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Zionisten

Hello, Freunde Europas,

Das heutige Europa ist vergleichbar einem Laster mit Nitroglyzerin, der jeden Augenblick explodieren kann, schreiben in der ZEIT Gero von Randow und Bernd Ulrich. Südstaaten kämpfen gegen Nordstaaten, viele Jugendliche in Spanien und Griechenland haben keine Lebenschancen. Deutschland erzieht und stranguliert mit Sparpolitik den auseinanderdriftenden Kontinent. Die europafeindlichen Rechten sind im Kommen und werden eine erhebliche Macht im Europaparlament sein.

Was ist in diesem Hexenkessel zu tun? „Was macht einer, der Nitroglyzerin geladen hat? Langsam fahren, keine hektischen Bewegungen, nicht rumschreien.“

Was ist, um Gottes willen, auf keinen Fall zu tun? Auf keinen Fall ein neues Narrativ, „eine Erzählung, die Begeisterung erzeugen könne. Das Gerede vom Narrativ ist aber mehr als nur nutzlos, es ist einer der unnötigen Stressfaktoren in der europäischen Debatte. Schließlich wird damit unterstellt, dass die EU aus sich selbst heraus keinen Sinn und keinen Nutzen für die Menschen hat. Wenn man es sich genau überlegt, soll das Narrativ die Bürger sogar darüber hinwegtrösten, dass die EU, so wie sie halt ist, so vielen Menschen ein Ärgernis ist.“

Warum keine Begeisterung für Europa? Ist Narrativ eine Lügengeschichte für Kinder, die mit der Realität nichts zu tun hat? Ist die EU nicht „aus sich selbst“ das Narrativ, das die ermüdeten Europäer „begeistern“ könnte, weil alle Alternativen zur EU Rückfall in alteuropäische Zerwürfnisse und Kriege wäre? Sollte das „Narrativ“ nicht die wirkliche Geschichte Europas erzählen, um die verzankten Europäer an ihre

Vorbildlichkeit zu erinnern, dass Nationen sich zusammenraufen können? Als Vorbild für die Weltvölker? Wäre das keine begeisternde Perspektive? Ist Politik schon zum Narrativ wirtschaftlicher Narren verkommen – it‘s economy, europeens!?

Das jetzige Narrativ sei repressiv, schreibt das edle Schreiberduo aus Hamburg. Warum denn das? Weil es früher hieß, „ohne immer mehr Europa könnte der europäische Bürgerkrieg zurückkehren. Nun heißt es, nur ein möglichst vereintes Europa könne verhindern, dass der Kontinent von der geopolitischen Landkarte verschwindet, dass er im Wettbewerb mit anderen Nationen untergeht.“

Es heißt, es heißt: was denken denn die beiden Herren? Ist es falsch, dass der Rückfall in eigensüchtige Nationalismen den europäischen Bürgerkrieg entfachen könnte? Haben wir den Bruderkampf nicht schon jetzt – mit wirtschaftlichen Waffen? Ist repressiv, wer diese drohende Perspektive an die Wand malt – um sie zu vermeiden?

Repressiv heißt unterdrückend. Was wird unterdrückt, wenn reale Gefahren benannt werden, um sie zu verhindern? Sind deutsche Schreiber noch der elementaren Sprache mächtig oder hyperventilieren sie schon meta-narrativ?

Sollte die EU zerfallen, wird Europa als wirtschaftlicher Faktor bedeutungslos, als politischer Faktor ein einflussloses Nichts. Es hätte keine Möglichkeit mehr, mit geballter Kraft für humane Globalpolitik einzutreten. Geht es nur darum, mit den Supermächten wirtschaftlich mitzuhalten oder geht es auch – pardon für die repressive Utopie – um eine friedliche Weltperspektive?

Warum sollte man die europäische Debatte einstellen? „Die Debatte über die Zukunft der EU ist nicht zuletzt deswegen so gereizt, weil man sich nicht darüber verständigen kann, wo sich der Kontinent gerade befindet.“

Müsste man nicht gerade deshalb debattieren, weil man nicht weiß, wo man steht? Im Gegenteil, sagen die ZEIT-Experten: „Die EU, jedenfalls der Euro-Raum, hat vier extrem stressige Jahre hinter sich, eigentlich müsste Europa jetzt erst mal geschont werden, Heilschlaf.“

Schlafe, Europa, schlaf ein.

Wer ist beglückter als du

Nur Vergnügen, niemals Ruh

Haribo und Döner vollauf

Autokarossen im Lauf

Alles besorgt und bereit

Dass nur mein Europa nicht schreit

Was wird da künftig erst sein

Schlafe, Europa, schlaf ein.

In Merkel hätten wir auch schon die passende Heilschlaftherapeutin. Schlaf ist die erste Bürgerpflicht. Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. Oder wie wär‘s mit Selbsthypnose?

Das Lied könnte die neue Europa-Hymne werden. Endlich kein „Europa, erwache“ mehr. Duckt euch in den Straßengraben, die Rechten kommen. Vor wenigen Dekaden nannte man das Appeasement-, also Kopfnickerpolitik vor den mächtig aufkommenden Schergen. Nur nicht die SA-Schläger provozieren. Hitler bekämpft man am wirksamsten – indem man ihn schalten und walten lässt. Wer selig schläft, kann keine „Finalitätsdebatten“ führen.

Kontraproduktiv, die Frage zu stellen: Wohin will Europa? Was wollen Europäer? Sie haben nichts zu wollen. Das könnte die Rechten noch mehr provozieren. Wer jetzt noch das Parlament stärken wollte, „der wird am Ende weniger Europa bekommen statt mehr.“

Schön genügsam bleiben, Kinder. Wer vorlaut ist und am meisten verlangt, guckt in die Röhre. Merkt euch das für eure Koalitionsverhandlungen, Deutsche!

Was jetzt am logischsten wäre – ein einheitlicher Binnenmarkt, eine gemeinsame Fiskal- und Sozialpolitik – das wäre am autoritärsten und despotischsten. Die Logik wäre „nicht demokratisch, weil es eine Zwangsläufigkeit suggeriert, in der die Völker nur noch die ausführenden Organe einer sich selbst erfüllenden Staatsidee sind. Wer so denkt, wer sagt, dass jeder Schritt den nächsten erzwingt, provoziert die Rebellion gegen jeden einzelnen Schritt. Genau das kann Europa jetzt am wenigsten brauchen.“

Logik, ergib dich, du bist umschlungen. Politische Logik, du faschistischer Wolf im Schafspelz. Mit rationalen Argumenten willst du denkschwache Tagesschreiber zwingen, Ja und Amen zu sagen. Eine unerhörte Zwangsbeglückung. Die EU-Kommission sollte keine krummen Bananen, sondern lineare Logik verbieten.

Doch es gibt Lichtblicke: ohnehin kann kaum noch ein Tagesvoyeur einen logischen Satz formulieren. Das Ende der logischen Unterdrückung im christlichen Abendland ist abzusehen. Von einer selbsterfüllenden logischen Staatsidee gar nicht zu reden. Sie ist Sünde wider den Geist, die nie vergeben wird. „Vernichten werde ich die Logik der Weisen und die Folgerichtigkeit der Einsichtigen werde ich verwerfen.“

Alles hat seine ZEIT, spricht der Prediger. Weinen und Klagen, Reden und Schweigen. Vor allem Schweigen und Heulen wären jetzt an der Zeit – für die ZEIT.

(Gero von Randow und Bernd Ulrich in der ZEIT)

 

Zion? „Aber David nahm die Burg Zion ein; das ist die Davidsstadt.“ (2.Sam. 5,7) Zion wurde zum „Synonym für den Wohnsitz Jahwes, des Gottes der Israeliten. Er rückte damit ins Zentrum der Hoffnungen des Judentums, die sich auf weltweite Anerkennung dieses Gottes und seiner Rechtsordnung richten.“ (Wiki)

Was hat diese zentrale religiöse Idee mit dem Zionismus zu tun, der jede Religion – vor allem die der jüdischen Tradition – vehement ablehnte?

Die ersten Zionisten waren antikapitalistisch und gottlos, nach Michael Wolffsohn allesamt Sünder und Antisemiten vor dem Herrn. Linke müssen antisemitisch sein, denn sie wollen die Religion überflüssig machen.

In den Anfängen der israelischen Staatsgründung wurde alles Religiöse „exilisch“ genannt und vehement abgelehnt. Juden sollten nur die Bewohner des zukünftigen Staates Israel sein. Nicht die Diaspora- oder Exiljuden, schreibt Uri Avnery (siehe gestrigen Link).

Selbst der Begründer des Zionismus, Theodor Herzl, war ein Gegner des Diasporajudentums: „In seinen Tagebüchern, die von hohem literarischem Wert sind, verbarg Herzl seine Verachtung für die Diasporajuden nicht. Einige Passagen sind positiv anti-semitisch.“

Diese anti-exilische, anti-religiöse Haltung wurde den jungen Zionisten in den ersten Schulen eingebleut: „Jedes „Exilische“ wurde verachtet wie das „jüdische Shtetl“, die jüdische Religion, jüdische Vorurteile und der Aberglauben. Wir lernten, dass „Exil-“Juden in „Luftgeschäften“ engagiert waren in parasitäre Börsen-Geschäften, die nichts Reales produzierten, dass Juden körperliche Arbeit scheuten, dass ihre soziale Organisation eine „umgekehrte Pyramide“ sei, die wir umdrehen wollten, indem wir eine gesunde Gesellschaft von Bauern und Arbeitern aufbauen würden.“ (Avnery)

Die Parolen der Nationalsozialisten klangen auch nicht viel anders. Waren Zionisten jüdische Selbsthasser oder Antisemiten? Hatten sie im fernen Palästina ähnliche Verachtungsgefühle gegen ihre Vorfahren wie deutsche Nationalsozialisten gegen alle Juden?

Der Begriff jüdischer Selbsthass stammt von dem deutsch-jüdischen Philosophen Theodor Lessing (getötet von gedungenen nationalsozialistischen Mördern). Als Selbsthasser bezeichnete er jüdische Intellektuelle wie Otto Weininger, Paul Ree (Gefährte Nietzsches), Arthur Trebitsch, Maximilian Harden. In seinem Buch „Der jüdische Selbsthass“ von 1930 entwickelte Lessing – der ursprünglich, wie viele andere assimilierte Juden, von seiner jüdischen Herkunft nichts wusste und erst durch die nationalsozialistische Rassenverfolgung auf seine nichtarische Abstammung aufmerksam wurde – das Konzept des jüdischen Selbsthasses:

Selbsthassende Juden liebten das Fremde mehr als die eigene jüdische Tradition. Das Judesein betrachteten sie als Makel und Belastung und identifizierten sich mit den antijüdischen Stereotypen der christlichen „Herrenrassen“. Im Verlauf der europäischen Geschichte war den jüdischen Minderheiten viel Unrecht angetan worden. Doch die Täter legitimierten ihr begangenes Unrecht als ihr gutes Recht. Die Opfer seien an ihrer Verfolgung selber schuldig. Seien sie doch die Mörder des christlichen Messias und im Verlauf ihrer Geschichte auf das Niveau von Untermenschen gesunken. Wenn man Juden Unrecht tut, tut man ihnen Recht. Die Rache der Christen an den Christusmördern sei ein göttlicher Akt der Gerechtigkeit.

Doch es gebe noch einen tieferen Grund für die „negative Stereotypie“ der Juden, so Lessing. Der Selbsthass der Juden gründe in ihrer Religion, die alles „weltliche“ Leben der Juden als Schuld bezeichne. Siegernationen, wenn sie von Unglück getroffen werden, suchten die Schuld ihres Elends immer bei anderen. Juden hingegen immer bei sich selbst. Immer seien sie an allem Leid der Welt schuldig. “Die Lage des jüdischen Menschen war somit doppelt gefährdet. Einmal, weil er selber auf die Frage: ‘Warum liebt man uns nicht?’ antwortet: ‘Weil wir schuldig sind.’ Sodann aber, weil die anderen Völker auf die Frage: ‘Warum ist der Jude unbeliebt?’ nun gleichfalls antworten konnten: Er sagt es selber. – Er ist schuldig.“

Lessing stilisiert die stellvertretende Schuldthese der Juden allzu sehr nach dem Juden Jesus. Im Alten Testament waren die Kinder Israels beileibe nicht immer schuld, sondern die Gojim, die von den Israeliten mit der Schärfe des Schwerts und mit Gottes Hilfe geschlagen werden mussten. Erst in der staatenlosen Zeit der Diaspora mussten die Juden als Sündenbock für die Verfehlungen der Welt viel leiden.

Auch heute noch seien selbstkritische Israelis jüdische Selbsthasser, so die Meinung deutscher Juden, die keine Kritik am Staat Israel akzeptieren. Zu diesen Selbsthassern gehören: „Erich Fried, Uri Avnery, Noam Chomsky, Moshe Menuhin, Felicia Langer, Ilan Pappe oder Norman Finkelstein und viele mehr“. Warum ist diese Gruppe in Deutschland so populär? „Sie sind in den einschlägigen Publikationen so beliebt, weil sie den Antisemiten als Kronzeugen dienen.“

Für Broder sind jüdische Kritiker Israels nichts anderes als Hofjuden, die man schon immer von verachteten Bettler- und Schacherjuden unterschieden hatte, um sie für antijüdische Zwecke auszunutzen. Selbst Nazis hatten ihre Hofjuden, die ganz anders seien als das satanische Fußvolk.

Wenn es jüdische Selbsthasser gibt, müsste es auch das Gegenstück geben: jüdische Narziss(t)en oder Gute, an denen kein Fehl sein kann. Von denen hört man nichts, obgleich die jetzige Netanjahu-Regierung eine Kohorte der Unfehlbaren sein muss.

In religiösen Nationen gibt es nur Schwarz oder Weiß. Schwarz und böse sind immer die anderen, weiß und perfekt ist man selbst. Das sieht man am deutlichsten am Vatikan, an Amerika, Israel und muslimischen Ajatollastaaten.

Deutsche Journalisten lehnen das Schwarz-Weiß-Denken ab und bevorzugen die grauen Mitteltöne (wobei sie selbst die Logik als faschistoiden Zwang ablehnen, siehe oben der ZEIT-Artikel). Dennoch denken sie nicht daran, die schwarz-weiß-handelnde Regierung in Jerusalem mit dem kleinsten Wörtchen der Kritik zu bedenken.

Lessings Analyse der jüdischen Selbstverachtung ist historisch korrekt, aber nicht theologisch. Die Kategorie Auserwähltheit hat er völlig übersehen. Die Kinder Israels waren nur schuldig, wenn sie von Jahwe abgefallen waren. Zwar mussten sie viel Leid auf ihrer irdischen Wanderschaft ertragen, doch dies war die Voraussetzung ihres finalen Triumphs. Nicht anders als bei Christen – die das göttliche Gebot am wenigsten realisierten – galt die von Jahwe verordnete Erfolgsstrategie: durch Leid zum Sieg, durch Erniedrigung zur Erhöhung.

Wen Gott liebt, den züchtigt er. Jede Züchtigung war ein Liebesbeweis des Schöpfers. Ohne Verfolgung, Elend und Leid begannen die Juden an ihrer Erwählung zu zweifeln. Waren sie von ihrem himmlischen Herrn abgefallen, konnten sie nur zurückkehren, wenn sie die Kollektivstrafe akzeptierten. Die russische Bäuerin bringt das jüdische Lebensgefühl auf den Punkt: mein Mann liebt mich nicht mehr, er hat mich heute noch nicht geschlagen. Man könnte von einem religiösen Sadomasochismus reden. Liebe erfährt man durch Zufügung von Leid.

Für Ultras war Hitler keine besondere Katastrophe. Er gehörte zur Reihe vieler Marionetten Gottes, die dieser nutzte, um seine untreuen Kinder zu züchtigen – und versöhnt in die Arme zu schließen. Judas war nur ein willenloses Werkzeug, der im Dienste Gottes das Böse tun musste.

Waren die Kinder Israels einmal nicht von ihrem Vater abgefallen, waren sie keineswegs permanent schuldig. Im Gegensatz zu Christen, die auf willkürliche Gnade angewiesen waren, hatten Juden die Möglichkeit, durch Einhalten des Gesetzes sich den finalen Lorbeer aus eigener Kraft zu verdienen. Es gab Gerechte in der Welt, die vollkommen waren.

Wir reden von der Quasiform moralischer Autonomie. Zwar waren die Gesetze nicht selbstbestimmt, sondern von Gott vorgeschrieben – das war der Unterschied zu den Griechen –, doch ihre Einhaltung sicherte ihnen das Recht auf väterlichen Lohn. Der Bund zwischen Gott und seinem Volk war ein Deal auf Gegenseitigkeit. Jeder musste sich an die Klauseln des Vertrags halten. Nicht nur die Menschen, die als Vertragspartner auf gleicher Höhe mit Gott agierten.

Eine völlig andere, selbstbewusste Theologie als das Unterwerfungsgewinsel der Christen, die aus eigener Kraft nichts zu bieten haben. Umso erstaunlicher also der von Lessing konstatierte Verlust dieser Gottebenbildlichkeit, die der Psalmist in höchsten Tönen beschreibt: „Du machst den Menschen wenig geringer als Engel, mit Ehre und Hoheit kröntest du ihn. Du setzest ihn zum Herrscher über das Werk deiner Hände, alles hast du ihm unter die Füße gelegt.“ (8,6 f)

Wie kann man sich, trotz Hochschätzung des Lieblinge Gottes, den psychischen Niedergang des jüdischen Volkes erklären? Nicht anders als bei Christen, die den blamablen Verzug ihres Messias durch selbsterfüllende Prophezeiung kompensieren mussten. Durch die Entwicklung von Technik, Naturwissenschaft und Wirtschaft, um sich mit Macht über den Rest der Welt zu erheben.

Solange die Juden nicht gleichberechtigt und vom Triumphzug der Christen ausgeschlossen waren, verfielen sie zunehmend in Lethargie. Auch ihr Messias wollte und wollte nicht kommen. Ihre weltliche Situation war beklagenswert, verglichen mit der ihrer christlichen Konkurrenten. Im 17. Jahrhundert kam es zur Massensuggestion unter der europäischen Judenschaft, als sie glaubte, in Sabbatai Zwi den angekündigten Messias gefunden zu haben. Doch es war eine grausame und kollektive Enttäuschung. (Gershom Scholem hat eine spannende Biografie über den in der Türkei geborenen, am Ende seines Lebens schmählich zum Islam konvertierten Messias geschrieben.)

Der Niedergang des jüdischen Erwähltenstolzes wurde erst durch Napoleon gestoppt. Die befreiten Juden konnten der Welt beweisen, wozu sie in allen Disziplinen fähig waren. Der Selbsthass deutschsprachiger Juden waren Nachhutgefechte jahrhundertelanger Erniedrigung, die erst wahrgenommen werden konnten, als die Juden weltliche Erfolge errangen.

Da viele Juden mit der deutschen Denker- und Dichterkultur besonders verbunden waren, übernahmen sie von ihren Vorbildern auch deren antisemitische Elemente, von denen kein deutscher Denker und Dichter frei gewesen war. Die deutsch-jüdische Symbiose war so eng, dass die Juden die Judenverachtung ihrer deutschen Idole – selbst bei Goethe und Schiller – immer mehr übernahmen und sich mit deutschen Augen zu betrachten lernten.

Scholem bestreitet die deutsch-jüdische Symbiose. Eine Symbiose kann eine neurotische Überidentifikation sein. Die Identifikation des Opfers mit dem Täter. Scholem hatte an eine gleichberechtigte Freundschaft gedacht. Davon konnte keine Rede sein. Selbst Thomas Mann, mit einer Jüdin verheiratet, ist nicht frei von antijüdischen Bewertungen. Viele junge ehrgeizige Juden empfanden sich als minderwertig und nichtswürdig. Bei Otto Weiniger ging die Selbstverachtung bis zum frühen Selbstmord.

Das genaue Gegenbild zu den Selbsthassern aus Mitteleuropa waren die ersten Zionisten, die vornehmlich aus Polen, Russland und ganz Osteuropa kamen. Sie hatten sich vom Glauben ihrer Väter losgerissen, verachteten das mangelnde Selbstgefühl der überassimilierten Juden und wollten auf biblischem Boden einen neuen Staat Israel bauen. Dort sollte der Siegertyp des Juden erzogen werden, kein Opfer mehr, sondern der jüdische homo novus, der sich nichts mehr gefallen ließ und die Geschichte der Juden im Triumph vollenden sollte.

Doch hier sehen wir den tiefen Zwiespalt, der noch heute das israelische Staatswesen bis auf den Grund spaltet. Die Zionisten waren Atheisten, die Religion sollte keine Rolle mehr spielen. „Man fühlte, dass die Religion bald aussterben würde“, so Uri Avnery.

Eine der großen Selbsttäuschungen des jüdischen Staats hing nicht zuletzt mit dem Widerspruch der ersten Zionisten zusammen. Einerseits sollte alles gottlos sein, andererseits aber sollte der neue Staat justament auf biblischem Boden in Zion errichtet werden. Der Widerspruch wurde nie ausgeräumt, dass Neu-Israel ohne Last der Religion vom Punkte Null hätte beginnen können.

Die Ultra-Orthodoxen, die das zionistische Unternehmen anfänglich verabscheuten – nur der Messias hätte zur Rückkehr ins Heilige Land rufen dürfen – nisteten sich ein und begannen mit Unterwanderung des weltlichen Staates.

„Obgleich alle ihre wichtigen Rabbiner zu jener Zeit Herzl und seine Unterstützer verurteilt und verflucht hatten, nützen sie jetzt ihren Einfluss, um immense Summen Geld vom Staat zu erpressen. Ihr Hauptziel ist es, ein getrenntes religiöses Schulsystem zu erhalten, in denen ihre Kinder nichts anders lernen als die heiligen Schriften. Sie hindern ihre jungen Männer daran, zum Militär eingezogen zu werden, um so zu vermeiden, dass sie in Kontakt mit normalen Jugendlichen kommen, besonders mit Mädchen. Sie leben in einem Ghetto.“ (Avnery)

Man könnte sagen: im Gegensatz zur europäischen Geschichte, wo die christliche Gesellschaft das Ghetto beherrschte, beherrscht heute das Ghetto die israelische Gesellschaft.

Worin bestand der grundlegende Fehler des Zionismus? Dass er die Kraft der Religion unterschätzte und seine eigene Kraft zur jüdischen Neuschöpfung überschätzte. „Der Zionismus war auf eine totale Negation der jüdischen Diaspora gegründet, seine Lebensweise, seine Traditionen und Ausdrücke.“

Keine Tradition kann durch totale Negation ad acta gelegt werden. Schon gar nicht eine jahrtausendealte Religion. Wer Religion für gefährlich hält, muss sie mit Verstehen und Streiten bekämpfen, nicht mit Verboten und Unterdrückung. Die Gläubigen müssen aus eigener Einsicht herausfinden, ob leere Formeln einer göttlichen Botschaft ihre Bedürfnisse befriedigen können. Was nicht bedeutet, dass sie die Gesellschaft klerikal unterjochen dürfen.

Auch der homo religiosus ist ein Kind der Natur (keine Kreatur eines nichtexistenten Gottes) und muss als fähig betrachtet werden, seine religiösen Illusionen selbst zu durchschauen und abzulegen. Auch wenn er Jahrhunderte dazu benötigt.

Jedes Leiden stärkt die Religion. Wer Religion zum Opfer macht oder leiden lässt, will, dass sie stark bleibt.

Von Zion waren die Zionisten mehr beeindruckt, als sie sich zugeben konnten.