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Das Unbewusste

Hello, Freunde des Unbewussten,

wenn Pegida eine echte Bewegung ist, stammt sie aus dem Bauch der Republik oder dem nationalen Unbewussten. Im Unbewussten schlummert und gärt alles, was verboten ist. Im ES herrscht keine Ordnung, weshalb seine Botschaften widersprüchlich, bizarr und verworren sind.

Das Bewusstsein spricht von irrationalen Botschaften, weil es sich selbst für rational hält. Wäre das Bewusstsein wirklich rational, woher die unendlichen Ungereimtheiten und Gegensätze in der Tagespolitik, die auf ihre Vernunft so stolz ist?

Gegen irrationale Ungereimtheiten käme die Stimme der Vernunft nicht an, erklären Politiker und Schreiber unisono. Gespräche mit triebgesteuerten Wirrköpfen seien sinnlos und vergeblich. Hier hülfe nur die Polizei.

Ganz langsam und nicht hyperventilieren: die Polizei kann Gesetzesverstöße ahnden, mit dem kollektiven Unbewussten kann sie nicht umgehen. Der deutschlandweit aufbrechende Konflikt hat mehrere Ebenen, die juristische ist nur eine davon.

Ist Gabriel nach Dresden geeilt, um mit den „hasserfüllten, peinlichen“ Elementen – in ihren Kneipen, auf der Straße, wo immer sie sich treffen – zu streiten? Ihnen Fragen zu stellen? Sie unter die Lupe zu nehmen? Ihnen Rede und Antwort zu stehen? Seine Politik vor dem räudigen Volk zu verantworten?

Merkel, Liebling der Deutschen, Volksflüsterin und Pöbelversteherin, missbraucht das nächste Mikrofon, um – weit entfernt von den Dünsten der Volksbewegten – ihre Ferndiagnosen zu ventilieren, die weder Diagnosen noch Therapievorschläge sind, sondern Fern-Schmähungen, Verwünschungen aus sicherer Distanz, Selbstreinigungsakte: Ich, Mutter der Nation, wasche, wie immer, meine

Hände in Unschuld.

Sie kann fernzürnen wie sie will, die viele Jahrhunderte lang durchgeprügelten Untertanen lieben sie heiß und innig. In einem Volk, wo Liebe sich auf Hiebe reimt, fühlen sich Loser akzeptiert, wenn sie vorgeführt und niedergemacht werden.

Zwei Populationen haben sich zusammengetan, um es den „Besten und Mächtigsten“ zu zeigen: a) Ossiländer wollen sich von Westschranzen nicht mehr länger die Butter vom Brot nehmen lassen, und b) gedemütigte Hartz-4-Klassen haben es satt, sich von herrschenden Klassen als unnütze Fresser und Faulenzer beschimpfen zu lassen.

a) Bei der Wiedervereinigung hat der Westen den Osten ruckzuck über die kapitalistische Theke gezogen. Die vom Grundgesetz vorgeschriebene Abstimmung über eine gemeinsame Verfassung fand nicht statt. Was der Osten wollte, war den Westpatriarchen gleichgültig.

Nun meldet sich der kolonisierte „Raum im Osten“ zurück, mit der Parole von damals: „Wir sind das Volk“ und dem neuen Selbstbewusstsein, die Machenschaften der Ausbeuterklassen aus eigener Anschauung wahrgenommen zu haben. Sie brauchen keine sozialistischen Kampfformeln mehr, um in intimer Kenntnis der westlichen Plutokratie ihre – zu Unrecht vergrabenen – Forderungen nach einem Leben in Gerechtigkeit und Solidarität durch trotzigen Redestreik und schreiende Stummheit in die Welt zu posaunen.

Sie haben lange genug zugeschaut, das neue System in Heißhunger adoptiert und in argwöhnischem Missvergnügen beobachtet. Sie fühlen sich fit, um die westlichen Kalten-Krieg-Gewinner mit deren eigenen Waffen zu schlagen:

Eure tollen und freien Medien, ja? Könnt ihr zurück haben, die sind ja tatsächlich von Klasseninteressen gelenkt. Eure demokratische Gleichheit vor dem Gesetz, ja? Geschenkt, die Kleinen werden gedemütigt – das hat der Sozialismus richtig gesehen – die Großen bestimmen das Geschehen. Eure christliche Humanität, ja? Mit Dank zurück, wenn eure Nächstenliebe nicht mal reicht, den Schwachen im eigenen Lande zu helfen. Eure weltumspannende Fernstenliebe, die von der globalen Menschheit predigt, ja? Danke, nein: ihr seid ja nicht mal fähig, eigenen Leuten ein menschenwürdiges Leben zu bieten. Euer westlicher Kapitalismus ist ein Lügengespinst und eine Schlangengrube.

b) Ausgerechnet die SPD, die Proletenpartei, hat die Schwachen noch mehr geschwächt, um die Starken noch stärker zu machen:

Der Markt richtet alles? Aber sicher, besonders wenn der ungeliebte Staat alles unternimmt, um die Profitrate der Starken auf Kosten der Ohnmächtigen in die Höhe zu treiben. Deutschland steht im Wettbewerb mit der Welt, wir müssen besonders unsere Alphabullen und Leithengste hüten und pflegen, damit sie im Rennen aller gegen alle eine Chance haben. Bleibt leider nichts mehr übrig für die Vielzuvielen. Wer hat, der muss alles haben, wer aber nichts hat, dem muss genommen werden, was er hat. Christliche Politik wie aus dem Bilderbuch.

Selig die Armen, stimmt‘s? Dann kann es gar nicht genug Arme geben, die das Reich der Himmel erben. Schröder war der genialste Armen-Vermehrer der Republik seit Kriegsende. Der Markt wird’s richten, gell? Da wird er wohl mit Nachnamen Schröder heißen.

Was ist das Geheimnis eurer unbesiegbaren Ökonomie? Der Staat hält sich raus, solange der Reibach fließt. Und wenn er nicht mehr fließt, sorgt der Staat dafür, dass er wieder zu fließen beginnt – direkt in die Hände der Tycoons. Fliegt das ganze System in beabsichtigter Regelmäßigkeit in die Luft, wer bezahlt? Das Volk. Dafür wird es regelmäßig beschimpft, weil es von Natur aus träge ist und von Wirtschaft nichts versteht. Das bisschen Verdienen in Normalzeiten ist doch nichts gegen die Riesenhappen, die man in Krisenzeiten abgreifen kann, stimmt‘s, ihr Oberschlauen?

Habt ihr gedacht, mit uns Dummköpfen könnt ihr‘s machen? Uns könnt ihr unendlich Sand in die Augen streuen: ist doch die Meute sowas von geduldig, mit der kann man machen, was man will? Da habt ihr euch in den Finger geschnitten. Die Schmerzgrenze ist erreicht. Ab jetzt geigen wir euch die Meinung. Glaubt ja nicht, dass ihr uns mit uralten Tricks einlullen könnt. Die wollen doch nur ins Fernsehen, denkt ihr, die machen sich nur wichtig, die wollen bei Illner nur schrille Phrasen abdrücken. Also gebt ihnen doch die Leckerlis, dann halten sie die Klappe, stimmt‘s, ihr Oberschlaumeier?

Als in der frühen Industrialisierung die Verachtung der Massen begann, wurde das Unbewusste entdeckt. Was das ES für den gebildeten Mann, war der Pöbel für die ganze Gesellschaft. Das ES war das innere Ausland für den gebildeten und hochkulturierten Mitteleuropäer. Alles, was nicht rationell, effektiv, fortschrittstauglich und plusmacherisch war, wurde aus dem ICH ins ES verschoben.

Im ES saß der faule Neger aus Afrika, das dumme Eheweib am Herd und das unerzogene Balg im Kinderzimmer.

Das ICH war das Bewusstsein des welterobernden weißen Mannes. Was er ablehnte, verbannte er in den Keller seines Unbewussten. Das Unbewusste ist das Reservoir alles Unerwünschten, Verbotenen – und Selberdenkenden.

Selber denken – so spricht das ÜBER-ICH, die Stimme aller Popen, Päpste und Patriarchen – ist Gift für den Erwerb der Seligkeit und des Reichtums auf Erden. Gewissen nannten es die Schlaumeier – das Mit-wissen. In allem Tun sollte man mit-wissen und mit-bedenken, dass das Richtige und Gute auch die Stimme des Himmels ist. Gewissen ist Mitwisserschaft mit dem Himmel. Nicht ICH muss etwas für richtig halten, sondern das ÜBER-ICH der unfehlbaren Stimmen aus dem Jenseits.

Aber hallo, auch das ÜBER-ICH ist unbewusst. Wer weiß denn schon, von welchen Superaugen er beäugt, bewertet und verurteilt wird? Die meisten glauben, unabhängig und aufgeklärt zu sein. (Nur Meister Scobel, theologischer Entertainer von „Kulturzeit“, hält die ganze Aufklärung für gescheitert. Jetzt komme unweigerlich die Große Depression. O weh, oh Graus! Hilft nur die Rückkehr zum katholischen Glauben, stimmt‘s, Meister Scobel?)

So kann man sich täuschen. Wie kann man aufgeklärt sein, wenn man das „christliche Abendland“ für notwendig hält? Braucht die Welt ein christliches Abendland, um ununterbrochen Keile zwischen Christen und Nichtchristen zu treiben?

Wie lange stand die Türkei vor der abendländischen Tür und machte Bücklinge, um ins Allerheiligste gelassen zu werden? Nö, sagte selbst der „sozialkritische“ Historiker Wehler, ihr seid nicht abendländisch genug. Jetzt wundern sich die Abendländer, dass der stolze Neu-Osmane Erdogan sich vom Okzident ab- und dem Orient zuwendet.

Bei Putin nicht anders. Nur eine Regionalmacht, höhnt der Oberchrist im Weißen Haus über Russland und unterlässt nichts, um dem Kläffer im Kreml die Kehle zuzudrücken. Und dieser Narr tut genau den Irrsinn, den man von ihm erwartet.

Alles, was der Westen tut, hat keinen anderen Sinn, als den Nichtwesten klein zu halten. Nur nebenbei: welchen geheimen Zweck haben TTIP, CETA und der geplante Wirtschaftsvertrag der USA mit Japan? Sie alle sollen China isolieren, einkreisen und daran hindern, zur Weltmacht Nummer eins zu werden. Sagte wer? Ein unbedachter amerikanischer Unterhändler, der auf einer Konferenz von der Wirtschafts-NATO sprach. Postsozialistische, konfuzianische Neureiche sollen die Erde beherrschen? Undenkbar!

Das Unbewusste ist das Reservoir und die Mülltonne aller Gedanken, Gefühle, Begehrlichkeiten, Sieges- und Todeswünsche, die vom ÜBER-ICH verboten sind. Nun treiben sie unkontrolliert in den Abwasserkanälen der Hochkulturen.

Nun die entscheidende Frage: wie kann die Menschheit sich weiter entwickeln? Welch ungebetenen Rat können wir der Evolution geben, damit sie uns zu neuen Menschen macht?

Evolution, du musst die Gullys öffnen. Das Unbewusste der Menschheit drängt an die frische Luft. Wo ES war, soll ICH werden. Das ist Aufklärung, die den Menschen vorwärts bringt. Erkenne dich selbst, du Wahnsinniger. Geh in dich, betrachte dich im Spiegel deiner Nachbarn, Gegner und Feinde. Sie wissen mehr über dich, als du denkst.

Nicht Reichtum, nicht Macht, nicht Erfolg macht den Menschen zum Menschen. Sondern – pardon für die alten Begriffe – Selbstbesinnung. Selbstwahrnehmung. Selbsterkenntnis. Selbst. Selbst heißt Autonomie. Keine oberen und unteren Mächte haben das Schicksal des Menschen zu bestimmen. Nur er – selbst.

Solange der Abendländer Energie verschleudern muss, um das Unbewusste zu versiegeln, solange wird er auf der Stelle treten. Sein böses Erbe, das er verdrängt, müsste er bewusst zur Kenntnis nehmen, damit er es bearbeiten kann.

Ist denn der Mensch böse? Nicht im theologischen Sinn, dass er von einem unbesiegbaren Teufel besessen wäre. Aber im Sinn schlimmer Erfahrungen, die fortzeugend Böses gebären müssen, um sich für die schlimmen Erfahrungen an der Welt zu rächen.

Ist es nicht brandgefährlich, wenn die Schleusen des Bösen geöffnet werden? Auf jeden Fall. Wer sich seinem Bösen-ICH stellt, ist nicht sofort fähig, seine schlimmen Erfahrungen in Erkenntnisse zu sublimieren, damit das Böse nicht zur Tat werden kann. Wer zum ersten Mal Aggressionen und Todeswünsche in seinem Unbewussten entdeckt, gerät in ungemütliches Fahrwasser. Er braucht viel Zeit, um sich mit seinem Anti-ICH auszusöhnen und die Quellen seines Hasses auszutrocknen.

Im Abendland regiert eine Religion des Hasses auf die Welt, der Rache gegen alle, die mir meinen Platz im Himmel abspenstig machen. „Habt große Träume“, predigt der nächste Präsidentschafts-Kandidat aus dem Hause Bush seinem Publikum. Ein Traum ist keine politische Vision, er ist die schamhafte Umschreibung für vorgeschriebenen Seligkeitsegoismus. Ich – und niemand aus meiner Familie. Ich – und keiner meiner Freunde. Ich – und keiner meiner Rivalen und Konkurrenten.

Nicht zu leugnen, dass Pegida irrationale und gefährliche Triebregungen des völkischen Unbewussten als politische Forderungen vorträgt. Müsste die Bewegung nicht verboten werden? Sofern sie konkret Verbotenes fordert, muss man die Polizei auf sie hetzen. Sofern sie nur ihr Unbewusstes lüftet, muss man dies, jaja doch, als Fortschritt betrachten. Wenngleich verbunden mit der Aufforderung, das Irrationale ins Rationale zu verwandeln.

Der Fortschritt des Menschen ins Bewusste ist kein Spaziergang. Es ist die mühsamste Arbeit, die der Mensch in seinem Leben leisten kann. Aber auch die menschlichste. Auf jeden Fall die notwendigste. Einfacher geht’s nicht mit der Evolution des Menschen – die es gar nicht gibt, es sei, der Mensch wird selbst zum Motor seiner Entwicklung, zum Autor seines vernünftigen ICH.

Ist Vernunft nicht deplaziert, wenn es um Bekämpfung des unvernünftigen Unbewussten geht? Kann man eine amoklaufende Masse mit rationalen Gründen zur Raison bringen? Man muss es versuchen, wir haben keine andere Wahl.

Vernunft ist keine emotionslose und abstrakte Maschine, abgetrennt vom Rest des sündigen Leibes, auf den sie keinen Einfluss hat. Vernunft ist die Ordnungsinstanz der Gefühle, keine kalte und isolierte Rechenzentrale. Vernunft kennt Gefühle besser als diese sich selbst, sie musste sie verstehen und durchdenken. Vernunft ist das innigste Gefühl, geboren aus leidenschaftlichster Erkenntnis.

Das ICH der Vernunft duldet kein nebliges und gefährliches ES, bekämpft die Forderungen eines menschenfeindlichen ÜBER-ICHs, das sich anmaßt, im Namen von Göttern und Schicksalsmächten den Menschen zur Marionette zu erniedrigen. Wo ES und ÜBER-ICH waren, da soll ICH werden.

Das ICH des bewussten Menschen ist nicht das Ego des eigensüchtigen Autisten. Es sucht den Zusammenhang mit dem WIR, mit dem es in Frieden zusammenleben will. Ohne allgemeine Vision geht es nicht – mit egoistischen Träumen geht es auf keinen Fall.

Wo ES und ÜBER-ICH waren, soll ICH werden: das ist eine Vision. Die Vision des vernünftig gewordenen Menschen.

Kein Getümmel, Athener. Wollt ihr lieber in Unvernunft verrecken als den Versuch zu unternehmen, eure Gefühle der Prüfung eurer Vernunft vorzulegen, der conditio sine qua non des Einklangs mit der Natur?

Das ungelüftete ES ist Index unserer Naturfeindschaft. Nur wenn wir mit uns selbst in Einklang kommen, kommen wir in Einklang mit der Natur. Denn wir sind selbst Natur – und sonst gar nichts.

Natur könne ihn nichts lehren, sagte Sokrates. Woraus alle schlossen, dass er kein Freund der Natur war. Das Gegenteil ist der Fall. Erst musste er seine eigene Natur erkennen, um herauszubekommen, wer er sei. Äußere Natur kann uns nicht sagen, wer wir sind. Haben wir aber unsere innere Natur erblickt, erkennen wir den Zusammenhang mit der äußeren.

Haben wir erkannt, dass alle Lebewesen Geschöpfe der Natur sind, werden wir unfähig, sie auszurotten, nur, damit wir überleben können. Nur als Geschöpfe eines übernatürlichen und naturfeindlichen Gottes sind wir genötigt, die Natur zu zerstören, damit wir von Gott begnadigt werden.

Wer sein ES ignoriert, weiß nichts über sich. Wenn die Menschheit ihre Abgründe erkennen will, muss sie ihr ES zu Bewusstsein bringen. Selbsterkenntnis ist nichts als Bewusstmachen des Dunklen und Angsterregenden in uns.

Die schrecklichen Verbrechen der Menschheit wären unmöglich gewesen, wenn sie nicht ihr Unbewusstes ignoriert hätte. Sie starrte nur auf ihre bewussten guten Absichten und fühlte sich berechtigt, ihre Taten als Folgen ihrer wohlwollenden Gesinnung zu betrachten. Sie wollte nicht sehen, dass unsere besten Absichten durch Machenschaften unseres Unbewussten ins Gegenteil verkehrt werden können.

Mein ICH sagt; ich liebe meinen Nächsten. Mein ES sagt: mach ihm den Kopf runter, dem Halunken. Also mach ich ihm den Kopf runter – und glaube, ihn geliebt zu haben. Das ist das Motto der Inquisition und aller Kreuzzügler bis zum heutigen Tag. Besser tot ins Himmelreich als lebendig in die Hölle. Wir haben die Juden ermordet – und sind doch anständig geblieben. Wir töten, was wir lieben.

Hat der Mensch im Verlauf seiner Geschichte nicht schon genug über sich erfahren? Kann es noch schlimmere Untaten geben, als die, die er schon viele Male begangen hat? Kann er weiser werden als alle Völker, die im Einklang mit der Natur lebten? Hat er nicht alle Tugenden und Untugenden des Menschseins in allen Variationen erprobt und durchlebt? Gibt es irgendetwas, das ihm unbekannt wäre? Müssten wir nicht allmählich Bilanz ziehen und sagen: unsere ganze Geschichte in Verbrechen und Humanität, Versuch und Irrtum: das sind wir.

Grundsätzlich Neues kann es nicht mehr geben. Wir haben den Kreis unserer Möglichkeiten abgeschritten. Technische Neuerungen sind nur Ablenkungsversuche von der Einsicht, dass wir nicht mehr das unbekannte Tier sind. Wir haben uns gezeigt, die Natur hat uns kennen gelernt. Was also soll noch kommen?

Wer auf den Mars will, um Neues zu erleben, wird nur dem alten Adam begegnen, der den Mars ruinieren muss, um die nächste Illusion anzusteuern. Alle Muster des Menschlichen, vom Besten bis zum Schlimmsten, liegen in Hülle und Fülle vor. Worauf warten wir?

Stellen wir uns nicht dümmer als wir sind. Die ganze Bandbreite des Humanen liegt in unseren Museen und Bibliotheken vor, wir müssen sie nur zur Kenntnis nehmen. Gegen alle neocalvinistische Gehirnforschung: wir können wählen, wir haben einen autonomen Willen.

Im Griechentum war die Bandbreite des Menschlichen nicht so unendlich wie in der Religion. Dort konnte der Mensch heilig werden wie Gott und böse wie der Teufel. Der Grieche blieb – im Guten und im Schlechten – menschlich. In der Erlöserreligion dehnte sich das Band der Möglichkeiten ins negative und positive Unbegrenzte.

Seine Taten konnte Gott bewundern: siehe, alles war sehr gut. Dennoch war er fähig, seine Werke zu verfluchen, weil sie misslungen waren. Die Schuld suchte der Schöpfer nicht bei sich selbst, sondern bei seinem ohnmächtigen Geschöpf: „Da reute es den Herrn, dass er den Menschen geschaffen hatte und er sprach: ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, die Menschen sowohl wie das Vieh, denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe.“

Die Vernichtung schob er ein wenig auf, doch am Ende der Geschichte wird er sie gründlich nachholen. Die Malaise seiner missglückten Schöpfung aber wird er nie völlig überwinden. Am Ende wird die Mehrheit seiner Geschöpfe ins höllische Feuer wandern, nur eine winzige Minderheit wird es in den Schoß Abrahams schaffen.

Die Vernichtungswut des christlichen Gottes hat Goethe seinem Faust einverleibt:

„Weh! weh!
Du hast sie zerstört
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust;
Sie stürzt, sie zerfällt!
Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
Wir tragen
Die Trümmern ins Nichts hinüber,
Und klagen
Über die verlorne Schöne.

Das Drüben kann mich wenig kümmern,

Schlägst du erst diese Welt zu Trümmern.“

Goethe bemühte sich, das Böse des Menschen nicht zu verniedlichen. Dennoch idealisierte er die Brisanz des Entsetzlichen, indem er Mephisto zum Motor des unbewussten guten Drangs des irrenden und suchenden Menschen machte: Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Die Deutschen folgten ihm und fühlten sich unverwundbar: auch wenn sie Böses taten, blieben sie immer gut und anständig. Sie starrten auf ihre edlen Absichten – die Erde von den bösen Juden zu befreien – und wollten nicht sehen, zu welchen Untaten sie von ihrem mephistophelischen Unbewussten getrieben wurden.

Deutsche Bewegungen, in denen sich das kollektive Unbewusste einer verbrecherischen Nation zu Worte meldet, mögen noch so viele gute und harmlose Absichten äußern: sie müssen unter Dauerbeobachtung genommen werden.

Polizeiliche Methoden mögen das Gröbste verhindern, das Problem werden sie nicht lösen. Übereinander geifern und lästern vergiftet nur die Agora. Wir müssen miteinander ins Getümmel, damit wir erfahren, wer wir sind. Einfacher geht’s nicht.