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… zum Logos LXXXVIII

Tagesmail vom 01.07.2022

… zum Logos LXXXVIII,

auf dem Bild sieht man die Ermordung Marats durch Charlotte Corday. Ruft der Maler zur Ermordung von Menschen auf, die er verabscheuenswert findet? (Wikipedia.org)

Wohl kaum. Kunst war – vor Erfindung der Photographie – eine objektive Wiederspiegelung der Realität, wenn auch mit subjektiven Mitteln. Das Subjektive durfte die Objektivität des Dargestellten nicht beeinträchtigen.

Anders wurde es, als die objektive Technik des Ablichtens zur Konkurrenz der Kunst wurde. War sie mit Erfindung des Fotoapparates nicht überflüssig geworden?

Kunst geriet in die Krise und musste ihre Existenzberechtigung ganz neu nachweisen. Es entstand die Moderne Kunst in ihren verschiedenen, oft verwirrenden Variationen.

Schon der Begriff Surrealismus zeigte, dass die Sphäre der Normalität verlassen wurde, um unbekannte, verdrängte oder verleugnete Realitäten aufzusuchen und darzustellen.

Nicht verwunderlich, dass der ästhetische Sprung ins Über- und Unterreale just stattfand, als Sigmund Freud bei der Erforschung psychischer Leiden in Regionen vordrang, die von empirischen Wissenschaftlern ignoriert, verleugnet oder verachtet waren: in das Reich des Unbewussten. Es spaltete sich auf in das ES oder in das Reich des Verbotenen und in das Reich des Über-Ich, des unbestechlichen Beobachters und Richters des Menschen. Der spanische Surrealist Salvadore Dali beschäftigte sich intensiv mit der umstrittenen neuen Seelenkunde aus Wien.

Das ES war der Bereich des moralisch Verbotenen, dessen der Mensch sich schuldig fühlen musste. Um der bedrückenden Schuld zu entfliehen, wurde das Anrüchige kurzerhand vom Menschen in das Reich seelischer Dunkelheit verdrängt.

Aber auch das Über-Ich – in früheren Zeiten die Stimme Gottes, der Eltern oder Autoritäten – durfte nicht ans Licht. Man fürchtete die Strenge eines unnachgiebigen Moralgesetzes.

Blieb der Bereich des ICH, des Bewussten, Hellen und Kommunizierbaren. Das war das seelische Gebiet des Normalen und Bekannten.

Das Revier des ES galt als irrational, das des Über-Ich nicht minder. Das alltägliche ICH hingegen war die Stimme des Rationalen und Verlässlichen – aber nur in Grenzen. Denn das ICH stand in unbekanntem Maß unter dem Einfluss des ES und Über-Ich.

Bislang bewertete der Mensch sein Fehlverhalten als Sünde oder Ungehorsam gegen Göttergesetze. Je mehr die Götter abgeschafft wurden, mussten die „Sünden“ der Sterblichen umgedeutet werden.

Freud verzichtete auf theologische Deutungen und erfand seine dreischichtige Seele aus einem bisschen Bewusstsein im Dienst des Alltags, die Stimme strenger moralischer Regeln, die einem nur das heitere Leben vergällen konnten – und dem düsteren Bereich des Moralfeindlichen, das keinerlei Regeln anerkennen und sein Leben in unbezähmbarer Wildheit leben wollte.

Das ICH wollte Kultur, das gesittete Zusammenleben, die Verständigung auf dem unendlichen Weg des technischen Fortschritts.

ES und Über-Ich kümmerten sich nicht um kulturelle Erfolge, sie stellten den unreglementierten Widerstand wider alles Domestizierte und Hochmoralische dar und begnügten sich mit irrationalen Bocksprüngen des Augenblicks.

Sie schauten weder nach vorne, noch zurück. Das ES konnte sich mit Argumenten nicht rechtfertigen, das Über-Ich kannte kein Erbarmen und hielt sich für allwissend und unfehlbar.

In traditioneller Sprache: Über-Ich war die gnadenlos verurteilende Stimme Gottes, ES das unartikulierte Plärren und laszive Sirren des Teufels.

Das kleine ICH mitten zwischen den beiden rivalisierenden Gewalten musste sich ständig entscheiden, ob es der Befehlsstimme Gottes oder dem verführerischen Girren des Teufels folgen sollte.

Je strenger das Über-Ich, umso ausgedehnter der Sumpf unbewusster Triebregungen. Je unerbittlicher der Gott, desto engbrüstiger das Leben. Meine Schuld, meine Schuld, meine übergroße Schuld: am Ende bestand das Leben nur noch aus bußfertiger Furcht – und vager Hoffnung auf Vergebung.

Mit dem Tode Gottes starb auch das enge Korsett seiner Regeln. Wer nicht all sein Hoffen auf den Erlöser setzte, krümmte sich zum Wurm im irdischen Elend.

All das widersprach den Vorstellungen eines freien Künstlers. Was blieb ihm noch zur Darstellung, wenn das Schöne und Gute seine Bedeutung verloren hatte? Der desorientierte Künstler tat dasselbe wie ein seelisch Leidender in Freuds Therapie: er musste sich jener Erfahrungen erinnern und ins Bewusstsein zurückholen, die er durch eine überstrenge Erziehung verloren hatte.

Wo ES war, soll ICH werden. Nicht nur der Morast verbotener Triebregungen musste ausgedörrt, auch die unerbittliche Stimme eines Moralgesetzes sollte lieblicher und angenehmer werden.

Nicht länger mehr war das ICH der Knecht verbotener Triebe und strenger Reglements, es konnte sich befreien zum Herrn seiner Bedürfnisse und selbstbestimmten Freiheit.

Eben dies wurde zum unermesslichen Betätigungsfeld der neuen Kunst. Sie erkundete das, was bislang als irrational und surreal galt. Sie erforschte die dunklen Bereiche ihres bislang Verbotenen, um ihr gedemütigtes Bewusstsein zu befreien.

Werner Hofmann beschreibt diesen Vorgang der Entfesselung in seinem Buch „Grundlagen der modernen Kunst“:

„Der Leser wird aufgefordert, sich nicht bei den rationalen Denkanweisungen des Buches aufzuhalten, sondern bis an den Punkt vorzudringen, wo das Kunstwerk sein Innerstes als Befremdung freigibt. Denn der Künstler benennt, in einem Akt ungeheurer herausfordernder Anstrengung, das schier Unnennbare. Der Philister verlangt platteste Verständlichkeit. Er braucht das dumpfe Behagen, vom Künstler bleibende, allgemein gültige Werte zu fordern und beargwöhnt jede Abweichung vom Herkömmlichen als Anarchie. Er verlangt unaufhörlich das Moralische als das Gefällige, das Angenehme und sittlich Erhebende. Der Konservative benötigt das Kunstwerk als Rückendeckung seiner politischen Ideale: sie heißen Mäßigung, Bürgerfrieden und Untertanentreue.“

Wie vertragen sich die Empörungen einer selbstbewussten Kunst mit einer Kunstausstellung, die den Über-Ich-Forderungen einer Erinnerungskultur zu gehorchen hat? Hier der staatlichen Erinnerung an den Holocaust? Schließen sich Gedenken an ein unermessliches Verbrechen und frei flottierende Kunst nicht gegenseitig aus?

Moderne Kunst spricht viele Sprachen. Doch mit der wesentlich größeren Eindeutigkeit der geschriebenen Sprache kann sie nicht konkurrieren. Die irreale Sprache der Kunst müsste interpretiert werden – obgleich eine eindeutige Interpretation ausgeschlossen ist.

Mit Paul Feyerabend, dem abtrünnigen Schüler Poppers, könnten wir sagen: alles ist möglich. Solange die Kunst im Bereich der Kunst bleibt, ist die Regel tatsächlich von keiner anderen zu ersetzen. Was aber, wenn beliebig scheinende Kunst auf einen streng behüteten politischen Inhalt trifft – wie auf die Erinnerung an den Holocaust?

Hier droht die minimalste Abweichung vom Bekannten zum Sakrileg zu werden. Hier müssten Fragen gestellt werden, die eigentlich selbstverständlich wären. Doch niemand denkt daran, das Selbstverständliche zu tun.

Was wollte uns der indonesische Künstler mit seiner Darstellung hässlich verzerrter Judengesichter sagen? Wollte er sich tatsächlich als fanatischer Antisemit offenbaren, um in Deutschland Beifall zu erhalten?

Gesunder Menschenverstand reicht, um uns zu sagen: völlig unwahrscheinlich. Da muss man die Künstler selbst noch gar nicht gesprochen haben. Hat man sie aber gesprochen, was eigentlich trivial sein müsste, erfahren wir:

„Die Mitglieder des Kollektivs Taring Padi, das gerade die Kunstwelt und Öffentlichkeit schockiert hat, sitzen vor dem riesigen Schwimmbad, das sie für ihre Bilder bekommen haben und scheinen vollkommen überrumpelt, von dem was gerade passiert. Sie fühlten sich ziemlich hilflos, sagen sie. »Wir wussten nicht, dass unser altes Bild in Deutschland Gefühle verletzen würde. Es wurde schon oft auf Ausstellungen gezeigt. Wenn wir gewusst hätten, wie die Reaktionen sind, hätten wir es nie aufgehängt«, sagt der Künstler Sri Maryanto, 46. »Ich dachte, dass man als Künstler gerade in einem Land, in dem Meinungsfreiheit herrscht wie in Deutschland, sich über mehr Grenzen hinwegsetzen darf.« Ist es möglich, dass sich fünfzehn Aktivisten viele Monate auf die Documenta vorbereiten, einige davon leben und arbeiten in Deutschland, und sich nicht mit der Geschichte des Landes auseinandersetzen? Von niemandem darauf angesprochen werden? Keine Fragen von der Leitung der Documenta kommen? Drei Mitglieder der Gruppe haben sich zu einem Treffen bereit erklärt. Wer in ihre Gesichter blickt, sieht Irritation, Enttäuschung und Angst. »Das ist ein Schock. Wir sind keine Antisemiten. Wir wissen nicht einmal, wer hier über uns urteilt.«“ (SPIEGEL.de)

Die Stummheit der Deutschen, seit Jahren von ihrer Kanzlerin politisch vorexerziert, wird zur Gefährdung des Gemeinwesens. Nun dringt sie in die internationale Kunst und bestärkt die Ressentiments der Schwellenländer, deren Unterlegenheitsgefühle durch die Stummheit noch zusätzlich beschämt werden.

Alle sprechen über das post-koloniale Gefälle, keiner denkt daran, dieses Gefälle durch Zuhören, Verstehen und Debattieren zu überwinden.

Eben das ist die Machtsprache der noch immer dominanten Kolonisierungsländer: für uns ist alles klar. Wir haben uns mit uns selbst geeinigt. Wer nicht unsere – stumme – Sprache mitsprechen kann, bleibt außen vor.

In Deutschland wollten sie lernen, erklärten die Künstler. Ist das keine wunderbare Aussage, zu der hierzulande niemand fähig wäre? Wer lernen will, muss Fragen stellen. Womit klar sein müsste: das ästhetische NS-Zitat war eine Frage. Könnt ihr Deutschen wirklich behaupten, ihr habet eure Vergangenheit aufgearbeitet, wenn ihr bei solchen Erinnerungen in die Luft geht?

Verfügt ihr nicht über die geringste Kunst des Verstehens fremder Kulturen, wenn ihr nicht mal die simpelsten Fragen stellen könnt? Freilich, Verstehen von Verbrechern und Terroristen haltet ihr für kriminelle Kumpanei, wie wir in euren reißerischen Gazetten nachlesen können. Das ist Psychologie mit dem Holzhammer. Hätten wir das gewusst, wären wir zu Hause geblieben oder hätten ein anderes Partnerland gesucht.

Ja, die Frage nach den Juden, euren Opfern, hat uns tatsächlich umgetrieben. Weshalb wir unseren Vorschlag nach einem Gespräch mit einem Zitat provozieren wollten. All das könnt ihr nicht verstehen und beschämt uns zudem mit dem Vorwurf, wir wären identisch mit dem, was wir dargestellt haben? Am liebsten würden wir unsere Malkästen einsammeln und nach Hause fahren. Vom Volk der Dichter und Denker, von dem wir hofften, politisch und künstlerisch zu profitieren, hatten wir anderes erwartet.

Für Alan Posener ist das Gerede vom überlegenen Globalen Süden – Humbug. Die Künstler würden von Idyllen der Vergangenheit träumen, die es nie gegeben habe. Ihre Kritik am kapitalistischen Fortschritt sei kein Beweis für eine überzeugende Kunst.

„Denn das ist eine Regel, die zu Marxens Zeiten genau so galt wie sie heute gilt: Wer links ist, begrüßt die Fortschritte der bürgerlichen Gesellschaft und baut auf ihnen auf. Wer mit diesen Fortschritten nichts anzufangen weiß, ist reaktionär. Die Documenta fifteen ist eine reaktionäre Kunstschau. Das Gerede vom „Globalen Süden“, der angeblich einen ganz anderen, moralisch besseren, vom Kapitalismus unverdorbenen Blick auf die Welt habe, ist reaktionär. Lumbung ist Humbug.“

Der WELT-Schreiber hat es nicht mal nötig, direkt auf den Antisemitismus-Vorwurf einzugehen. Er bevorzugt den KO-Schlag um die Ecke. Wer einen derart rückwärts gewandten Blick in die Geschichte propagierte – kann es nicht wert sein, als Antisemit an den Pranger gestellt zu werden. (WELT.de)

Susanne Beyer geht auf vermutliche Intentionen der Indonesier gar nicht erst ein. Vor allem müsste es um Kritik an den Deutschen gehen, die sich gefälligst aller Israelkritik zu enthalten hätten. Das wisse doch jeder: Israelkritik sei nichts anderes als hintergründiger Judenhass. Diese Formel scheint nun in Deutschland amtlich geworden sein und wird alle Netanjahus erfreuen: wenn es geglückt ist, die Kritik an den israelischen Völkerrechtsverbrechen mit der Wunderwaffe abzuwehren: das ist die Tarnung eines ordinären Antisemitismus, werden wir diese lästigen Attacken bald für immer erledigt haben:

„Ist es denn überhaupt ein Akt der Belehrung, wenn man als Deutscher oder Deutsche darstellt, dass die Gründung des Staates Israel mit den deutschen Verbrechen zusammenhängt und dass hierin der entscheidende Unterschied zu kolonialistischen Bestrebungen liegt? Es ist doch erst einmal dies: Eine Aussage über uns selbst. Der Versuch, die Schuld der eigenen Vorfahren zu sehen, der Versuch, damit umzugehen. Ein Eingeständnis des Nazihintergrunds, den eben sehr, sehr viele hierzulande haben. Ein Eingeständnis, dass es in diesem Land einen aktuellen Antisemitismus gibt, der sich wiederum häufig hinter Israelkritik versteckt und der – das passiert eben leider auch – bei diesem Versteckspiel auch mal Israelkritik aus anderen Ländern nutzt.“ (SPIEGEL.de)

Dass man den „Skandal um Kassel“ auch ganz anders sehen kann, beweisen die Beiträge von Shany Littmann und Eva Menasse.

„Selbst wenn die auf der Documenta 15 präsentierte Kunst nicht sonderlich charismatisch oder interessant sein mag – und selbst wenn es keine „Kunst“ im klassischen Sinn des Wortes ist –, sind die Fragen, die diese Ausstellung aufwirft, zweifellos essenziell wichtig. Es ist höchste Zeit, sie zu diskutieren. Leider wirkt es, als würden diese Fragen in Deutschland momentan in jener Staubwolke untergehen, die der Skandal um die als antiisraelisch und antisemitisch empfundenen Bilder aufgewirbelt hat.“ (Berliner-Zeitung.de)

„Meinen die das wirklich ernst, die Jacques Schusters, Stephan Grigats, Boris Pofallas, Alexander Neubachers und Stefan Trinks? Ganz Kulturdeutschland antisemitisch unterwandert – und damit praktisch sämtliche deutschen Fachleute, die in unzähligen Büchern und Studien die deutsch-jüdische Geschichte, den Holocaust und den Antisemitismus erforscht haben und international hoch angesehen sind? Ebenso alle Kulturvermittler und Kuratoren vom Goethe-Institut bis zum Haus der Kulturen der Welt? Aber so ist leider der völlig enthemmte Zustand der deutschen Debatte beim Thema Antisemitismus, und das macht sie inzwischen wirklich gefährlich. Dabei hat sich an den Zahlen seit Jahrzehnten wenig verändert. Der ungefähre Anteil an Antisemiten bleibt mit zehn bis fünfzehn Prozent stabil, allerdings tragen die sozialen Medien zusammen mit der Coronapandemie zu einer messbaren Radikalisierung der Mitte bei. Weiterhin werden rund 80 bis 90 Prozent aller antisemitischen Gewalttaten, also von Körperverletzung bis Mord, von deutschen Neonazis begangen. Der nächste Anschlag à la Halle ist bestimmt längst in Planung. Und deren Netzwerke reichen bekanntlich bis in Polizei und Bundeswehr. Aber lasst uns doch noch ein wenig über Wandteppiche aus Indonesien reden.“ (SPIEGEL.de)

Welches Fazit ziehen wir? Die Erinnerungsarbeit an den Holocaust hat jeden Erkenntniswert verloren. Deutsche und Juden spielen ihre komplementären Täter- und Opferrollen nach religiös-versteinerten Riten und Texten.

Was das alles bedeutet, interessiert niemanden mehr. Noch husch ein – mögliches – Skandälchen zum Skandal aufblasen und beide Regierungen reiben sich die Hände: alle suizidalen Krisen in der Welt können wir getrost weiterhin verlottern lassen.

Die deutsch-jüdische Symbiose ist zur deutsch-jüdischen Unschuldsgeste an allen Welt-Problemen verkommen. Morgen werden die Akten geschlossen.

Aufruhr in Kassel? Was war da nochmal?

Fortsetzung folgt.