Kategorien
Tagesmail

… zum Logos IV

Tagesmail vom 03.12.2021

… zum Logos IV,

Deutschland ist ein merkwürdiges Land.

Das war der schärfste Kommentar zum Abschied der Kanzlerin. Der Rest war Halleluja. Hoch auf dem Ross wie Bismarck sitzt sie bereits. Fehlt nur noch – der Strahlenkranz. Doch der wird, so sicher wie das Amen im Gebet, in den Geschichtsbüchern folgen. 

In diesem merkwürdigen Land wird Politik für die Geschichte betrieben. Die Gegenwart ist belanglos. Die Deutschen sind ihrer Zeit weit voraus, das haben sie von ihrer Kanzlerin gelernt – die alles vom Ende her bedenkt.

Nur nicht vom absoluten Ende, das sie mit Fröhlichkeit und Gottvertrauen ignoriert. Ihre Deutschen sitzen im Schosse Gottes, das ist ihr Glaube. Mit dem sie aber nicht hausieren geht, sondern ihre vertrauensseligen Untertanen nur spüren lässt. Was weitaus wirksamer ist als ordinäres Predigen.

Merkel wird gelobt, dass sie ihre Nation vor wirtschaftlichen Katastrophen beschützt habe, indem sie jenes Wirtschaftswachstum anregte, das noch schneller dem Abgrund entgegeneilt.

Hätte sie diese lästige, kleine Coronakrise nur besser gemanagt, wäre ihr Fazit vollkommen, schrieb Georg Mascolo. In den Bedrängnissen der Zeit habe sie uns beschützt wie eine Mutter ihre Kinder.

Ihre Kinder? Die Regierenden kennen keine Kinder. Höchstens als wunderliche kleine Wesen in Kitas, die sie einmal im Jahr besuchen. In keiner Bilanz, die als Begleithymne zum Zapfenstreich zu lesen war, wurde diese niedliche Gattung mit einem einzigen Wörtchen erwähnt.

Deutsche Schreiber sind Gentlemen, die die mächtigste Frau der Welt auf ihren Schultern tragen – um sich als echte Frauenversteher zu beweisen. Eine schlichte Frau aus den Tiefen östlicher Grenzgebiete hat‘s allen Männerdespoten der Welt gezeigt – als private Person. Aber nicht als Politikerin, die alles hinterlässt, wie sie es antraf. Als ob von privaten Eigenschaften auf politische Kompetenz geschlossen werden könnte.

Macht euren Saustall gefälligst alleene. Glaubt ihr wirklich, dass ihr mich zu eurer Putzfrau degradieren konntet? Meine Polis ist nicht von dieser Welt.

„Ich weiß von einem Elfjährigen, der weinend in der Schule zusammenbrach, weil die Kunstlehrerin ihn für einen ungeraden Strich kritisierte. Und ich weiß von einer Mitschülerin des kleinen Kerls, die der Lehrerin, die den Jungen aufforderte, weiterzumalen statt zu weinen, mutig erklärte: »Wie soll man denn malen, wenn man weint?«“ (SPIEGEL.de)

Nein, Kinder sind keine Fürsorge-Objekte der Regierung. Die sollen sich anstrengen, um sich als wettbewerbstüchtigen Nachwuchs zu erweisen. Nur wer die Drangsale der Bildungsanstalten mit Auszeichnung übersteht, kann sein Land im Wettbewerb der Völker würdig vertreten.

Hört ihr die Kinder weinen? Ja und? Das sollten sie sich so schnell wie möglich abgewöhnen, unsere Kanzlerin weint schließlich auch nicht. Schule haben wir alle mitgemacht: hat es uns geschadet?

Chor der Kinder: Ja. Die Noten, die wir euch geben müssen, sind unterirdisch. Ihr hinterlasst uns eine untergehende Welt; dafür können wir uns nur bedanken. Ihr seid durchgefallen.

Solche Kinder sind doch nicht ernst zu nehmen. Sie sind verwöhnt, verweichlicht, dabei anmaßend und selbstherrlich. Was unternimmt die Stadt Berlin nicht alles, um diesen Gören das Beste zu bieten?

„Hamburg hat es vorgemacht: Der Stadtstaat kontrolliert Jahr für Jahr den Lernfortschritt seiner Schülerinnen und Schüler. Als „Kultur des Hinschauens“ wurde das von Deutschlands oberster Schulqualitätsbeauftragten Petra Stanat gelobt, als Hamburg in der Folge bessere Ergebnisse bei den bundesweiten Vergleichen erzielte. Nun will Berlin Ähnliches versuchen: „Zur Qualitätssteuerung werden Lernerfolge im Längsschnitt erfasst“, heißt es im Koalitionsvertrag. Berlin gibt sehr viel Geld aus für seine Schulen – sogar mehr als jedes andere Bundesland. Dennoch sind die Ergebnisse bundesweit meist die zweitschlechtesten – gefolgt nur noch von dem wirtschaftsschwachen Bremen.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Kontrolle ist alles, Lernen fürs Leben ist nichts. Fürs Leben? Im Kapitalismus lebt kein Leben. Lernen fürs gute Leben wäre ein Lernen gegen alles, was für Erwachsene wichtig ist. Also muss selbstbestimmtes Lernen mit aller Gewalt verhindert werden. Wer die Hürden des Weinens und Jammerns, des Blamiert- und Gedemütigtwerdens nicht überwindet, hat keine Chance, zum Sieger zu werden.

Ist die Erziehung unserer Kinder nicht ohnehin falsch, wenn man sie vergleicht mit der unvergleichlichen Pädagogik der Naturvölker? Etwa bei den Inuit, wo Kinder durch das Leben erzogen werden und nicht durch ausgedachten Klamauk?

„Dabei habe ich gesehen, wie Kinder von regelmäßiger Mithilfe und klarer Aufgabenverteilung profitieren. Mein Mann und ich räumen mit Rosie mittlerweile jeden Tag den Geschirrspüler aus. Einer räumt Teller, Gläser, Besteck aus der Maschine, der Nächste bringt diese zum Regal. Wir bilden eine Kette. Rosie genießt dabei, dass wir Dinge zusammen machen und sie ein vollwertiges Mitglied der Familie ist. Wenn wir das tun, nehme ich sie ernst und vermeide jeden Befehlston. Den habe ich auch in den Inuitfamilien, die ich besucht habe, nie gehört. Eltern schimpfen nicht und rufen „Lass das!“, sondern sagen: „Wenn du mit den schweren Steinen spielst, dann kannst du ein anderes Kind verletzen.““ (ZEIT.de)

Die beste Erziehung wäre gar keine Erziehung in einem Sonderbereich. Vielmehr müssten die Kinder so früh wie möglich am Leben der Erwachsenen teilnehmen können.

Das wäre weniger eine Kritik an der Pädagogik, als an unserer gesamten Kultur, die gespalten ist in eine überbehütete Sphäre der Kinder und eine erbarmungslose Welt der Erwachsenen.

Kinder sollen in ihrer Welt zu guten Menschen erzogen werden, die ab der Pubertät abrupt mit aggressiven Parolen zerschlagen wird: ab jetzt müsst ihr zur Kenntnis nehmen, wie die Welt wirklich ist. Ihr müsst eure Ellenbogen einsetzen und eure Mitmenschen als Konkurrenten betrachten. Die wahre Welt ist nicht gut und liebevoll, sie ist kalt und rücksichtslos.

Die Hochkulturen haben den Glauben an das Gute in ein Kinderreich verbannt, um das Konkurrieren der Erwachsenen nicht durch Verzärtelungen zerstören zu lassen.

Am hierarchischen Aufbau der Fortschrittskulturen kann man ihre Entwicklung ablesen. Am Anfang war die Menschlichkeit matriarchaler Urkulturen, die durch die neue Inhumanität männlicher Macht und ihres rücksichtslosen Fortschritts in die Welt der Kinder verbannt wurde.

Fortschritt beruht auf der Degradierung des Guten in eine bedeutungslose Kinderwelt. Oder mit anderen Worten: das Böse wird zum Antrieb des Guten. Ohne Teufel kann Gott nicht regieren.

Was bedeutet der Abschied der „ostdeutschen“ Kanzlerin für die Entwicklung der BRD?

A) den scheinbaren Sieg der schlichten Kartoffelsuppe über den Luxus der Westdeutschen. Die Westdeutschen sind stolz auf ihren Wohlstand, doch unbewusst lehnen sie ihn noch immer ab, weil er dem Anspruch germanischer Natürlichkeit widerspricht.

Die schlichte Kartoffelsuppe Merkels ist für den Westen die Korrektur ihrer eigenen Schlemmerei – ohne dass diese eingestellt werden müsste. Die deutsche Einheit vollbringt das dialektische Wunder einer Harmonie, deren Widersprüche nicht korrigiert werden müssen. Lutherische Genügsamkeit wird zur Beruhigungspille für das neoliberale Prassen des Westens. Weswegen man von konservativer Seite der Kanzlerin den Vorwurf machte, sie habe sich von der SPD zur sozialen Marktwirtschaft verführen lassen.

B) den gesellschaftlichen Sieg der strengen Naturwissenschaften über die „ideologischen“ Laberwissenschaften. Die philosophischen Kämpfe um eine gerechte Welt, die verstehende Psychologie hat der Osten nie verstanden, ja strikt abgelehnt. Für die christlich-marxistische Sicht der Pastorentochter ist philosophisches Ringen um eine humane Welt nichts als Humbug.

Für Marxisten ist Philosophie illusionärer Überbau, für Christen die Hybris gottlosen Denkens. Warum studierte Merkel Physik? Nicht, „um ein zweiter Newton zu werden“ (was ihr mit links gelungen wäre), sondern weil strenge Naturwissenschaft keine Ideologie verträgt. Was bedeutet, dass auch Merkels Glaube keine Ideologie sein kann.

Doch jetzt das Problem: wie kann man mit Messen, Zählen und Rechnen – Politik betreiben, die vom unberechenbaren Geist der Menschen geprägt wird?

Wie präzis sie doch alle Unterlagen studiert und sich alle „Zahlen und Figuren“ einprägen kann, wird von ihren Bewunderern unermüdlich gerühmt.

Was aber ist das Wesentliche menschlicher Tätigkeiten: zähl- und berechenbare Fakten oder deren politische Interpretation? Medien, die sich ebenfalls rühmen, nur zu berichten, was ist, spüren im „Positivismus“ ihr illustres Vorbild. Auch sie glauben, aller denkenden Deutung der Fakten überhoben zu sein. Doch damit verabschieden sich alle denkfeindlichen Ist-Anbeter von der Demokratie, deren Wesen im geistigen Ringen um das beste Leben besteht.

Demokratie wird zur automatischen Maschine, die keine schwankenden Denker am Steuerrad duldet. Der Mensch wird, wie einst bei Charly Chaplin, zum mechanischen Bestandteil einer Maschine, die nur ein immer gleiches Weiter-so kennt. Wer willkürlich eingreift (weil er die Vision eines Besseren hat), würde die Maschine nur zerlegen. Mit der Bewunderung der Merkel‘schen Mechanismen hatte der marxistisch-christliche Osten über das philosophische Erbe des Abendlands gesiegt.

Die Deutschen, der intellektuellen Streitigkeiten der Nachkriegsjahre überdrüssig, flüchteten in die Selbstbetäubung einer Nation, die endlich im Überfluss angekommen war. Ihr wirtschaftlicher und technischer Welterfolg hatte ein tief gefallenes Verbrechervolk rehabilitiert. Herz, was willst du mehr?

Seitdem suhlen sich die Eliten in ihrer Weltgeltung, als seien sie im Paradies angekommen. Merkel wurde zur „selbstlosen“ Lenkerin einer Maschine, die die materiellen und psychischen Bedürfnisse der Deutschen vollauf befriedet.

Seit Merkel als Hüterin ihrer vereinigten Schafe signalisierte: wir Deutschen sind auf dem rechten Weg, haben keine Entwürfe einer idealen Welt nötig, waren sie befreit von ihrer nutzlosen philosophischen Vergangenheit. Auch sie wollen nichts als das ewige Weiter-so: konsumieren, nach Mallorca düsen und Gott einen guten Mann sein lassen.

Woran kann man Merkels Verachtung der Geisteswissenschaften erkennen? Nicht nur an ihrer Stummheit und Unfähigkeit, politische Probleme zu artikulieren, sondern an ihrem Spott über die „Küchenpsychologie“.

Seit dem Streit der Philosophie über den Status der Natur- und Geisteswissenschaften (Dilthey, Windelband, Rickert), war Psychologie eine umstrittene Disziplin. Einst gehörte das Verstehen des Menschen zur Hauptbeschäftigung der Philosophie.

Durch die strengen Naturwissenschaften aber geriet alles nicht-quantitative Verstehen in den Verdacht der Schwafelei. Reichte gefühlsmäßiges Verstehen, um aus der Psychologie eine strenge Wissenschaft zu machen?

„Die Entstehung der naturwissenschaftlich operierenden Psychologie, die als „Psychologie ohne Seele“ beginnt und bald zur Verhaltenswissenschaft wird, hat erhebliche Rückwirkungen auf die Geisteswissenschaften, denn Psychologie galt lange als deren Basiswissenschaft.“ (Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933)

Pawlow und Skinner verwandelten das introspektive Gelaber in eine Naturwissenschaft, indem sie ferngesteuerte Reize zählten und deren Wirkungen auf messbares neues Verhalten. So schafften sie es, die Psychologie aus der gefühligen Schmuddelecke zu befreien.

Der politische Erfolg der Verhaltenssteuerer war umwerfend: die westliche Gesellschaft wurde zum propagandistischen Experimentierfeld einer explodierenden Konsumgesellschaft. Alles, was wir kaufen und konsumieren, steht seitdem unter Verdacht, durch allpräsente Werbung manipuliert worden zu sein.

Das weltweite digitale Netz hat die Omnipräsenz der Werbung nur verstärkt.

Auch Freud begann seine Erforschung des psychisch kranken Menschen als Positivist, bis er einsehen musste, dass seine beobachteten Neurosensymptome nicht mehr quantifiziert werden konnten. Dennoch hielt er es für möglich, dass seine Psychoanalyse eines Tages doch noch den Status einer berechenbaren Wissenschaft erwerben könnte.

Nach langen Streitigkeiten, ob der Psychoanalyse der Rang einer wirklichen Wissenschaft zustehe, ist das Ringen um diese Frage ermattet und verstummt. Die therapeutische Tiefenpsychologie steht heute im Verdacht, das nicht-emanzipatorische Erbe des klerikalen Beichtens übernommen zu haben.

Schon vor einem halben Jahrhundert warnte Erich Fromm vor der Gefahr, dass die analytische Therapie zur Technik kapitalistischen Funktionierens verkommen sei. Der Sinn einer grundlegenden Selbstbesinnung sei verloren gegangen.

Was ist ein gutes und ethisch vertretbares Leben? Welche politischen Ziele sind damit verbunden? Solche Fragen seien verloren gegangen.

„Durch den Versuch, Psychologie in eine Naturwissenschaft umzuwandeln, beging die Psychoanalyse den Fehler, die Psychologie von den Problemen der Philosophie und Ethik loszulösen“. Die Aufgabe der Psychologie sei die „Rückkehr zu der großen Tradition der humanistischen Ethik. Die Bestimmung des Menschen sei, er selbst zu werden.“

Fromm will, dass die „Kenntnis vom Wesen des Menschen nicht zum ethischen Relativismus führt, sondern zur Überzeugung, dass die Normen einer sittlichen Lebensführung in den Natur des Menschen selbst begründet sind. Ursprung der Tugend ist, im Gegensatz zum Laster, nicht Selbstsucht, sondern die Bejahung des eigentlich Menschlichen. Soll der Mensch Vertrauen in Werte gewinnen wollen, muss er sich kennen lernen und seine schöpferischen Eigenschaften entfalten.“ (Psychoanalyse und Ethik)

Solche Sätze sind heute undenkbar geworden. Es gehört zu den Verlockungen des Fortschritts, alle Weisheiten der Menschheit mit technischen Visionen zu ersticken.

Auch die Pastorentochter würde solche Sätze in Demut verspotten. Fromme Christen haben Gott, der ihre schwarze Seele durchschaut und erlöst – und gottlose Marxisten halten nichts von Kunststücken des Bewusstseins.

Entsprechend ist das Verhalten der sachlichen Physikerin, die keine Gefühle zeigt und sich in der Öffentlichkeit bedeckt hält. Nur in ausgewählten Kreisen – zu denen ihre Lieblingsschreiber gehören – zeigt sie sich in ihrem privaten Charme. Das schmeichelt den Auserwählten und sie verherrlichen die Rollenspiele der Kanzlerin als unbestechliche Sachlichkeit einer Naturwissenschaftlerin. Was aber ist der Unterschied zwischen Sachlichkeit und kalter Gefühllosigkeit? Ist es Politikern verboten, in der Öffentlichkeit Gefühle zu zeigen? Musste Merkel deshalb zittern, weil sie zwanghaft ihre Gefühle unterdrückte?

Die Intellektuellen von heute haben alle Grundsatzdebatten der 60- und 70er Jahre verdrängt. Stattdessen bewundern sie die Sensationen der Astronomie und die Fortschritte der Technik und fragen nicht danach, ob sich Soziologen und Psychologen rechtmäßig als verlässliche Wissenschaftler bezeichnen lassen dürfen. Schwankende statistische Wahrscheinlichkeiten können sie nicht unterscheiden von objektiv- mathematischen Determinierungen.

Umso überraschender war es also, als die gefühl-lose Kanzlerin mit ihren Liederwünschen ihr Innerstes zu offenbaren schien. War es so? Die Frage wurde gestellt, doch, wie immer, von niemandem beantwortet. Wie hätte man sie beantworten sollen? Kann man aus Liedern und Texten das Innere des Menschen ableiten?

Wäre das keine Legitimierung der Psychologie als Disziplin des Verstehens? Verriet Nina Hagens Lied auch das Leid der jungen Angela in der DDR?

Hoch stand der Sanddorn
am Strand von Hiddensee.
Micha, mein Micha, und alles tat so weh.
Das die Kaninchen
scheu schauten aus dem Bau.
So laut entlud sich
mein Leid ins Himmelblau.
So böse stampfte mein nackter Fuß den Sand
und schlug ich von meiner Schulter deine Hand.
Micha, mein Micha, und alles tat so weh.
Tu‘ das noch einmal, Micha und ich geh‘.

Oder bedeutete der Satz: Du hast den Farbfilm vergessen, dass die Realität der DDR heute zu trist dargestellt wird? Wäre das nicht die Bestätigung des Merkel‘schen Protestes gegen die westdeutsche Hochnäsigkeit, die DDR-Vergangenheit als Ballast zu denunzieren? Ein merkwürdiger Protest. Hatte die Kanzlerin nicht selbst von der Unfreiheit in Ossiland gesprochen? Unfreiheit aber ist kein Ballast? War Nina Hagens Lied nicht die Schilderung eines tiefen psychischen Konflikts?

Und wie steht‘s mit Hildegard Knefs Schlager von den roten Rosen?

Für mich soll’s rote Rosen regnen,
Mir sollten sämtliche Wunder begegnen,
Die Welt sollte sich umgestalten
Und ihre Sorgen für sich behalten.

Soll der Wunsch nach sämtlichen Wundern, nach Umgestaltung der Welt, eine Bestätigung der Merkel‘schen Selbstlosigkeit (Korte) und ihrer Bereitschaft zum Dienen sein?

Können Deutsche keine Texte mehr lesen, kein normales Deutsch verstehen? Oder glauben sie, dass im Falle Merkel alle Anmaßungen des Verstehens nichts als „Küchenpsychologie“ seien? Der Wunsch nach Rosen soll der Wunsch eines bedürfnislosen Stiefmütterchens sein?

Männliche Politiker werden von Journalisten stets auf verborgene, trickreiche Motive abgeklopft. Verspricht da einer nicht wieder mal das Blaue vom Himmel – doch hintergründig will er nur an die Macht und sonst nichts?

Ganz anders bei Merkel. Wenn sie sich naiv stellt, eilen sie ihr zur Hilfe und unterstellen ihr die edelsten Motivationen, die sie aus Bescheidenheit nur nicht zu sagen wagt. Menschen bestehen aus Ich, Über-Ich und Es. Was sie sagen und denken, ist oft das Gegenteil dessen, was ihre Triebbedürfnisse ihnen diktieren. Sie spielen Rollenspiele, die sie selbst nicht wahrnehmen. Bei Angela Merkel soll alles anders sein: sie ist wie ein eindeutiges naives Kind ohne Vor- und Hintergrund. Rollenspiele, die ihre wahren Beweggründe verbergen, kennt sie nicht. So sehen Medien ihre geliebte Mutterfigur. Ja natürlich ist sie Feministin, sogar die beste aller Feministinnen – auch wenn sie es selbst nicht zu sagen wagt.

Vollends der Choral Großer Gott, wir loben dich: taugt er zur Selbstdarstellung einer uneitlen Magd Gottes?

Großer Gott, wir loben dich;
Herr, wir preisen deine Stärke.
Vor dir neigt die Erde sich
und bewundert deine Werke.
Wie du warst vor aller Zeit,
so bleibst du in Ewigkeit.
Starker Helfer in der Not!
Himmel, Erde, Luft und Meere
sind erfüllt von deinem Ruhm;
alles ist dein Eigentum.

Hier entlarvt sich das Innerste der christlichen Sehnsucht nach dem absoluten Sieg über alle Gottlosen und Ungläubigen. Sie wollen nichts weniger als im Schoße Gottes die Welt erbarmungslos richten und bestrafen. Geht’s noch machtgieriger, narzisstischer und gottähnlicher?

Die Deutschen halten nichts von einer Tiefendeutung ihres Noch-immer-Glaubens, dessen Kernstücke sie keinen Deut interessiert. Die Offenbarung muss das Geheimwissen der Lieblinge Gottes bleiben. Wer hier mit dem Verdacht auf Narzissmus käme, der sei verflucht.

Esoteriker auf der Straße werden von Merkels medialen Garden verflucht. Wahre Esoteriker wie ihre Kanzlerin aber werden von ihnen zur heiligen Mutter Germaniens gekrönt.

Die deutsche ecclesia patiens der Nachkriegszeit hat es geschafft. Aus dem Staub der Niederlage hat sie sich zur ecclesia triumphans erhoben. Wartet auf uns jetzt die Selbsterhöhung zur ecclesia militans? Dann Gnade uns Gott.

 

Fortsetzung folgt.