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… zum Logos V

Tagesmail vom 06.12.2021

… zum Logos V,

Panallergie.

Weltuntergangsgesänge ertragen wir nicht mehr, noch weniger die Aufforderungen, dem Verhängnis zu widerstehen. Wie oft stand das Abendland schon vor dem Ruin?

Rundum allergisch: untergehen ist feige, widerstehen moralisch anmaßend und lächerlich.

Am 30. Mai ist der Weltuntergang
Wir leben nicht mehr lang
Wir leben nicht mehr lang
Doch keiner weiß, in welchem Jahr
Und das ist wunderbar. (Kurt-Adolf Thelen, 1942)

Und hier die tapfere Gegenstimme:

„Unsere einzige Hoffnung ist die Kraft einer neuen Vision. Einzelne Reformen vorzuschlagen, ohne das System zu erneuern, ist auf lange Sicht sinnlos. Solchen Vorschlägen fehlt die mitreißende Kraft. Das „utopische“ Ziel ist realistischer als der Realismus unserer Politiker. Die neue Gesellschaft und der neue Mensch werden nur Wirklichkeit werden, wenn die alten Motivationen – Profit, Macht, Intellekt – durch neue ersetzt werden: Sein, Teilen, Verstehen. Wenn der Marktcharakter durch den liebesfähigen Charakter abgelöst wird und an die Stelle der Fortschrittsreligion ein neuer radikal-humanistischer Geist tritt.“ (1976)

Die Stimme dieses visionären Utopisten ist heute begraben und vergessen, während der religiöse Pessimismus seines Gegenspielers noch immer bewundert wird, obgleich kaum jemand die Schlauheiten seines dialektischen Schreibens versteht.

„Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint.“

Der erste Autor hieß Erich Fromm, der zweite Theodor W. Adorno. Beide waren vor den NS-Schergen nach New York geflüchtet, wo sie anfänglich zusammenarbeiteten. Dann kam es zum Zerwürfnis. Fromm floh nach Mexiko, wo er als Psychoanalytiker tätig wurde; Adorno zog mit Horkheimer nach Kalifornien.

In der Nachkriegszeit wurde Adorno zum Star der rebellischen Studenten, bevor er – wegen politischer Untätigkeit – bei ihnen in Ungnade fiel. Fromm wurde zu einem weithin bekannten Buchautor, doch seine Gedanken fielen auf unfruchtbaren Boden. Heute kennt ihn niemand mehr.

Seine Forderungen nach einer moralischen Wende als Voraussetzung einer lebenserhaltenden Politik wären heute eine Lachplatte für Politiker und Intellektuelle. Seine Überzeugung, nur eine humane Vision könne uns retten, wäre eine grundlegende Kritik an der Merkel‘schen Utopiefeindlichkeit und ihres laschen Weiter-so.

Wer sich nicht ändert, bleibt sich nicht treu, war ein beliebter Spruch der Politiker. Sie bemerkten nicht, dass sie den Bestand ihrer maroden Wirklichkeit gefährdeten, weil sie keine Kraft besaßen, sich zu erneuern.

In vorweihnachtlicher Zeit halten die Mächtigen das Gute für amüsant und umsatzfördernd – für Gazetten und Kanäle: als Bestandteile der Politik jedoch für abwegig und dämlich.

Moral solle sich aus aller Politik heraushalten, ist das Credo einer Republik, die das Gute als Gnadenaktion für Besondere und Auserwählte zelebriert. Die wenigen Flüchtlinge an der polnisch-belarussischen Grenze können vom reichen Deutschland nicht aufgenommen werden – obwohl es Zuwanderer als Arbeitskräfte dringend benötigt.

Kindern in Notlagen hingegen in einer aufwendigen TV-Inszenierung zu helfen, das entspricht der Überzeugung der Politiker, Gutes könne nur per Almosen mit Glitzer und Gloria gewährt werden. Das Gute wird zur Propaganda-Show für materielle Interessen.

„Ein seltsames Berliner Kapitel wurde am Wochenende geschrieben: Bald-Kanzler Olaf Scholz und die künftigen grünen Minister Annalena Baerbock und Robert Habeck machten der »Bild«-Zeitung ihre Aufwartung bei der Spendengala »Ein Herz für Kinder«. Obwohl Spendensammeln für Kinder selbstverständlich eine gute Sache ist, irritierte die innige Inszenierung viele.“ (SPIEGEL.de)

Dem einzelnen, zufällig am Wegesrand getroffenen Hilfsbedürftigen wird geholfen, die Notleidenden eines ganzen Volkes hingegen werden ignoriert Das würde die göttliche Gnade als Erwählung des Einzelnen zur Ramschware verurteilen.

Der Herr ist mein Hirte, nicht der demokratische Hirte aller. Seine Hilfe muss eine außergewöhnliche Samaritertat bleiben, keine universelle Unterstützung für alle, die sie benötigen.

Universelle Ethik für gleichwertige Menschen – gegen unberechenbare Selektion der Erwählten: das ist die Unvereinbarkeit der demokratischen Gleichheit aller Menschen mit der Würfelethik eines willkürlichen Erlösergottes.

Weshalb es niemals zur Symbiose aus Polis und Kirche kommen kann. Tertullians Frage: was hat Athen mit Jerusalem zu tun, müsste, damals wie heute, mit dem Wörtchen beantwortet werden: nichts.

Westliche Demokratien bilden sich ein, sie könnten universelle mit selektiver Ethik in einem politischen Gebilde harmonisieren. Doch die Zeiten der Selbsttäuschung gehen vorbei. Religionen haben sich bis heute dem weltlichen Geist der Demokratie gefügt, weil sie ihrem Glauben nicht untreu werden mussten und sie von der Macht der Volksherrschaften profitierten.

Doch dieses Bündnis nähert sich seinem Ende, da die Demokratien ihre Dominanz in der Welt eingebüßt haben.

Seit Umwandlung der Demutsreligion zur unerbittlichen Staatsreligion im Römischen Reich haben die Letzten das Wunder erlebt, auf das sie gehofft hatten: die Letzten wurden die Ersten in der Welt. Das war keineswegs unerklärlich, wie die meisten Historiker glauben machen wollen, das war die konsequente Entwicklung einer unterwürfigen Kreuz- zur gloriosen Kronepolitik, wie es im Neuen Testament dargestellt wird. Auf Erden Leid und Unterwerfung, um im Jenseits (das hienieden vorgezogen werden kann) zum endgültigen Triumph zu werden.

Durch geschickte Anpassung an den jeweiligen Zeitgeist – selbst wenn er kirchenfeindlich war –, verstanden es die Kirche schon immer, sich in schwachen Zeiten unterzuordnen, um sich bei beginnender Schwäche des Staates zur alten Macht und Herrlichkeit zurückzuentwickeln.

Das trifft heute besonders auf Amerika zu. In Europa kaum beachtet, geschweige analysiert, ist Amerika in schwere Krisen geraten. Die Warnungen werden immer sorgenvoller, doch Deutschland, das den Konflikt zwischen Polis und dem irdischen Reich Gottes tabuisiert, steckt den Kopf in den Sand – ahnend, dass dieser verdrängte Konflikt auch hierzulande ausbrechen könnte. Und längst über die Bande ausgebrochen ist, indem die Muslime als Fanatiker dargestellt werden oder als harmlose Gläubige, die keinem Andersgläubigen etwas zu Leide tun können.

Deshalb die deutsche Toleranz als blinde Duldung intoleranter Strukturen oder als Ablehnung all jener Symptome, die der Islam mit der christlichen Religion gemein hat. Man sollte wissen, dass, im Verlauf der siegenden Aufklärung, die totalitären Einheitsreligionen sich aufspalteten in immer humaner werdende Mehrheiten und in faschistoide Minderheiten.

Was bedeutet, dass die allzu lasche Eigenkritik am Christentum als überhitzte Intoleranz gegen Muslime zum Vorschein kommt. Jeder Glaube ist zu dulden, solange er die Gesetze eines laizistischen Staates akzeptiert. Der geringste Versuch aber, Religion in dominante Politik zu verwandeln, muss bekämpft werden.

In Amerika sehen wir den Verfall der bislang bedeutendsten und glaubwürdigsten Demokratie der Welt, die es geschafft hatte, die deutschen Völkerverbrecher niederzuringen und den Unterlegenen dennoch die Hand zu reichen, um ein demokratisches Gemeinwesen zu errichten.

Doch seit der maßlosen Ausdehnung der Wirtschaft in eine neoliberale Herrschaftsmaschinerie, der Entwicklung einer atomaren Militanz und digitalen Superiorität über die Welt, ist Amerika zur Bedrohung jener Länder geworden, die sich das westliche Dominanzverhalten nicht länger gefallen lassen.

Amerikas Erlösungszwang, andere Länder in Demokratien zu verwandeln, entartete zum Imperialismus unter falschen Vorzeichen. Die besetzten Länder setzten sich zur Wehr und fügten der mächtigsten Nation der Welt immer mehr Niederlagen zu. Seitdem bröckelt Washingtons Weltgeltung.

Das Ansehen der Demokratie verfiel, die Drittweltländer unternahmen alles, um in die erste Reihe der globalen Mächte aufzurücken. Je schwächer Macht und Ansehen der amerikanischen Regierung wurde, umso mehr expandierte die Macht ihrer bislang braven Bibelleser.

Diese erwarteten umso ungeduldiger die Wiederkehr ihres Herrn, je häufiger die Katastrophen in der Welt wurden. Vollends die anschwellende Klimagefahr überzeugte sie vom Finale der Welt.

Dabbelju Bush und Trump waren die ersten Präsidenten, die den Geist der Endzeit in Politik verwandeln wollten. Trump war keineswegs der erste Apokalyptiker unter den Endzeiterwartern, wie deutsche Medien es wahrhaben wollten.

Offensichtlich gelingt es Trump, sich auch nach seiner Niederlage zum Mittelpunkt der Republikaner zu entwickeln, der Chancen hat, bei der nächsten Wahl erneut zum Kandidaten der Republikaner gewählt zu werden. Sollte Biden derweil immer noch Federn lassen müssen, würden die Chancen des frömmelnden Milliardärs steigen.

Fromm heißt nicht, wie deutsche Beobachter meinen, sich gesittet und friedlich zu geben, sondern sich frech über alle irdischen Gepflogenheiten hinwegzusetzen. Auserwählte können so viel sündigen, wie sie für richtig halten. Hauptsache, sie vergessen nicht, um Vergebung ihrer Sünden zu beten.

Fukuyama ist einer der gewichtigsten Warner vor dem Niedergang Amerikas:

„Wir befinden uns in einer ernsten verfassungsrechtlichen Krise, und das Schlimmste daran ist, dass die Wähler das gar nicht ernst nehmen. Für die meisten steht die Bedrohung der Demokratie ganz unten auf der Prioritätenliste. Eines meiner zentralen Argumente lautet, dass liberale Ideen, die im Kern richtig sind, in den vergangenen 30, 40 Jahren ins Extrem getrieben wurden. Der liberale ökonomische Ansatz wurde zum Neoliberalismus, der den freien Markt verherrlichte und den Staat nur noch als Hürde für das Wachstum betrachtete.“ (SPIEGEL.de)

Leider entbehren Fukuyamas Warnsignale einer gründlichen Ursachenanalyse. Der Neoliberalismus ist nicht vom Himmel gefallen. Er war die Frucht einer religiösen Vernunftfeindlichkeit und damit Erbe der Gegenaufklärung seit der Romantik, die nichts unterließ, um dem Logos das Leben schwer zu machen.

Hannes Stein hat eine tiefere Spur des Trumpismus entdeckt:

„Der Ex-General Michael Flynn – einer der führenden Trump-Unterstützer – sagte neulich in einer Ansprache: „Wenn wir eine Nation unter Gott haben wollen, und das müssen wir, dann müssen wir auch eine Religion haben. Eine Nation unter Gott und eine Religion unter Gott.” Früher wäre so etwas auch unter amerikanischen Rechten unsagbar gewesen, weil jeder gewusst hätte, dass die amerikanische Verfassung die Einrichtung einer Staatsreligion verbietet – heute wird es heftigst beklatscht. Immer mehr Dokumente kommen ans Tageslicht, die belegen, dass im Januar 2021 in der Tat ein Staatsstreich geplant war – ein Versuch, Donald Trump gegen den Willen der demokratischen Mehrheit im Amt zu halten. Aber das interessiert schon niemanden mehr. Deshalb werden die Republikaner die Zwischenwahlen 2022 gewinnen. Und sie werden den Boden bereiten, damit zwei Jahre später Donald Trump an die Macht zurückkommt. Dies wird bürgerkriegsähnliche Wirren zur Folge haben, die es Trump erlauben werden, seine Macht noch weiter zu festigen.“ (WELT.de)

Deutschland und seine bisherige Kanzlerin haben alle „ideologischen“ Fragen vernachlässigt. Die Rolle der Religion bleibt hierzulande außen vor. Merkels Glauben, den sie nur geheimnisvoll andeutet, wird von niemandem auf seine politischen Konsequenzen untersucht. Esoterischer geht’s nicht mehr.

Dabei ist unverkennbar, dass die augustinische Geprägtheit ihres Luthertums die ziellose Laisser-aller-Haltung ihrer Politik trefflich erklärt. Solange das Regiment des Teufels das Reich Gottes auf Erden bekämpft, sollen Christen diese Paradoxie akzeptieren und nichts am Kräfteverhältnis zwischen civitas diaboli und civitas dei verändern.

Gott will die Sünden der Menschen in sich brüten lassen, bis er gedenkt, das finale Fallbeil zu senken und das Jüngste Gericht einzurichten. ER selbst will seinen Widersacher zur Strecke bringen, die irdischen Sünder sollen sich raushalten. Sie sollen keine Möglichkeit erhalten, den Widersacher des Herrn zu Fall zu bringen. Denn Satan – ist die Kehrseite Gottes.

Das ist die innerste Erklärung der Merkel‘schen Untätigkeit und der Beschränkung ihrer Tätigkeit auf Petitessen.

„Dabei hat die amtierende Bundeskanzlerin in den vergangenen Wochen eine besonders unglück­liche Rolle gespielt. Als die schlechten Zahlen schon kräftig stiegen, erweckte sie alles andere als den Eindruck, auf der Brücke des Staatsschiffs zu stehen, um in schwerer Stunde Schaden vom deutschen Volke abzuwenden. Stattdessen hat sie sich zwischen den Stationen ihrer globalen Abschiedstour nur sporadisch gemeldet, um ein paar lustlose Appelle ans impffaule Volk zu richten. Hat gemahnt, angeregt, ins Spiel gebracht, als säße sie auf der Zuschauertribüne und sähe sich selbst beim Nichtregieren zu.“ (SPIEGEL.de)

Man könnte Merkels unterwürfiges Bedienungshandeln mit der Martha aus dem Lukasevangelium vergleichen:

„Es begab sich aber, als sie weiterreisten, daß er in ein gewisses Dorf kam; und eine Frau namens Martha nahm ihn auf in ihr Haus. Und diese hatte eine Schwester, welche Maria hieß; die setzte sich zu Jesu Füßen und hörte seinem Wort zu. Martha aber machte sich viel zu schaffen mit der Bedienung. Und sie trat herzu und sprach: Herr, kümmerst du dich nicht darum, daß mich meine Schwester allein dienen läßt? Sage ihr doch, daß sie mir hilft! Jesus aber antwortete und sprach zu ihr: Martha, Martha, du machst dir Sorge und Unruhe um vieles; eines aber ist not. Maria aber hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“

Doch ihre demütige Rolle der Dienerin hat für Merkel einen verborgenen Sinn, der echten Christen nicht verborgen bleibt: sie will herrschen, die Letzte will die Erste werden.

„Und ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen; denn einer ist euer Lehrer: Christus. Der Größte unter euch soll euer Diener sein. Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“

Das ist der Sinn der christlichen Umwertung aller Werte: was die Frommen wirklich bewegt, soll der Welt verborgen bleiben. Ihre Religion ist ein perfektes Rollenspiel, um unter falschen Vorzeichen zu siegen.

Normalerweise müsste man sagen: Merkel ist eine Narzisstin. Sie kann nicht genug Macht und Ansehen erwerben, um auf Erden eine große Nummer zu werden. Just dieser Narzissmus aber soll der Bevölkerung verborgen bleiben. Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen will sie den Sieg ihres Glaubens über die Welt erringen.

Eine Narzisstin? Wie kann man größenwahnsinnige Machtmenschen nach einem harmlosen Jüngling benennen, der nicht in sich selbst verliebt war, sondern in die objektive Schönheit seiner Person?

Auch die apolitische Psychoanalyse beteiligt sich an der beliebten Schuldzuweisung der Theologen, das Böse und Schlechte dem Griechentum und das Gute und Hervorragende dem Christentum zuzuschreiben. Böse Triebe wie ödipale und narzisstische sind auf dem Boden des hellenischen Mythos gewachsen, hehre Menschenrechte aber auf dem Boden des Evangeliums.

In ihrem Buch „Dialektik der Aufklärung“ haben Adorno & Horkheimer die Wurzeln der „totalitären“ Aufklärung dem homerischen Abenteurer Odysseus zugeschrieben. Die Heilige Schrift hingegen hat nur Glück und Segen über die Welt gebracht.

Der Psychiater Marc Walter unterscheidet zwischen einem harmlosen Angebernarzissmus und einem wirklich gefährlichen und bedrohlichen. Trump & Co fielen unter die letztere Kategorie:

„Pathologische Narzissten können nicht zuhören, sind nur präsent, wenn sie reden. Selbstkritikfähigkeit ist nicht ausgebildet. Das zeigt sich gerade in Beziehungskrisen. Ist ein Gespräch oder Streit möglich oder nicht? Kann die Person sagen, das habe ich nicht richtig gemacht oder gesagt? Oder gibt es gleich einen Beziehungsabbruch? Die Lieblingsposition von Narzissten ist die von oben herab, wenn andere hilflos sind, und sie sind souverän. Ihre eigene Hilflosigkeit können sie nicht ertragen. Die passive Rolle ist nichts für Narzissten. Dann gibt es die, die überhaupt keinen Anteil am Schicksal anderer nehmen. Und ins Antisoziale, wir nennen das auch das Maligne, also Bösartige, kippt es, wenn jemand andere nicht nur ignoriert, sondern kaputt machen will. Das wäre dann eine antisoziale Persönlichkeitsstörung.“ (SPIEGEL.de)

Der Narzisst will immer der Beste und Größte sein. Hieße das nicht, die Moderne mit ihrer Fortschrittsreligion wäre eine narzisstische? Sind normale Erziehungsmethoden im Elternhaus, in Schulen, Unis nicht darauf abgerichtet, stets die Besten aufzuziehen, identisch mit den Erfolgreichsten?

Eine Pisa-Forscherin will die Überprüfung der Schüler noch mehr intensivieren, um nationale Vergleiche zu ermöglichen. Welche Schulsysteme produzieren die Besten?

„Wann ist eigenständiges Lernen sinnvoll, wann angeleitetes? Über solche Fragen machen sich Schulen, die als Vorzeigeeinrichtungen gelten, in der Regel sehr konkrete Gedanken. Und hierzu stellt die Forschung der Schulpolitik auch Erkenntnisse zur Verfügung. Fortschritt in der Schulentwicklung setzt voraus, dass bewertet wird, welche Maßnahmen wie wirken. Es werden mehr Leistungsvergleiche gemacht, nicht nur die Pisa-Erhebungen. Inzwischen gibt es gemeinsame Bildungsstandards, und die Anforderungen für das Abitur gleichen sich stärker an.“ (SPIEGEL.de)

Die Forscherin spricht von Bildung. Doch sie meint das Gegenteil. Bildung ist individuelle Entfaltung jedes Einzelnen ohne Leistungsvergleich mit Anderen. Jedes Individuum ist unvergleichbar und kann an einem quantitativen Maßstab nicht gemessen werden.

Das gesamte Bildungs- und Karrieresystem der Moderne beruht auf der christlichen Erziehung, die Ersten bei Gott zu sein. Zuerst durch das Rollenspiel der Demütigen und Letzten, mittlerweilen in der Sucht, die technische, militärische und ökonomische Einzigartigkeit der Erwählten der Welt zu präsentieren.

In Amerika ist das Endreich Gottes bereits auf Erden angekommen. Die Maskierungen der Demut können weggeworfen werden. Wie im 1000-jährigen Endreich die Deutschen mit barbarischer Gewalt ihre Erwähltheit der Menschheit beweisen wollten, so wollen amerikanische Narzissten mit weltlichen Superleistungen ihre Uneinholbarkeit demonstrieren.

Und woher kommt der Narzissmus?

„Die Theorie des US-amerikanischen Arztes und Psychoanalytikers Heinz Kohut geht in vielen Fällen von einer Traumatisierung durch narzisstische Eltern aus. Also Eltern, die ihre Kinder nicht als eigenständig wahrnehmen, nicht sehen, dass sich da eine andere Person entwickelt, sondern die Kinder als Selbsterweiterung, als Selbstobjekte der eigenen Person sehen.“

Hier zeigt sich der apolitische Charakter der Psychoanalyse: nicht die Gesellschaft insgemein ist narzisstisch, sondern lediglich diverse Eltern. Die Gesellschaft spricht sich frei, indem sie alle Schuld auf einzelne Verrückte schiebt. Sie ist, nehmt alles in allem, der perfekte Beweis ihrer Singularität. Änderungen und Korrekturen, Kritik und Schuldzuweisungen sind unzulässig oder überflüssig.

Familie ist eine Agentur der Gesellschaft und wird somit von ihr geprägt, das scheint heute vergessen. Abhängigkeit von der Gesellschaft bedeutet aber nicht, dass der Einzelne keinen freien Willen habe. Die Gesellschaft aber muss dem Willen des Einzelnen auch gestatten, seine Freiheit zu entfalten.

Was ist nun das Ziel einer Therapie von Narzissten? Kein politisches, etwa die Befähigung zur demokratischen Mitarbeit, sondern das bessere Funktionieren im Kapitalismus. Die Rädchen sollen störungsfrei dem Wirken der Gesamtmaschine dienen, damit die eigene Nation im Vergleich mit anderen die Trophäe der Besten erringt.

Versteht sich, dass die Narzissmusforschung den paradoxen Narzissmus der Erlöserreligionen noch nie unter die Lupe genommen hat. Religion darf von niemandem auf die Couch gelegt werden – sie könnte ihre unverletzliche Heiligkeit verlieren.

Fortsetzung folgt.