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Tagesmail

Zorn Gottes

Hello, Freunde des Zornes Gottes,

Pegida hat mit Eskalation gedroht. Was ist bedrohlicher als stumm sein? Christliche Choräle schmettern.

Heute Abend wollen die Dresdner Abendlandisten nicht mehr störrisch schweigen, sondern – christliche Weihnachtslieder anstimmen: Welt ging verloren, oh du fröhliche.

Freudig haben alle Kritiker und Warner vor Pegida dem Friedensangebot zugestimmt: alle Zentralräte der Muslime, Juden und Katholiken, protestantische Presbyterien aus allen Teilen des Heiligen Reiches neudeutscher Nation sitzen bereits in Fernbussen und eilen in froher Erwartung dem Fest der Versöhnung zu. Blechbläser der Philharmonie werden in dulci jubilo anstimmen, Gabriel wird mit Kretschmann eine Dialogpredigt halten, Giovanni di Lorenzo mit Ines Pohl eine mediale Meditation über das Heilige im Umbruch der Zeiten anbieten, eine ökumenische Querfront aus Linken und Rechten, Hand in Hand mit Burka-Feministinnen, wird vor der Krippe das liebe Jesulein – pardon, aus Gendergründen – die allerliebste Conchita Jesua und den jungfräulichen Josef auf Knien anbeten.

Auf dem Boden des gemeinsamen Abendlandes, im Schein vieler Kerzen, liegen heute Abend alle, die mit Bewusstsein deutsch und frömmlerisch sein wollen, sich gegenseitig in den Armen. Eliten und Pöbel haben sich wieder lieb: sie alle sind das Volk – Gottes. Verdammt sei, wer sich völkisch daneben benimmt. Den wird der Zorn des Himmels treffen.

Harter Schnitt und Warnung. Hiermit wird gewarnt. Vor allen Warnern, die vor allem und allen warnen, nur nicht vor sich selbst. Warnen ist zum Lieblingssport deutscher Eliten geworden, wenn sie Gefahren wittern, vor denen sie sich

ohnmächtig fühlen. Doch sie dürfen es nicht verraten. Wer zuerst, wer am lautesten gewarnt hat, gehört zu den Guten.

Sie warnen vor allem Möglichen und Unmöglichen, vor ständig drohenden Abgründen, speziell in der Wirtschaft, vor Einwanderung ins Sozialnetz, dunkelhäutigen Ausländern, Menschen mit Migrationshintergrund und Hartz4-Vordergrund, hedonistischen Rentnern und sexsüchtigen Jugendlichen, Frauenquoten in Vorständen und Männerquoten in Kitas. Kurz: vor allem irrationalen und unerklärbaren Bösen.

Nur nicht vor Priestern und Propheten, kirchlichen Schariarechten, Franz-Josef-Wagner in BILD und Weihnachtsansprachen des Pfarrers Gauck in der Robe des Freiheitshelden, für den Snowden ein übler Vaterlandsverräter ist.

Seit es Demokratie gibt, gibt es Klassenkämpfe. Nicht nur um Gleichheit und Gerechtigkeit. Sondern um die Frage der Schuld. Wer ist schuldig am Untergang der Demokratie? Die Eliten, die das Mehrheitsprinzip der neidischen und dreisten Massen hassen und eine niedliche Diktatur bevorzugen – oder die gierigen und anmaßenden Schwachen, die das Leben der Erfolgreichen zur Hölle machen?

Im alten Griechenland gab es heftig umstrittene, vielfältige philosophische Meinungen. Im modernen Deutschland gab es – gibt es noch immer – nur eine einzige Meinung: schuldig ist der rechte oder linke Rand des Pöbels, der Shitstorm des Pöbels, der Sozialknetepöbel („wer soll das alles bezahlen?“), der leistungsarme, überverwöhnte Pöbel, der jedem Populisten nachlaufende Pöbel, der Dschungelcamp-Pöbel und die verantwortungslose Große Bestie, der Abschaum des Pöbels.

Nun reiben sie sich verstohlen die Hände, dass die Bestie wieder erwacht und den Eliten die Gefälligkeit des von aller Schuld freien Erregungsschäumens beschert hat. Objekt der Erregung: Pegida. Diagnose: Gauner, Idioten, Schurken, Nazis bis zu Knechten des Teufels. Therapie: Kopf ab oder schlimmer, auf keinen Fall darunter.

Es ist wie verbales Lynchen, auch hier geht’s nicht ohne amerikanischen Import. Tatort Ferguson, Florida oder die ganze USA. Diagnose: Schwarzer. Therapie: sofort durchlöchern. Wer dreimal eine Kleinigkeit geklaut hat, für immer hinter Schloss und Riegel. Wer als Kind eine Spielzeugpistole bei sich führt – Diagnose: das Böse. Therapie: durchlöchern.

In Deutschland verschwimmt die Unheilsdiagnose mit der Unheilsstrafe. Diagnose: Ossis. Therapie: neue Mauer um ganz Dresden, mit allen Künsten exorzistischer Wahrnehmungslosigkeit schmähen, bespeien und bespucken.

Es gibt Diagnosen, die sofort und unzweifelhaft getroffen werden können. Es gibt aber auch hypothetische Vermutungen: es könnte sein, die Symptome sehen aus, als ob, Genaues können wir noch nicht wissen. Wir müssen sorgfältig beobachten und, wenn‘s geht, prophylaktisch wirksam werden.

Pegida ist der Ausbruch des kollektiven Unbewussten. Auf diesem Feld sollte man mit Hypothesen vorsichtig sein. Zumal, wenn die Symptome unklar und widersprüchlich sind.

Wer die ungeschnittene NDR-Reportage angeschaut hat, weiß, wie zurückhaltend man urteilen sollte. Vieles ist möglich, manifest und eindeutig aber fast nichts.

Die westdeutschen Politiker und Medien schert das nicht. Mit der Inbrunst unfehlbarer Vorurteilsbildung wissen sie, dass sich hier der Abgrund öffnet. Am schlimmsten sind die relativ Harmlosen, die Ja-aber-Sager: Ich habe nichts gegen Ausländer, aber … Das sind die besonders Verruchten, sie geben sich harmlos und sind die hintertriebensten.

Eine Formel kann eine täuschende Verharmlosung sein, sie könnte aber auch der Wahrheit entsprechen. Hier heißt es, weitere Symptome abwarten, bis eine Vermutung sich erhärtet oder widerlegt.

Kurz nach der Wende wurden in Deutschland Asylbewerber und Fremde in ihren Häusern verbrannt. Es ist ein Riesenfortschritt, wenn potentielle Feuerleger sich zur Meinung hinaufgearbeitet haben: gegen Fremde an sich habe ich nichts. Ich kenne einige Türken und Flüchtlinge, mit denen ich kann. Ich hab nur etwas dagegen, wenn zu viele unser Land überschwemmen und uns die Butter vom Brot nehmen.

Diese Wahrnehmung muss nicht stimmen, mit objektiven Zahlen kann man sie richtig stellen. Dennoch könnte man verstehen, dass eigene gefühlte Not zu dieser projektiven Zuschreibung geführt hat. Man könnte sehr wohl versuchen, solche Ja-aber-Bemühte dort „abzuholen“, wo sie stehen, ihre eigene Befindlichkeit verstehen, um ihren falschen Schlussfolgerungen zu widerstehen.

Für jeden Menschen, der kein Hackklotz sein will, nicht unmöglich. Doch Medien sind dreist bekennende Psycho-Ignoranten, die es als unzumutbare Einschränkung ihrer begnadeten Borniertheit empfinden, sich mit irgendeiner Sachkenntnis zu belasten. Die fixen Schreiber entstammen zumeist dem cleveren Teil wohlbehüteter Bürgerschichten, haben oft schon im Gymnasium die Schülerzeitung herausgebracht und sind im Schnelltempo über die Henry-Nannen-Schule im SPIEGEL, der ZEIT oder in der BILD gelandet.

Soziale Erkenntnisse aus eigener Wahrnehmung – gleich Null. Nie eine soziale Basisarbeit. Nie ehrenamtlicher Bewährungshelfer. Nie ein Asylantenwohnheim von innen gesehen – aber in allen Fragen groß das Maul aufreißen. Wie man psychische Dinge analysiert, ist ihnen unbekannt, ja, Politik hat für sie mit Psyche überhaupt nichts zu tun.

Vielleicht haben sie gehört, dass die organische Staatstheorie zum rassistischen Staat der Nationalsozialisten geführt hat. Ergo: unsere Gesellschaft darf nichts Organisches an sich haben. Wie Deutsche zur ejaculatio präcox, so neigen sie zur vorschnellen und einseitigen Entladung. Auf der einen Seite sind sie dialektische Verkleisterer unverträglicher Widersprüche, auf der anderen Seite reißen sie alles extrem auseinander, was ambivalent zusammengehört. Ein falscher Tonfall – und du hängst am Galgen. Da kennt die protestantische Seele kein Pardon.

Aus der Frühzeit der Aufklärung – oder von Luhmann, dem Systemmaschinisten – wird das Maschinenmodell des Menschlichen ausgekramt. Alles, was mit Politik zu tun hat, ist für sie ein technisches Knöpfedrücken. Über Verstehen, Empathie oder Einfühlen in politicis lachen alle Hühner.

Dass alles Menschliche von Menschen, sofern sie ihre natürliche Empfindungsfähigkeit nicht im Religionsunterricht abgegeben haben, verstanden werden kann, ist für preußische Roboterschädel nicht nachvollziehbar.

Auch hier stehen wir vor einem ambivalenten Erbe der Romantik. Im Gegensatz zur Aufklärung, die alles schulmeisterlich abgeurteilt hat – so die Kritik der Romantiker bis zum gegenwärtigen Hauptversteher Gadamer –, wollten sie nichts bewerten und beurteilen, sondern alles in multikultureller Harmonie anempfinden und ins Herz schließen. Nachempfinden ist immer gut, Nachempfinden ohne eigenes kritisches Beurteilen jedoch ist distanzlose Überidentifizierung, die nach der ersten Herzensergießung ins Gegenteil umkippen muss: in Aggression eines undankbar empfundenen Brüskiertwerdens.

Kein Wunder, dass die Deutschen Verstehen mit Billigen, Nachempfinden mit Gutheißen verwechseln. Wenn sie verurteilen, dürfen sie nichts verstehen, wenn sie verstehen, dürfen sie keine Meinung haben. Aus einem Extrem fallen sie ins andere. Am Ende wollen sie weder urteilen noch nachempfinden – bleibt nur noch das Dreinschlagen.

Selbst die Grüne Jugend hält es für moralische Integrität, Pegida nicht zu verstehen und Verstehen als Verrat an der Demokratie zu diffamieren: „Auf keinen Fall darf man Verständnis zeigen, wie es einige Unionspolitiker gerade tun. Verständnis haben die Menschen verdient, die jetzt Angst vor dem rechten Mob haben,“ so eine Nachwuchsgrüne.

Die Linken dürfen nichts verstehen, um ihre politische Reinheit nicht zu gefährden. Die Rechten und Etablierten tun, als ob sie verstünden. Wehe aber den Objekten ihres Verstehens, wenn die sich nicht sofort verstanden fühlen und reumütig zeigen.

Zum deutschen Missverhältnis zwischen Verstehen und Bewerten das Beispiel Goethes. Einerseits eine sich grenzenlos gebende Einfühlungsgabe in die arabisch-muslimische Welt:

Wer sich selbst und andere kennt,

Wird auch hier erkennen:

Orient und Okzident

Sind nicht mehr zu trennen.

Andererseits eine völlige Kritiklosigkeit gegen theokratische Absolutismen bei Mohammed und Christus. Einerseits gab er sich als dezidierter Nichtchrist, andererseits huldigte er einer wolkigen Jesusverklärung:

Jesus fühlte rein und dachte

Nur den Einen Gott im Stillen;

Wer ihn selbst zum Gotte machte

kränkte seinen heil’gen Willen.

Und so muß das Rechte scheinen

Was auch Mahomet gelungen; 

Die Grünen in ihrer pubertierenden Frühzeit wiederholten die romantische Weltaneignung per blinder Anempfindung. Da sie weder über das Christentum noch über den Islam eine kritische Meinung haben, verstehen sie bis heute nicht, dass die Animositäten gegen den Islam in hohem Maße umgelenkte Animositäten gegen das Christentum sind, das sie wie eine heilige Kuh schützen müssen.

Weder wissen Deutsche, was eine Erlöserreligion, noch, was der Unterschied zwischen den zumeist human denkenden „Gläubigen“ und ihren inhumanen heiligen Texten ist. Human denkende Menschen sind mit allen human denkenden Wesen der Welt verträglich und können miteinander in Frieden leben. Nicht aber die Fanatiker und Ultras der drei Religionen, die am unverfälschten inhumanen Sinn der Originaltexte festhalten.

Daraus ergeben sich zwei ambivalente Alternativen:

a) Fanatiker sind inhumane Verteidiger inhumaner Texte, die sie in unverfälschter Reinheit bewahren.

b) „Humanisten“ haben sich den Standpunkt universeller Menschenrechte erkämpft, doch ohne zu realisieren, dass ihre „humane“ Deutung der Texte streng genommen Verfälschungen sind. Verfälschungen in bester Absicht, dennoch Verfälschungen. Wären sie konsequent, müssten sie sich von der Unfehlbarkeit der Texte lösen und ihren humanen Glauben auf die eigene Kappe nehmen. Das tun sie nicht. Noch stehen sie unter dem Zwang der Rückversicherung, sich von den autoritären Grundlagen ihres Glaubens nicht lösen zu dürfen. Vermutlich haben sie immer noch Angst vor der Hölle.

Diese widersprüchliche Zweideutigkeit ihres praktisch-humanen, aber theoretisch-inhumanen Glaubens macht jede Debatte um die „Demokratiefähigkeit“ ihres Credos zu einem paranoiden Gespensterkampf.

Die meisten Islamkritiker können nicht unterscheiden zwischen dem totalitären Text – und den demokratisch denkenden Muslimen, der überwältigenden Mehrheit aller Mohammedaner. Zudem wäre ihre Kritik authentischer und ehrlicher, wenn sie sie auch auf das Christen- und Judentum ausdehnten.

Alle drei Religionen verfolgen dieselben Deutungs-Fälschungen und müssten sich, wenn sie wirklich human werden wollten, alle drei vom Urtext ihrer Götteroffenbarungen rigoros verabschieden. Tun sie aber nicht, weshalb die „Guten“ unter ihnen sich durch Religionskritik zu Unrecht angegriffen, ja, verleumdet fühlen. Sie wollen nicht sehen, dass ihre Deutungen nichts mehr mit dem Urtext zu tun haben. Dass sie längst im Lager humaner Universalisten angekommen sind.

Wo liegt die Wurzel der Verwirrung? Pardonnez moi, ebenfalls in der Romantik. Die Romantiker wuchsen als Kinder der Aufklärung auf, die die christliche Religion aufs schärfste kritisiert hatte. Als sie sich von der Aufklärung ab- und wieder der Religion zuwandten, konnten sie die Berechtigung der väterlichen Religionskritik nicht völlig verwerfen. Um ihre neue Gläubigkeit mit einem Rest an Aufgeklärheit und dem Wortlaut der alten Bibel zu vereinigen, erdachten sie eine geniale Deutungsmethode: sie verwandelten die Bibel in ein offenes, unendlich verwandelbares Unternehmen.

Ab jetzt konnten sie alles, was sie für richtig hielten, als Frucht ihrer genialen Bibel-Fortschreibungsmethode betrachten. Jeder Christ im Besitz des Heiligen Geistes, so Schleiermacher, könne seine eigene Bibel schreiben. An Verachtung der Buchstabenvergötterung ließ sich sein Freund Novalis von dem Theologen nicht übertreffen. Die Bibel, behauptete er, „sei noch im Wachsen begriffen.“ Jedes echte Buch sei eine Bibel, wenn der Geist es heilige.

Ein echtes Buch war ein wahr empfundenes und individuell erdachtes Buch. Alle romantischen Bücher waren nichts Geringeres als biblische Bücher. Die deutsche Romantik empfand sich als Epoche des ausgegossenen Heiligen Geistes, einer Vorwegnahme des himmlischen Reiches auf Erden.

Auch die Amerikaner definierten den neuen Kontinent als Gottes eigenes Land, dessen geistlicher Reichtum aber nicht aus poetischen und literarischen Ergüssen, sondern aus Anhäufungen des gottgesegneten Mammons bestand.

Die grenzenlos scheinende Empfindungstoleranz der Romantiker konnte sich nur wenige Dekaden halten. Spätestens nach der verlorenen Revolution 1848 begann die Selbstentlarvung des Allesverstehens. Die Allsympathie mit der Welt schlug um in dogmatische Verurteilung aller Religionen und Ideologien, die der eigenen Weltanschauung nicht Recht gaben.

Schleiermacher träumte bereits „den Traum einer Alleinherrschaft des religiösen Organs.“ Aus diesem Traum wurde – über die Zwischenstation des wilhelminischen Waffen- und Flottenlärms – allmählich der Alptraum der deutschen Alleinherrschaft über die Welt im Dritten Reich, dem messianischen Endreich der Deutschen.

Seit der Romantik ist die Bibel zum willkürlich deutbaren, fortschreibbaren, veränderbaren Projektionstext aller beliebigen Weltanschauungen und Zeitgeistphilosophien geworden. Ursprünglich waren die Frommen dem Text in sklavischer Treue untertan, seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts hat sich das Knecht-Herr-Verhältnis auf den Kopf gedreht. Seitdem sind die Gläubigen zu allmächtigen Herren der Texte geworden.

Was man in der weltlichen Literatur dreiste Fälschungen und unverschämte Lügen nennen würde, ist im Bereich der grenzenlosen Deutungen zur omnipotenten Schöpfung aus dem Nichts geworden. Die Theologen und Frommen sprechen: es werde Friede, Freude und Eierkuchen bei der Bibellesung, und also verstehen sie Friede, Freude und Eierkuchen, auch wenn im Original die Rache Gottes die Welt in Trümmer legt.

In der Deutung ihrer Schriften haben die Gläubigen die verheißene Gottähnlichkeit erreicht. Was im Text steht, bestimmen noch immer sie – alle 10 Jahre ereignet sich ein grundlegender Paradigmenwechsel, weil fixe Gottesgelehrte eine neue Zeitgeistphilosophie auf dem Markt entdeckt haben, die sie den uralten Texten – unter Missachtung aller intellektuellen Redlichkeit – mit List und Tücke implantieren.

Schon Hegel lästerte die Theologen – mit Schleiermacher war er spinnefeind –, sie würden bei jeder Kontroverse die Frage stellen, ob der Andere denn schon ihr neuestes Kompendium gelesen habe. „Theologen sind so klug, ihre willkürlichen Meinungen auf die Bibel stützen zu können.“

Seitdem hat sich nichts geändert. Allmachtsdeutungen gehören zum Werkzeugkasten jedes Deutungschöpfers aus dem Nichts. Willst du, dass Gott eine Frau ist, bring eine „gerechte Übersetzung“ heraus, in der du den Herrn der Heerscharen als Mutter mit drei Brüsten bezeichnest. Willst du Hölle und Jüngstes Gericht verharmlosen, mach aus ihnen eine Langzeittherapie, in der du höllische Qualen in Qualen deines abgespaltenen Gewissens verwandelst.

Gadamer hat die romantische Hermeneutik (die Kunst des Verstehens) zur Grundlage des „modernen Verstehens“ gemacht: „Hermeneutik ist Kunst und nicht ein mechanisches Verfahren.“ („Wahrheit und Methode“) Kunst aber ist gottgleiche Genialität. Ein Künstler kann jede Petitesse zur Schöpfung aus dem Nichts – oder zur Vernichtung ins Nichts machen.

Das Missverhältnis zwischen Verstehen und Bewerten, Analysieren und Beurteilen, Diagnostizieren und Therapieren prägt die politische Gegenwart. Es gibt einen projektiven Wettbewerb zwischen Oben und Unten. Alles, was die unteren Schichten den Mächtigen ins Stammbuch schreiben, werfen die Mächtigen den Unteren zurück.

Fremdenfeindschaft? Was kann fremden- und menschenfeindlicher sein als Merkels Neoliberalismus? Wer ständig betont, wir sind nicht das Sozialamt der Welt, wir können nur qualifizierte Arbeitskräfte akzeptieren, der sagt, dass er nur aus egoistischen Motiven handelt und die Not der Notleidenden nicht versteht.

Was kann ajatollahafter sein als die Sonderrechte machtbewusster Kirchen, die sich nicht scheuen, die garantierten Grundrechte ihrer Abhängigen über den Haufen zu werfen?

Was kann arroganter sein als dialogverweigernde Medien, die sich für politische Problemlösungen nicht zuständig fühlen?

Was kann stummer sein als eine Kanzlerin, die selbst dann stumm bleibt, wenn sie Worthülsen emittiert?

Was kann suizidaler sein als die Verweigerungshaltung aller Regierungen dieser Welt, die Überlebensprobleme der Gattung wirksam in Angriff zu nehmen?

Ein Volk ist je mehr ein organismusähnliches Gebilde, je sensitiver jeder Einzelne das Gebilde wahrnimmt. Produziert ein Organismus einen Krankheitsherd, muss dieser die pathologischen Elemente des ganzen Organismus stellvertretend ausagieren.

Wie die maschinenhafte Medizin der Gegenwart alle psychosomatischen Erkenntnisse verschüttet hat, hat der maschinenhafte Staat den organischen Zusammenhang zwischen partikularen Symptomen und dem Ganzen der Gesellschaft vernichtet.

In einer reifen Gesellschaft würden sich privilegierte Glieder nicht auf Kosten schwächerer Glieder sanieren. Die psychisch Kranken und Schwachen einer Gesellschaft spiegeln die Schwächen der Gesellschaft wider, hatte Erich Fromm den Zusammenhang zwischen Einzelseele und Demos analysiert.

Pegida, das ist Deutschland. Deren Eiterbeulen sind die Eiterbeulen der Gesellschaft – Eliten eingeschlossen. Wäre die Regierung unseres Landes wirklich christlich, müsste sie sich das organische Gemeindemodell des Paulus – das dieser von Platons idealem Staat übernommen hatte – zum Vorbild nehmen:

„Aber Gott hat den Leib also vermengt und dem dürftigen Glied am meisten Ehre gegeben, auf daß nicht eine Spaltung im Leibe sei, sondern die Glieder füreinander gleich sorgen. Und so ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; und so ein Glied wird herrlich gehalten, so freuen sich alle Glieder mit.“

Wie aber ist die Realität der allerabendländischsten BRD? So die schwächsten, empfindsamsten Glieder leiden, kommen die stärksten und gefühllosesten – und trampeln die schwachen tot. Um den Zorn Gottes zu demonstrieren. Danach singen sie Stille Nacht.