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… zum Logos LXXXVII

Tagesmail vom 29.06.2022

… zum Logos LXXXVII,

es gibt Wichtigeres als die monotone Verurteilung des Antisemitismus: wir müssen bereits seine Entstehung verhindern.

Wenn es dabei nicht einige kleinere Probleme gäbe. Auf der jüdischen Seite hören wir die entmutigende Formel, Antisemitismus werde es immer geben, selbst, wenn es keine Juden gäbe.

Auf der nicht-jüdischen sieht man kaum Bemühungen, um den Judenhass bereits in der Schule zu verhindern.

Beide Seiten verlassen sich auf die Arbeit der Polizei und auf die Macht inhaltsloser Empörung.

Was wäre die Voraussetzung, um auf beiden Seiten des antisemitischen Konflikts die Entstehung der Seuche zu verhindern?

Deutschland und Israel, beide Staaten müssten sich unverdrossen zu humanen Demokratien entwickeln. Nur Humanität könnte die Menschen von der Überlebenskraft menschlicher Verbundenheit überzeugen.

Auf der Seite der Nichtjuden wäre das Vorbild der Heide Sokrates, dessen Weisheit lautete:

„“Die Philosophie sagt immer dasselbe“, nämlich die Wahrheit, dass es nur ein wirkliches Unglück gibt, schlecht oder ungerecht zu handeln, und nur ein wirkliches Glück, (eudaimonie), gut und gerecht zu handeln. Der gute Mensch ist stärker als der böse. Diese Ethik beruht auf den beiden Pfeilern der Autonomie und Autarkie. Hier handelt es sich um keine göttlichen Gebote, die befolgt werden müssen: diese Lebenshaltung ist aus dem Wesen des Menschen abgeleitet und an der Erfahrung erprobt. Wer sie durchführt, ist der wirklich starke, freie und tapfere Mensch, der nichts, auch den Tod nicht fürchtet und unabhängig, fest und sicher im Sturm des Lebens steht.“

Auf der Seite der Juden steht der „liberale“ Rabbi Hillel, dessen Grundformel identisch war mit der Goldenen Regel, die in vielen Kulturen der Welt ihre Gültigkeit hatte:

„Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht – dieses ist die ganze  Tora.“

War diese universelle Ethik vereinbar mit der Selektion eines auserwählten Volkes? Sind Sokrates und Hillel etwa vollständig kompatibel?

Dann gäbe es keinen Unterschied zwischen jüdischer Religion und der Vernunft der Völker.

Schauen wir zuerst bei Spinoza nach, dem jüdischen Philosophen aus Holland, der schwere Konflikte mit seiner jüdischen Gemeinde auszufechten hatte:

„Der Tora wird von Spinoza eine „immerwährende Gerechtigkeit“ abgesprochen. Sie wird zur »profanen Rechtsordnung des längst untergegangenen Reichs der Hebräer degradiert. Damit wird die Tora historisiert und profaniert, sie gilt nur noch als vergängliches, irdisches Dokument aus einer vergangenen Epoche.«
Relevanz der Tora für die Juden von heute wird bestritten, dem rabbinischen Judentum in Vergangenheit und Gegenwart der Lebensnerv abgeschnitten. »Moses begründet seine Lehre nicht durch die Vernunft, sondern fügt seinen Befehlen eine Strafordnung bei: Strafen müssen je nach Charakter der einzelnen Völker verschieden sein, wie die Erfahrung zur Genüge lehrt.«“ (Christoph Schulte, Die jüdische Aufklärung)

Spinoza war der große Rebell des Judentums, der von orthodoxen Rabbinern abgrundtief gehasst wurde.

Moses Mendelssohn war der Vater der jüdischen Aufklärung in Deutschland. Doch statt Rebellion bevorzugte er den versöhnlichen Kompromiss.

Die Tora ist für ihn „geoffenbarte Gesetzgebung“, die nur für Juden gelte. Sie verkünde keine universalen Religionswahrheiten wie die Existenz Gottes oder die Unsterblichkeit der Seele. Gleichwohl widerspreche seiner Überzeugung nach nichts im Judentum den allgemeinen Vernunftwahrheiten einer natürlichen Religion. Juden könnten rechtgläubig bleiben und zugleich, im Einklang mit persönlichem Glück und höchstem Staatswohl, als gleichberechtigte Aufklärer und Bürger in einem religiös neutralen Staat leben.“

Mendelssohn verteidigt nicht nur die Tora als Offenbarung, sondern auch Talmud und Halacha als notwendige Bestandteile des Judentums.

Auch für den Neukantianer Hermann Cohen gilt noch die Formel, dass „Gottes Gesetz keinen Widerspruch bildet zur Autonomie des Willens.“ (Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums)

In der zweiten Generation der jüdischen Aufklärer nach Mendelssohn kommt‘s zum Bruch zwischen Vernunft und Glauben. Nicht mehr die Vereinbarkeit von Judentum und Aufklärung wird gefordert, sondern die Reform des Judentums im Namen der aufgeklärten Emanzipation.

Saul Ascher, Lazarus Bendavid oder David Friedländer brechen mit der autonomie-feindlichen Tradition der Rabbiner. Saul Aschers Forderung nach Reform des Judentums attackiert die Tora des Moses und ihr Status als Offenbarung. Die Halacha „muss der moralischen und bürgerlichen Selbstbestimmung im Zeichen Kants weichen“.

Religion wird für Saul Ascher zum Menschenwerk und muss dem kategorischen Imperativ der Vernunft den Vortritt lassen. Biblische Gebote werden für das moderne Judentum unwesentlich. Im Namen der Emanzipation und Aufklärung können sie nach Belieben reformiert oder abgeschafft werden. Buchstäbliches Festhalten an der mosaischen Offenbarung wird als Rückständigkeit der Tradition betrachtet.

Bendavid will eine Veränderung der jüdischen Religion und propagiert moralische Selbstbestimmung. Er schreibt:

„Lehret eure Kinder Menschenliebe, flößt ihnen den Grundsatz Hillels, des größten Lehrers unserer Religion ein, nämlich den Grundsatz ein: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, zeigt euch der Welt, wie der Allvater euch haben wollte, als genügsame und friedfertige Menschen.“

Bendavid „reduziert die Bücher Mose auf die natürliche Religion und die allgemeine Humanität. Salomon Maimon, Kantianer wie sein Freund Bendavid, hat für religiöse Tradition nur noch Spott übrig.“

Für Salomon Maimon, einen der radikalsten Aufklärer, der sich als einer der ersten Juden Europas öffentlich zu einem irreligiösen Judesein bekannte, war „Moses weder ein Prophet noch ein aktuell maßgeblicher Gesetzgeber, ein Held oder gar der Geschäftsträger eines ungeglaubten Gottes.“ (alle Zitate in Schulte, Die jüdische Aufklärung)

Ist jüdische Religion vereinbar mit der Vernunft – oder ist sie die Offenbarung eines Gottes, der man bedingungslos gehorchen muss? Wird der Gehorsame belohnt, der Frevler bestraft?

Für Kant war Autonomie der moralischen Vernunft unvereinbar mit Lohn oder Strafe aus göttlicher Hand. Das wäre die Untergrabung freier Selbstbestimmung, ein typischer Fall von Heteronomie (Fernlenkung).

Antisemitismus begann als Hass der Christen gegen die Juden, die den Erlöser am Kreuz verhöhnten und verlachten. Dieser Hass begleitete Christen und Juden während der gesamten Entwicklung des Abendlandes.

Zwar gab es durchaus längere Zeiten eines friedlichen Nebeneinanders, die aber von Pogromen und Verfolgungen abrupt unterbrochen werden konnten. Je mehr die Hochkultur ihre Konflikte anschwellen ließ, je mehr wurden die Juden zu Sündenböcken unlösbarer Probleme.

Der religiöse Urkonflikt erweiterte sich immer mehr mit aktuellen Problemen der voranschreitenden Zeit. Als das Deutschland der Bismarckzeit sich in rasendem Tempo zur führenden Macht der europäischen Mitte entwickelt hatte, plötzlich aber in ein ökonomisches Loch fiel, war die Suche nach den Schuldigen schnell erfolgreich: es waren jene einstigen Ghettobewohner, die von Napoleon emanzipiert wurden und sich mit überragender Intelligenz und Energie zu gleichberechtigten Bürgern hochgearbeitet hatten.

Nur diese Neureichen konnten die triumphale Entwicklung der Deutschen gestört und für ihren eigenen Erfolg ausgebeutet haben. Uralte antisemitische Ressentiments brachen auf, angereichert mit angeblich wissenschaftlichen Ergebnissen der Rassenkunde und des Darwinismus. Luthers vor Wut schäumende Hassschriften gegen die Juden schienen die Ergebnisse der modernen Rassenkunde vorausgeahnt zu haben.

Auf keinen Fall war es so, wie es heute dargestellt wird, als hätten sich beide Religionen stets im wüsten Nahkampf befunden. Im Gegenteil: es gab tatsächlich so etwas wie eine jüdische-deutsche Symbiose.

Hermann Cohen konnte diese Symbiose nicht genug bewundern:

„An diesem Hauptpunkte sollte nun wiederum jedermann die innere Gemeinschaft zwischen Deutschtum und Judentum fühlen. Denn der Begriff der Menschheit hat seinen Ursprung im Messianismus der israelischen Propheten. Und es dürfte, auch abgesehen von Herder, außer Zweifel stehen, dass der biblische Geist auch im deutschen Humanismus als tiefste Ursache gewirkt hat.“ (Deutschtum und Judentum)

Zwar muss der Inhalt dieser Thesen energisch bestritten werden – die Humanität der modernen Demokratien stammt vom heidnischen Athen –, gleichwohl bleibt es erstaunlich, wie sehr Cohen beide Religionen als wesensverwandt erleben konnte.

Cohens Bewunderung für die Deutschen konnte kaum übertroffen werden:

„Das Deutschtum muss zum Mittelpunkt eines Staatenbundes werden, der den Frieden der Welt begründen und in ihm die wahrhafte Begründung einer Kulturwelt stiften wird.“ (ebenda, aus dem Jahre 1915!!)

Von diesem gemeinsamen Geist waren die Juden so überzeugt, dass sie in den ersten Jahren Hitlers nicht damit rechnen konnten, über Nacht das absolute Grauen zu erleben. Diese anfängliche Arglosigkeit der deutschen Juden wurde ihnen von den Zionisten in Israel so übel genommen, dass diese sich weigerten, nach Kriegende die überlebenden „Seifenstückchen“ in ihr Land zu lassen. Widerstandsloses Leiden und Dulden widersprach dem neuen kraftstrotzenden Menschenideal der Zionisten.

Gordon A. Craig bestätigt die „Familienähnlichkeit“ zwischen beiden Völkern:

„Die Familienähnlichkeit zwischen den beiden Völkern ist auffallend und zeigt sich in ihrem Fleiß, ihrem Sinn für Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, ihrer Beharrlichkeit, ihrem starken religiösen Empfinden, ihrer Wertschätzung der Familie und ihrer gemeinsamen Achtung vor dem gedruckten Wort, die die Juden zum Volk des Buches und die Deutschen zum Volk der Dichter und Denker gemacht hat. Sie beschränken sich nicht auf pragmatische Ziele, sondern haben den Faustischen Ehrgeiz gemeinsam, um die Geheimnisse des Universums zu ergründen und das Rätsel der Beziehung Mensch – Gott zu lösen, das sowohl deutsche Metaphysiker wie Kant, Hegel und Schelling wie die jüdischen Kabbalisten beschäftigte. (Über die Deutschen)

Die Behauptung einer deutsch-jüdischen Symbiose wird von heutigen Juden mit Abscheu zurückgewiesen. Bloße Gefühlsverwirrungen aber machen es nur umso schwerer, das Verhängnis in seinen Tiefendimensionen zu verstehen.

Das zeigt die Misere der Documenta. Einen Menschen kennen zu lernen, ist eines der schwierigsten Angelegenheiten des Miteinanderlebens. Es gibt so viele glatte Oberflächen und solch abgründige Tiefen des normalen Menschen. Wie schwer ist es selbst für Experten, die Psyche angeklagter Schwerverbrecher vor Gericht zu erkunden, um ihre „Schuldfähigkeit“ festzustellen.

Wie viel schwerer muss es sein, die Psyche unbekannter Verdächtiger allein auf Grund von Schlagwörtern zu ermessen?

Die Fähigkeit, fremde Menschen allein anhand ihrer politischen Reden zu analysieren, scheint für Deutsche ein Kinderspiel zu sein. Sie bedienen sich der eleganten Methode historischer Assoziationen: der Boykottaufruf des BDS erinnere fatal an die einstige Formel: Kauft nicht bei Juden!

Oberflächlicher und abstruser geht es nicht. Was würde geschehen, wenn einem Menschen, der aus Erkenntnisinteresse Hitler zitiert, ins Gesicht gesagt werden würde: deine Rede hat mich fatal an den Führer erinnert, jetzt bist du fällig.

Einen Putin können sie jahrelang in allen Variationen und bei allen möglichen Ereignissen erlebt haben: nie wären sie auf die Idee gekommen, in diesem Geheimdienstler einen kommenden Weltverbrecher zu erkennen.

Heute wird der Menschenschlächter wahlweise mit Mussolini, Stalin, ja mit Hitler verglichen – doch vor kurzem noch waren die kleinsten unheilvollen Prognosen über den Kreml-Chef strikt verboten!

Verdächte und instinktive Vermutungen hat jeder Mensch. Doch in jedem schlechten Krimi werden wir belehrt, dass Gefühle noch lange keine beweisbaren Indizien sind.

Ist die folgende Feststellung eine maßlose Übertreibung?

„Es ist eines der Rätsel der modernen Geschichte, wie ein Volk, das einen so wertvollen Beitrag zur westlichen Kultur geleistet hat, sich einem Regiment unterwerfen konnte, das sich innerhalb einer Zeitspanne von zwölf Jahren derartiger Verbrechen schuldig machte.“ (H. G. Meyer, Das Ende des Judentums)

Das ist noch nicht alles: Assoziationen sind Fern-Verdächtigungen – ohne Gespräche wie bei den Kriminalpsychiatern, ohne Möglichkeiten, tiefere Fragen zu stellen. Alles spielt sich ab in medialer Distanz. Je geringer die Aussagefähigkeit der Zitate und Schlagwörter, umso drastischer der finale Hammerschlag: es könnten keine Zweifel mehr bestehen, dass wir einen neuen Höhepunkt des Antisemitismus erleben würden.

Nicht anders bei den indonesischen Künstlern, die ihre Malereien in Kassel präsentierten. Wie wahrscheinlich ist es, dass sie ausgerechnet den Gastgebern ihre unbearbeitete Vergangenheit vorwerfen wollten?

Oder noch schlimmer: wollten sie den Deutschen vorwerfen: wie konntet ihr nur – unter dem Druck politischer Korrektheit – eure Vergangenheit so erbarmenswürdig verleugnen und verdrängen? Wie waren wir Indonesier doch begeistert, als wir eure Empörung wider die bigotte Welt entdeckten. Eben dies inspirierte uns zu unseren Judenfratzen.

Also visualisierten wir den Protest wider unsere Despoten exakt so, wie wir ihn bei euch entdeckt hatten. Wie die Deutschen einst die Juden empfanden, so empfinden wir heute unsere Blutsauger und Unterdrücker.

Träfe diese Vermutung zu, bliebe nur die Schlussfolgerung: das Gemälde benutzte ästhetische Zitate, wie Historiker Hitler zitieren müssten, um den Führer durch seine Reden zu dechiffrieren.

„Ich treffe Abdu in einem alten Fort der Niederländer auf der Insel Ternate in den Nord-Molukken. Er sagt lächelnd: „Aku suka Hitler.“ (Ich mag Hitler.) Ich halte mein Mobiltelefon hoch und er spricht das noch einmal in meine Kamera: „Ich mag Hitler, weil er nicht aufgegeben hat.“ Abdu macht seinen Rücken krumm: „Immer, wenn er einen Rückschlag erlebte …“, Abdu drückt den Rücken durch, „ist er wieder aufgestanden“. Ich frage Abdu nach Konzentrationslagern, nach dem Bombenkrieg im Zweiten Weltkrieg. Abdu winkt ab: „Das ist eine andere Sache, darüber rede ich nicht.“ (Berliner-Zeitung.de)

Wir müssen feststellen: andere Kulturen nehmen das deutsche Debakel aus der Ferne anders wahr, als wir es aus der Nähe erleben.

Wer hat mit den Künstlern geredet? Wer hat sie nach der Bedeutung ihre Bilder gefragt, die schon lange bekannt waren, aber keinerlei Aufsehen erregt hatten?

Wie die Deutschen nicht mehr miteinander sprechen, so sprechen sie auch mit niemandem mehr in der Welt. Sprache ist für sie kein Mittel mehr, um Dinge in mühsamen Dialogen aufzuklären.

Oberflächliche Assoziationen genügen, um die Antisemiten der Nation unfehlbar aus der Masse der Mitläufer zu selektieren und an den Pranger zu stellen. Nun trifft der Verdacht ausländische Künstler.

Sollten wir von einem post-kolonialen Überheblichkeitswahn der Deutschen und einem gefährlichen Verfall der internationalen Antisemitismus-Debatte sprechen?

Wir sollten.

 

Fortsetzung folgt.