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Brüll-Rhetorik

Hello, Freunde der Brüll-Rhetorik,

Veit Medick vom SPIEGEL hält für Leidenschaft, wenn andere niedergebrüllt werden. (SPIEGEL Online)

Endlich wird auf dem Gelände der Deutschen Angst die Sau raus gelassen. Endlich sagt‘s mal einer, endlich brüllt mal einer, endlich kommt mal einer mit dem eisernen Besen.

Endlich ist ein Lieblingswort der Deutschen, die hinter dem Ofen warten und warten, bis … endlich einer mächtig um die Ecke biegt und für Ordnung sorgt.

Endlich“ bestätigt die noch immer bestehende Zurückgebliebenheit der deutschen Seele, die durchs Schlüsselloch in die weite Welt schaut, um erschreckt, beleidigt und gekränkt festzustellen, was ihr alles entgeht. Bis endlich der starke Mann kommt und es der Welt zeigt. Rund um den Planeten kommen die Putins und zeigen ihre definierten Muskeln.

Warum warten die Deutschen? Warum mischen sie sich nicht ein, solange die Dinge beeinflussbar sind? Warum schauen sie zu, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist?

Sigmar Gabriel machte sich lustig über 100 000e von Unterschriften gegen TTIP. Leute hätten eine Meinung über Verhandlungen, die noch gar nicht abgeschlossen wären.

Also Ruhe bewahren und abwarten, bis die Alphatiere das Fell verteilt haben, danach – post rem – darf der Plebs

seine überflüssige Meinung in den Wald rufen.

Nun verstehen wir, warum das lateinische Wörtchen post (danach) zum Lieblingswort der deutschen Stubenhocker-Intellektuellen geworden ist. Postmoderne, Posthistoire, Postmaterialismus, postindustriell, postkapitalistisch, postdemokratisch – sind die Dinge vorbei, sind sie auch erledigt. Aufatmen unter den entscheidungsschwachen Schreibtischtätern, die mit der harten Realität am besten zurechtkommen, wenn „nichts mehr zu ändern ist“.

Wer brüllt, zeigt, wie er wirklich ist. Für einen kurzen Augenblick hat er seinen Charakterpanzer verlassen – meint Vedick:

„Das Interesse an Steinmeiers Ausfall aber könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Bürger eine gewisse Sehnsucht nach Politikern haben, die mal einen Moment aus ihrem Panzer heraustreten. Die sich hinter die Fassade blicken lassen. Oder wenigstens den Eindruck erwecken, als würden sie für ihre Sache brennen.“

Früher waren brüllende Väter leibhaftige Sinnbilder für Charakterpanzer. Heute für das Gegenteil: psychologische Begriffe scheinen eine kurze Verfallsdauer zu besitzen – oder sollten Politiker sich neu erfunden haben?

Nein, kein Mensch auf dem Alexanderplatz wollte wissen, wie Steinmeier wirklich ist. So interessant sind Charaktermasken nicht. Eine kleine Gruppe brüllte gegen Wowereit, Steinmeier und Schulz, weil sie ohne Brüllen ihre Meinung nicht los werden konnten.

In Athen wurde Demokratie auf dem Markplatz geboren. Hellwache Bürger redeten auf der Agora miteinander, stritten, debattierten, tauschten Nachrichten aus, schwatzten, quasselten – alles auf gleichberechtigter Ebene. Der Verfall der postdemokratischen Demokratie zeigt sich am Verlust der Ebenbürtigkeit, am gegenseitigen rhetorischen Niederbrüllen.

Machtfreier Diskurs? Wer heute nicht die Machthoheit über das Mikrofon besitzt, wird zur Stummheit verdammt. Will er sich bemerkbar machen: was bleibt ihm anderes, als einen lautstarken Chor zu bilden? Das wiederum ist ein gefundenes Fressen für die Herren übers Mikrofon, um den Rüpeln zu zeigen, wo Bartels den Most holt.

Der Shitstorm ist auch nicht mehr das, was er früher war und zeigt überwiegend Sympathien für die Macht-Brüller. Doch die im Dunkeln, die Ohnmachtsbrüller, sieht man nicht. Kennt man nicht diesen Bodensatz der Pöbeldemokratie, der einfach nicht zu disziplinieren ist?

So einfach sei die Welt nicht, brüllte der weißhaarige Außenminister die kleine Fraktion an, die ihn zuvor als Kriegstreiber angebrüllt hatte. So einfach ist die Welt in der Tat nicht, dass im Zweifelsfall die Herren des Mikrofons immer Recht hätten. Und selbst, wenn sie Recht hätten, ist es sinnvoll, mit Lautstärke Andersdenkende zur Stummheit zu verurteilen?

Wer brüllt, hat Unrecht? Nicht unbedingt. Leidenschaftliche Dialoge schließen Brüllen nicht aus – aber auf reziproker Ebene.

Brüllen ist verspätetes Reden, Reden im Modus des Endlich. Wer kontinuierlich seine Meinung sagen kann, hat nicht endlich das Bedürfnis, zu explodieren, wenn er nicht sofort die Lautstärke erhöht.

Die Herren des Mikrofons waren dankbar für die Brüller, konnten sie doch die Pose gerechter Gegenwehr einnehmen und ihren machiavellistisch dressierten, von Staatsraison und GroKo-Loyalität disziplinierten Mitläufer- und Aufsteigerseelen Luft verschaffen.

Was wäre das für eine vitale Demokratie, wenn die durchreisenden hohen Herren nach ihrer Donnerrede vom Podium stiegen, mit ihren Gegnern auf gleicher Augenhöhe debattierten oder sie gar ans Mikrofon bäten, um dem gespannten Publikum zu zeigen, wie man scharf und doch versöhnlich miteinander disputieren kann. Träume eines Geistersehers.

Warum reden die Deutschen nicht miteinander? Warum streiten sie sich nicht? Haben sie Angst vor überlegenen Argumenten? Fürchten sie, das Gesicht zu verlieren, wenn sie den Gegner nicht niederkartätschen können?

Gewiss doch, es gibt keine Ängste dieser Welt – stimmt‘s, Herr Mohr? –, die den Deutschen unbekannt wären. Im Angsthaben sind sie Weltmeister. Und doch, nicht überall, wo Angst drauf steht, ist Angst drin.

Habe ich Angst vor einer Gefahr, was tue ich? Kann ich nichts tun, weil ich nichts tun darf, da ich in einer Despotie lebe, habe ich zu Recht Ängste. Lebe ich aber in einer Demokratie, in der Mustermann und Musterfrau für alles zuständig sind, verwandelt sich Angst in Feigheit.

Die German Angst ist in hohem Maße German Feigheit. Die Gründe liegen auf der Hand. Vor wenigen Dekaden hatten sie keine Angst und versuchten die Welt zu überrumpeln. Der Versuch misslang, seitdem zogen sie die Konsequenz: einmal haben wir‘s probiert und sind krepiert.

Da sie als geborene Dialektiker in ihrer Charakterstruktur zu undialektischen Reaktionsbildungen neigen, zogen sie sich aufs Gegenteil zurück, mimten die bekehrten Demokraten, doch in ihrer schwarzen Seele wurden sie – feige.

Entgegen allen Gerüchten politischer Sonntagsredner, wollen sie keine Verantwortung für ihr Tun und Nichtstun übernehmen. Würden die heute regierenden Eliten Verantwortung für ihr Treiben übernehmen, wären sie schon gestern komplett zurückgetreten und hätten sich vor dem Volk in öffentlicher Prozession für ihren Schwachsinn entschuldigt.

(In Japan machen die offiziellen Versager wenigsten ein schuldbewusstes Gesicht, wenn sie vor dem Volk ihren Kotau machen. In Deutschland liest man nach vergleichbarem Irrsinn die stereotype Formel der Presse: sie zeigen sich völlig unbeeindruckt, an Rücktritt sei nicht zu denken.

Das gehört zu den Tricks der Medien, die Öffentlichkeit so hinterfotzig zu beeinflussen, dass ihre Lieblingswatschengesichter nicht gefährdet sind. Wen sollten sie sonst lustvoll abwatschen?)

Die meisten Ängste der Deutschen sind Feigheiten. Hierzulande ist es misslich, zu sagen, ich habe die Hosen gestrichen voll, wenn ich an die schreckliche Zukunft denke. Wie klingt es aber tiefsinnig-heideggerianisch, wenn ich vom Sein in der Angst, vom Vorlaufen zum Tode und von der Verfallenheit an das Man daher schwadronieren kann.

Seit der Therapiebewegung der 68er Jahre wurde es opportun, von seinen Ängsten zu reden. Jeder hatte plötzlich Angst vor allem. Nur der eisenharte Ex-Soldat Helmut Schmidt wollte den neuen Angst-Bekenntniskurs nicht mitmachen. Heute hat man Angst, aber man spricht nicht mehr drüber.

In einer intakten Demokratie habe ich keine Angst zu haben, was nicht bedeutet, dass ich keine Ängste haben darf. Sondern dass ich mir meine Ängste klar machen muss – um sie kalt zu stellen. Ja, ich habe Angst, na und? Trotzdem geh ich auf die Demo gegen den Atommüll, den die Atomindustrie in erwartbarer Dreistigkeit dem Staat aufhalsen will.

Wenn Deutschland zur Angst-Demokratie verkommen ist, dürfen wir nicht mehr zögern, das Wörtchen post aus der Tasche zu ziehen und zu konstatieren: dann leben wir in postdemokratischen Verfallzeiten. Feigheit ist die Unfähigkeit, seine Angst wahrzunehmen, ohne sich von ihr beeinflussen zu lassen.

Angst ist kein guter Ratgeber? Angst ist überhaupt kein Ratgeber, denn sie weiß nicht, wovor sie sich ängstigt. In Demokratien besteht die kategorische Pflicht, herauszufinden, wo die Gefahren lauern, wie sie entstanden sind und wie man sie zur Minna machen kann.

In Demokratien besteht die kategorische Pflicht zur objektiven Erkenntnis. Wie kann man sich in der Welt bewegen, wenn man nur sein eigenes Brett vor dem Kopf sieht? Wer immer nur mit selbstgemachten Geistern Umgang pflegt, der hat philosophisch noch gar nicht das Licht der Welt erblickt. Er liegt auch nicht mehr in seiner Mutter Schoß, – dem Ursprung aller Realität –, er hat sich in den eigenen Kokon versponnen und alles, was er sieht, sind Reflexe seiner eigenen hohen Persönlichkeit.

Einige nennen das Solipsismus – das Dasein des Menschen in der Welt ist nichts als sein eigenes Solo –, man sollte präziser von Autismus reden. Der Begriff stammt zwar vom selben griechischen Wörtchen autos ab, von dem auch Autonomie kommt (= Selbstbestimmung, Selbstgesetzgebung), ist aber das genaue Gegenteil von Selbstbestimmung.

Die Welt ist alles, was mein eigenes Würstchen-Ich ist. Das Selbst kann nur in der Welt gedeihen. Ohne objektive Welt wird jedes Selbst zu einer einsamen, isolierten Monade, ohne Zusammenhang mit anderen Selbsten, vor allem ohne Zusammenhang mit der Natur.

Die Leibniz‘schen Monaden wären lebensuntüchtig gewesen, hätten sie keine Verbindung zu Gott gehabt. Blind waren sie der Leitung von oben ausgeliefert. Als Nietzsche den Leibniz‘schen Gott sterben ließ, machte er die deutschen Monaden zu blinden und desorientierten Kretins, die Übermenschen benötigten, um nicht vor die Hunde zu gehen. Kein Wunder, dass sie gottgleiche Führer suchten, um mit ihren leeren Gehirnen nicht in die nächste Grube zu fallen.

Man sieht, die vornehm und tiefsinnig tuende Sprache der Philosophie muss rücksichtslos in normale Umgangssprache übersetzt werden, um die weltprägende Macht der Denker zu entdecken und, wenn nötig, ihr zu widerstehen.

Gegen Marx muss festgehalten werden: die Philosophen haben die Welt nicht nur verschieden gedeutet, sondern durch konkurrierende Deutungen auch verschieden geprägt. Versteht sich, dass Theologie auch nur eine Form der Philosophie ist, die bei Marx gar nicht vorkommt.

Marx wollte kein folgenloser Philosoph sein, sondern ein strenger Naturwissenschaftler, der die Naturgesetze der Geschichte entdeckt haben wollte. Hilft alles nichts, Natur ist keine Geschichte und Marx war dennoch Philosoph – der die Welt veränderte. Mit seinem Welterfolg widerlegte er sich selbst.

War Marx Demokrat? Er hatte zur Demokratie dieselbe ambivalente Beziehung wie die Kirche. Solange der Klerus schwach ist, hält er an der Demokratie fest als am geringsten aller irdischen Übel. Kommt er wieder nach oben, wird Demokratie abgestoßen und die Diktatur der Popen – oder des Proletariats – beginnt. Im Reich der Freiheit – dem Paradies – ist kein Staat mehr nötig, auch keine Demokratie, denn jeder Mensch ist ein perfekter Engel. Auch Marxens Geschichtstheorie ist nur ein weiterer Aufguss der christlichen Eschatologie.

In einem Punkt aber darf der Marxismus nicht untergehen: an der objektiven Erkennbarkeit der Welt hielt er eisern fest – wider alle selbstbespiegelnden Alfanzereien des subjektiven Idealismus, des Bodyguards eines bluttriefenden Kapitalismus.

Für den dialektischen Materialismus war jeder subjektive Idealismus nur eine verkappte Ausgabe der Theologie. Diese Einsicht darf mit dem Fall der Mauer nicht in Staub zerfallen.

Naturgesetze in der Menschenwelt gibt es keine, also kann man sie auch nicht erkennen. Das sollte der Niedergang des real herrschenden Sozialismus deutlich gemacht haben.

Aber wirtschaftliche Gesetze gibt es sehr wohl. Nur sind sie von Menschen gemacht, also auch von Menschen zu ändern. Ökonomische Gesetze muss man behandeln wie psychische und pädagogische. Sie determinieren uns nur solange, solange wir sie nicht zur Kenntnis nehmen.

Eine lebendige Demokratie ist keine Gesellschaft eingesperrter Irrer, die mit ihrem Erkenntnisapparat nur sich selbst erkennen und sonst nichts auf der Welt. Sich selbst kann man nicht erkennen, wenn man die Welt nicht erkennt. Denn das Selbst ist von der Welt geprägt wie die Welt vom Selbst.

Die Weltgeschichte ist eine Kooperation aus Mensch und Natur, aus Natur und Geist, aus Kultur und Natur. Der Geist des Menschen muss realisieren, dass er von der Natur abhängig ist, die Natur hingegen hat dem menschlichen Geist die Möglichkeit eingeräumt, sie in limitiertem Maß zu beeinflussen.

Limitiert heißt begrenzt. Unbegrenzt kann der Mensch die Natur nicht auf den Kopf stellen. Sonst wird er selbst auf den Kopf gestellt und aus dem Verkehr gezogen.

Wir müssen lernen, mit der Natur einen Dialog zu führen. Müssen die Sprache der Natur lernen und darauf achten, was sie uns zu sagen hat und wie sie unsere Machenschaften kommentiert. Bislang brüllen und herrschen wir sie nur an und erwarten sklavischen Gehorsam.

Eine unerkennbare und für immer fremde Natur hat keine Sprache. Also müssen wir gar nicht auf sie hören. Doch wundern dürfen wir uns nicht, wenn uns Ängste plagen, dass die fremde und unheimliche Natur, wenn sie mit uns in Berührung kommt, uns unheimliche Wesen zuschickt.

Auf diesem Boden wachsen die zwangsneurotischen Hollywood-Filme mit Aliens in allen Variationen. Einmal sind es die Guten, die uns retten. Ein andermal sind es Ausgeburten der Hölle, die uns vernichten wollen. Das Fremde und Unbekannte kann teuflisch oder himmlisch sein. Beidem sind wir hilflos ausgeliefert.

Aus christlicher Perspektive gibt es keine zuverlässig-erkennbare Natur. Die gefallene Natur ist kein wohlgeordneter, vollendeter griechischer Kosmos, sondern ein regellos anarchisches Dämonenreich, in dem Gott nach Belieben zaubert und Wunder tut und sein satanischer Gegenspieler den Menschen mit Lust in die Irre und in Versuchung führt. Statt kausalen Gesetzen, die man entdecken und benutzen kann, herrscht antinomische Willkür und Gnade, die man nur betend und kniend beschwören kann.

In einer Demokratie, in der die Menschen nicht mehr gesprächsfähig sind, können sie mit der Natur auch keinen Dialog führen. In einem gleichberechtigten Disput gibt es kein Oben und Unten, keine Herren des Mikrofons und keine zur Stummheit verurteilten Offenbarungsempfänger.

Die herrschenden Eliten wollen predigen, kein Gespräche führen. Mit charismatischen Auftritten wollen sie aus Steinen Gefolgsleute schlagen, die ihnen kritiklos – oder mit einer dezenten Prise Scheinkritik – folgen.

Als Gott mit Saulus sprach, stürzte dieser zu Boden, erblindete drei Tage und musste von anderen geführt werden. Von solch begnadeten Wirkungen ihrer Reden träumen politische Kanzelprediger.