 22. Juni 2012 – „Schuld und Einsicht“ Tagesmail hierher verlinken
„Breivik schrumpft im Scheinwerferlicht“. Wenn Journalisten keine Wahrnehmungen haben, greifen sie zu Bewertungen, die wie Beobachtungen daherkommen. Das Monster schrumpft: wer hat Breivik denn zum Herrenmenschen gebläht? Sollte es einen solchen gegeben haben, müsste er genannt werden.
Zum Beobachten gehört präzises Benennen. Benennen ist nicht Denunzieren, wir leben nicht im Intrigantentstadl. Was einer geredet und getan hat, dafür muss er auf dem Forum grade stehen.
Stattdessen hören wir immer öfter, Namen wollen wir hier keine nennen. Wer nicht weiß, um wen es geht, gehört nicht zu den Eingeweihten. Die Medien vertiefen den Graben zwischen Wissenden und Unwissenden, anstatt ihn zu überbrücken. Der Prozess gegen den Massenmörder sei vorbildlich geführt worden, schreibt Annette Ramelsberger in der SZ.
Der Prozess habe sich nicht damit begnügt, Licht auf „einzelne strafbare Handlungen“ zu werfen. Er sollte die „fließende Ganzheit des Lebens“ erforschen.
In der Tat, das Außerordentliche erklärt nicht das Leben, das Leben erklärt das Außerordentliche. Wenn das so ist, ist die Frage beantwortet, ob der Täter schuldfähig ist oder psychisch krank: der Antagonismus von Schuld und Krankheit ist falsch.
A) Ist der Täter krank, muss die Gesellschaft kollektiv oder partiell krank gesprochen werden. Denn Krankheiten fallen nicht vom Himmel, sie sind auch nicht angeboren wie die Erbsünde.
Ist die Gesellschaft krank, muss sie die Schuld auf sich nehmen, indem sie den Täter zu ihrem primären Opfer erklärt, der andere Menschen zu weiteren Opfern machen muss. Dies ist der Fluch der kranken Tat, dass sie Krankes fortzeugend muss gebären. Eine kranke – oder „böse“ – Gesellschaft gebiert unaufhörlich Opfer, die Opfer machen müssen, um sich selbst vom Opfersein zu entlasten, indem sie zu Tätern werden.
Indem sie Täter sein wollen, simulieren sie ein Selbstbewusstsein, das sie sich auf „normalem und gesundem“ Wege nicht aneignen konnten. Ist Breivik primäres Opfer, muss auch ihm seine Würde zurückgegeben werden: indem man ihm die verruchte Täteraura nimmt und seine biografisch zu verstehende, aber verhängnisvolle Opferrolle zurückgibt.
Gesellschaftliche Krankheiten sind wie pandemische Viren. Alle werden befallen, die Stärksten überleben, die Schwächsten krepieren, weil sie durch ihre nächste Umgebung, Familie und Schicht nicht hinreichend immunisiert wurden. „Gesunde Familien“ können ihre Mitglieder am besten schützen, „kranke“ Familien sind selbst Opfer der krankmachenden Gesellschaft, oft über Generationen und Jahrhunderte hinweg.
Die Fragen nach Herkunft der gesellschaftlichen Krankheit müssten Historiker, Medizin- und Psychohistoriker erforschen und beantworten. Was sie natürlich nicht tun, denn Begriffe wie Normalität oder Gesundheit, abweichendes Verhalten oder Krankheit, fallen nicht in ihre Disziplin, sagen sie. Das überlassen sie Psychologen und Psychiatern – die solche Fragen auch nicht stellen, denn sie sind keine Historiker.
Sie alle sind Wissenschaftler, und Wissenschaftler sind neutrale und beobachtende Wesen, keine Bewerter und Beurteiler – sagen sie. Selbst die grausamsten Vorgänge der Geschichte entziehen sie immer mehr der Bewertung, was Fachleute Historisieren nennen. Ist es nicht sinnlos und trivial – so fragen sie –, Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverfolgungen, Ketzerverbrennungen und den Holocaust nach heutigen Moralvorstellungen zu bewerten? Solche Vorgänge müssten historisch, also aus ihrer Zeit heraus, verstanden werden.
Verstanden werden schon, aber nicht beurteilt werden. Beurteilen und Verstehen sind nicht identisch. Wer Kreuzzüge nicht aus der Perspektive heutiger Menschenrechte beurteilt, hat sie sehr wohl beurteilt: er hat sie abgesegnet. Die wissenschaftlich sein wollende Urteilsenthaltsamkeit ist eine Beurteilung, sie schließt ihren Frieden mit allen Übeln dieser Welt.
Voraussetzung der Gesundung einer Gesellschaft wäre eine allgemeine Verständigung darüber, welche Phänomene als krank und welche als gesund gelten sollen. Eine solche Selbstverständigung herbeizuführen, ist keine westliche Gesellschaft bereit, die deutsche schon gar nicht. Denn Begriffe wie Gesundheit und Krankheit erinnern an das kranke, lebensunwerte Leben, das die Nationalsozialisten im Namen völkischer Gesundheit ausrotten wollten.
Einerseits darf über Gesundheit und Krankheit im politischen Sinn nicht gesprochen werden, andererseits gelten Ausgebrannte und Übergewichtige als Risikofaktoren, weil sie Krankenkassen und Betriebe wegen mangelnder Arbeitsfähigkeit übermäßig belasten. Wer nicht fit ist wie ein Turnschuh, ist Volksschädling, pardon, so sagte man früher, der ist unverantwortlicher Schmarotzer.
Die Strafe als Selektion erfolgt prompt: die Fitten übernehmen das Kommando und kassieren ab, die Ausgebrannten, Ausgepumpten und Arbeitsunfähigen werden aussortiert. Es gibt also sehr wohl eine Kaste der Gesunden und der Kranken, allerdings unter dem Etikett der Erfolgreichen und Loser.
In der NS-Gesellschaft wurde Gesundheit auf körperlich-soldatische Tüchtigkeit reduziert, der Geist blieb Anhängsel des Leibes: in einem gesunden Körper ist auch ein gesunder Geist.
Heute lautet der Spruch: den Fitten gehört die Welt, sie sollen reich und einflussreich sein. Die Abgehängten sind noch nicht mal krank – Kranke könnten gesund werden, man müsste den Krankheitsursachen auf die Schliche kommen –, sie sind unheilbar faul oder böse. Die Faulen in Hartz4, die Bösen in den Knast.
Wenn man nicht mehr weiter weiß im Erklären gesellschaftlicher Missstände, zieht man die Notbremse und übergibt die Problemfälle dem Gott oder dem Teufel. Dann kann man von gnadenhafter Caritas und gnadenlosem Bösen sprechen.
Gott und der Teufel sind – nach Kant – das Asyl der eigenen Dummheit (asylum ignorantae). Da man nicht sagen will, wir wissen nicht mehr weiter, greift man zu metaphysischen Erklärungen. Die haben den Vorteil, dass sie nicht überprüfbar und nicht korrigierbar sind. Dann bleibt alles beim Alten.
Womit wir wieder bei Breivik gelandet wären. Wird er krank genannt, müsste die Gesellschaft sich selber schuldig sprechen. Macht sie natürlich nicht, denn seit dem aggressiven Neoliberalismus muss jeder Mensch seines eigenen Glückes Schmied sein.
Dass die Gesellschaft an allem schuld sein soll, diese Phrase der 68er kann man heute nicht mehr hören. Ist jemand schuldig geworden, ist er es geworden, weil er es werden wollte. Eine weitere Warumfrage ist nicht mehr gestattet. Man käme dann auf den Satz, er ist böse geworden, weil er böse geworden ist. Böse sein könne man nicht erklären.
Für Fragen, die theoretisch unerklärbar sind, hat man eine praktische Lösung gefunden: man steckt sie in den Knast oder in die Psychiatrie. Warum über das Oder so viel Aufhebens gemacht wird, ist unverständlich, denn beide Institutionen sind dasselbe. Im Knast ist man inkorrigibel böse, in der Psychiatrie inkorrigibel krank. An eine Gesundung im moralischen oder psychischen Sinn glaubt heute niemand mehr.
Die sozialtherapeutischen Anstalten wurden einstmals gegründet, um jugendlichen Straftätern eine Therapie anzubieten und ihnen eine Chance zu geben, ihre kriminellen Taten zu verstehen und geläutert ein neues Leben zu beginnen.
Die Reformpsychiatrie wurde einstmals ins Leben gerufen, um Kranken eine Chance zu geben, sich selbst besser zu verstehen, um in Wohngemeinschaften ein relativ normales Leben zu beginnen.
Beide Vorhaben sind eingestampft. Dafür wurden viele neue Knäste gebaut, zum Teil privatisiert, damit bestimmte Leute daran verdienen. Psychisch Kranke wurden mit Pillen zugeschüttet, damit die Pharmaindustrie nicht am Krückstock geht.
B) Ist der Täter krank, kann er nicht schuldfähig sein. Obgleich man heute für seine Krankheit selbst zuständig sein soll. Es hängt also vom Grad der Krankheit ab, ob man in bestimmter Hinsicht noch Herr seiner selbst ist oder nicht.
Der Begriff schuldfähig ist nur sinnvoll, wenn ich die Freiheit hatte, zwischen Böse und Gut zu entscheiden. Aus welchen Gründen sollte ein normaler Mensch sich für das Böse entscheiden? Es gibt keine Gründe – außer einem: er ist grundlos böse. Womit wir wieder bei der Erbsünde und einer Gesellschaft unter dem Diktat des christlichen Credos wären. Schuldfähig sein, heißt sündfähig sein.
Unser Rechtsdenken steht noch immer unter der Kuratel eines dogmatischen Dualismus. Böse ist, wer unter Einfluss des Teufels steht, gut, wer sich Gott unterwirft. Die Bösen werden schon hienieden bestraft, sie wandern in den Knast, in die Psychiatrien, in milderen Fällen in die Unterschicht. Die Guten werden schon hienieden belohnt, sie werden erfolgreich, klug, mächtig und reich. Im christlichen Westen werden Himmel und Hölle auf Erden vorweggenommen und als unüberbrückbare Gesellschaftsschichten realisiert.
Wir sind noch nicht am Ende der Verwirrung. Wer menschliche Dinge menschlich behandelt, müsste auf das Böse, auf Schuld und Sühne im theologischen Sinne verzichten und sagen: der Kriminelle ist krank, er ist unser aller Opfer. Wir, die ordentliche, bürgerliche Gesellschaft, müssen uns verändern, um unsere Kinder nicht weiterhin zu unseren Opfern zu machen – um uns zu entlasten.
Wir sind stark, weil wir unsere Kinder schwach machen. Die bürgerliche Gesellschaft ist deshalb so stark, weil sie Unterschichten, Kriminelle und Kranke produziert, die sie ausschließt und abschiebt, um ihre eigenen Schwächen und Krankheitskeime zu verleugnen und sie von jenen ausbrüten zu lassen. Sie organisiert sich als Klasse der Gesunden und Tüchtigen, weil sie die Macht hat, eine Klasse aus Kranken und Versagern zu produzieren.
Man kann nicht folgenlos jahrhundertelang an Gute und Böse glauben, ohne Gute und Böse zu produzieren. Das ist das ursprüngliche Zweiklassenmodell jeder christlichen Gesellschaft: die Guten, die auch die Erfolgreichen sind, denn Gottes wohlwollendes Auge ruht auf ihnen – und die Bösen, die die Schwachen sind, denn sie müssen auch das Böse der Guten mittragen, das die Guten verleugnen, denn sie wollen perfekte Gute sein.
Breivik gehört zu den Schwachen, die dem Angriff der kranken Gesellschaftsviren am meisten ausgesetzt waren und am wenigsten die Chance hatten, sich gegen sie zu schützen. Warum gerade er? Diese Frage könnten wir nur beantworten, wenn wir seine biografische Situation kennen würden.
Nun kommen die Experten und erklären ihn für krank. Ist das nicht sinnvoll? Das wäre sinnvoll, wenn die Art der Krankheit kein absurdes Gebilde wäre, das mit der Gesellschaft nichts zu tun hat. Die Krankmeldung ist richtig, die Krankheitsbeschreibung aber ein Konstrukt, das nicht von dieser Welt ist. Das wäre, als erklärte man normalen Husten mit der Invasion unsichtbarer Aliens.
Genau genommen ist die Gattung psychiatrischer Krankheiten eine pseudotheologische: man erfindet Kunstwörter und erklärt nichts mit ihnen. Erklärt man nichts, bleibt das Übel – das unverstandene Böse. Womit wir erneut auf der Kanzel wären. Psychiater sind Kanzelprediger mit verquaster quasimedizinischer Terminologie.
Kranksein müsste als Produkt der Gesellschaft kenntlich gemacht werden. Die Frucht kann nicht anders sein als der Baum, an dem sie gewachsen ist. Hier hat unser Herr und Heiland ausnahmsweise Recht: ein guter Baum bringt gute Früchte, ein fauler schlechte. Mit seiner Naturmetapher aber widerspricht er seiner sonstigen Ideologie: Bäume mit angeborener Erbsünde sind normalen Gärtnern unbekannt.
Breivik ist krank, also schuldunfähig: das war das erste Gutachten der norwegischen Psychiater. Ab in die Psychiatrie. Kommt das zweite Gutachten: Breivik ist nicht krank, also schuldfähig – ab in den Knast.
Warum schuldfähig? Weil seine Taten nur erklärbar seien, wenn man sie aus den bekannten Ideologien der europäischen Gesellschaft ableitet: dem Neonazitum, der Fremdenfeindlichkeit, dem Hass auf Muslime. Ist letzteres nicht sinnvoll? Das wäre sinnvoll, wenn mit der Ableitung nicht die falsche Folgerung verbunden wäre: der Täter ist nicht krank, also schuldfähig.
Hier wird ein Begriff von Willensfreiheit unterlegt, der nur den Fieberträumen Augustins entstammen kann. Kein Jugendlicher ist so frei, dass er nach Belieben die Prägungen seiner Familie, Schule, Gesellschaft wegstecken und ein ganz anderer Mensch sein könnte.
Je rigider oder unglücklicher die Umstände des Heranwachsens, je unfreier wird der Mensch, sodass er selbst als Erwachsener fast keine Chance mehr hat, sich von den Faktoren seiner frühkindlichen Prägungen zu lösen.
Auch hier gilt: wer frei erzogen wurde, hat die meisten Chancen, sich frei für seine Prägungen zu entscheiden oder nicht. Ist er tatsächlich frei, muss er sich gegen seine erlebte Freiheit gar nicht entscheiden. Wer hier privilegiert aufwuchs, wird privilegiert bleiben. Wer hingegen als Kind das Vorrecht der Freiheit nicht erlebte, wird als Erwachsener Schwierigkeiten haben, seine Freiheit zu erobern.
Wer hat, dem wird gegeben. Dieses fürchterliche Gesetz kann nur durchbrochen werden durch unermüdliche Aufklärung und psychische Bildung aller Schichten.
Breivik ist ein Produkt der Gesellschaft. Doch nicht freiwillig. Er wuchs auf einem Baum, der ihn mit Giften infiltrierte und ihn zwang, zur vergifteten Frucht zu werden.
Resümee. Die ersten Gutachter zogen die richtige Schlussfolgerung aus falschen Inhalten. Die zweiten zogen aus richtigen Inhalten eine falsche Schlussfolgerung.
Der Karren ist völlig verfahren, weil die ganze Rechtsterminologie mit einer absurden theologischen Willensfreiheit kontaminiert ist, die ursprünglich nur eingeführt wurde, um Gott, den allmächtigen Schöpfer zu entlasten und die ohnmächtige Kreatur für ihr Geschaffensein irreparabel zu belasten. Damit sollte ein für alle Mal die Frage nach dem Ursprung des Bösen beantwortet werden. Das Böse entstand, weil das Geschöpf just for fun das Böse erfand, um Gott zu ärgern und zu provozieren.
Übersetzen wir die Theologensprache in die juristische Sprache der Gegenwart, so erhalten wir: die Eltern, Lehrer, Vorgesetzten, Eliten sind immer unschuldig, die Kleinen und Abhängigen immer schuldig. Die Autoritäten geben ihre Fehler und Schwächen nie zu und entlasten sich, indem sie ihre verdrängten Defizite an ihren Nachwuchs weitergeben.
Das heilige Kind soll die Erwachsenen erlösen. Wenn es unter der Last zusammenbricht, gehört ihm nichts Besseres als eine kriminelle und psychotische Laufbahn in Knast und Psychiatrie. Ob wir das Ganze krank nennen oder nicht, ist unwesentlich geworden.
Breivik ist ein typisch überfordertes heiliges Kind, das die Erlösung der Gesellschaft als ihre Zerstörung inszenieren musste. Er ist alles andere als ein Idiot. Vermutlich ist er brillanter, feinfühliger und hilfswilliger als viele seiner Generation. Er entwickelte das unwiderstehliche Bedürfnis, der Gesellschaft zu helfen, indem er ihr einen fürchterlichen Spiegel vor Augen hielt. Seht, so seid ihr, wie ich euch zeigen muss: ihr verratet eure eigenen Prinzipien, ihr heuchelt, dass sich die Balken biegen.
Angeblich seid ihr für das Gute und gegen das Böse. Wie könnt ihr dann die Bösen zulassen und ihnen schmeicheln, wenn sie euch hinterrücks zerstören wollen? Da ihr zu schwach seid, eure Prinzipien zu vertreten, muss ich für euch die Fremden und Bösartigen vertilgen.
Ihr habt mir beigebracht, das Gute zu tun, indem man das Böse vernichtet. Genau das tat ich. Anstatt dankbar zu sein, verflucht ihr mich. Ununterbrochen hörte ich euch beten, dass ihr einen Erlöser braucht, allein könntet ihr eure Probleme nicht lösen. Nichts anderes tat ich, als euerm Erlöser nachzueifern. Wer die Welt liebt und sie erlösen will, muss sie zerstören.
Ist Breivik nur eine determinierte Maschine? Nein, doch seine Schuldfähigkeit muss er erst noch lernen. Hätte eine Gesellschaft humane Gefängnisse und Psychiatrien, wäre es gleichgültig, wo er es lernte. So ist es gleichgültig, wo er es nicht lernen wird.
Am 24. August 2012 wird Breivik zu 21 Jahren Haft verurteilt – und als zurechnungsfähig eingestuft.
Im Oktober 2012 erscheint ein neues Buch zu Breivik:
„Eine norwegische Tragödie“ („En norsk tragedie“, Verlag: Gyldendal, 368 Seiten) von Aage Storm Borchgrevink
Darin deckt er Seiten aus Breiviks frühester Kindheit auf, die auch im Prozess aus Rücksicht auf die Mutter unausgesprochen blieben.
Aus der Tagesmail vom 06. Oktober 2012 – „Egalisierende Bildung“ Tagesmail hierher verlinken
… Ein schreckliches Spitzenprodukt europäischer Pädagogik ist Anders Breivik. Jetzt erst kommt ans Tageslicht, in welchem Maß seine Mutter ihn zum Monstrum erzog. Hätte die Öffentlichkeit gewusst, dass der – vom Vater verlassene – Knabe von seiner Mutter mit Tod und Sexualität terrorisiert wurde, hätte sie ihn nicht zu einer Ausgeburt der Hölle machen müssen.
Schon früh flehte die Mutter bei den Behörden um Hilfe, weil sie fürchtete, mit der Erziehung ihres Sohnes zu scheitern. Während eines dreiwöchigen Aufenthalts in einem kinderpsychologischen Heim fiel den Psychologen das merkwürdige Verhalten der Mutter auf. In den Berichten hieß es, dass die Mutter ihrem kleinen Jungen immer wieder den Tod wünschte und ihn gleichzeitig – wie genau, weiß man nicht – mit ihrer Sexualität konfrontierte.
Die Mutter war von aggressiven und sexuellen Obsessionen geprägt, die sich mit depressiven Zuständen abwechselten. „Sie kann zuckersüß mit ihm reden und ihm im nächsten Moment offen den Tod wünschen.“
Ein norwegischer Autor, der die Familiengeschichte recherchierte und jetzt der Öffentlichkeit vorgelegt hat, meinte, möglicherweise wäre die Tragödie zu verhindern gewesen, wenn das Jugendamt frühzeitig eingeschritten wäre.
Aus Rücksicht auf die Mutter wurden diese Fakten vor Gericht nicht erwähnt. Kein Ruhmesblatt für das Gerichtsverfahren.
(Ein neues Buch über den Massenmörder Breivik stellt Ingrid Raagaard in der BILD vor.)
Ein Opfer brauchte Opfer, um sich von den Unerträglichkeiten seiner gepeinigten Kinderseele zu entlasten. Für jeden Todeswunsch seiner Mutter, den er sich anhören musste, sollte später ein unschuldiger Mensch sterben.
Die Erwachsenen einer rundum tüchtigen neoliberalen Gesellschaft wollen am Elend ihrer Kinder nicht mehr schuldig sein. Deshalb haben sie die Erkenntnisse über das Werden eines Menschen als „unglückliche Kindheitsstory“ verhöhnt.
Nicht Eltern oder Gesellschaft sind schuld an den Taten ihrer Jugendlichen, es sind sie selbst, die – niemand weiß warum – aus Jux sich zum Bösen entscheiden. Die Mär vom freien Willen hat im christlichen Europa einen religiösen Rang erhalten. Im alten China wurden die Eltern für die Untaten ihrer Kinder bestraft.
War Breivik also unzurechnungsfähig, weil er Opfer seiner Erziehung war? Niemand ist zuständig für die Umstände seiner zufälligen Geworfenheit. Hat er nicht das Glück, Selbstbestimmung zu lernen, bleibt er der Getriebene einer beschädigten und krankhaften Umgebung. Die einzige sinnvolle Frage ist: welche Faktoren seiner erlittenen Erziehung machten Breivik zu einem Massenmörder?
Diese Fragen wurden offenbar vor Gericht nicht gestellt. Sollte das Buch Recht haben mit seinen neuen Erkenntnissen, müsste es zur Bankrotterklärung einer ehrbaren Wissenschaft führen: der Gerichtspsychiatrie.
Haben die Psychiater es nicht für nötig gehalten, solide Anamnesen zu erheben? Haben sie die Akten des Jugendamtes nicht gelesen, sich nicht mit der Mutter beschäftigt?
Sie begnügten sich mit psychiatrischer Notengebung und bodenlosen Spekulationen über Unzurechnungs- oder Zurechnungsfähigkeit. Dabei haben sie einfachste Fragen nicht gestellt. Waren außerstande, den Hauch einer Erklärung zur Genese der Untat zu liefern.
Offensichtlich hat die Psychiatrie sich entschieden, nicht länger zu den verstehenden Schwatzwissenschaften zu gehören, sondern zu den knallharten, empirisch überprüfbaren Naturwissenschaften.
Mit dem Fall Breivik haben sie sich als Disziplin entlarvt, die „fälschlicherweise vorgibt, ein bestimmtes Wissen zu besitzen.“ Das war die amtliche Definition von Scharlatanerie.