Kategorien
Tagesmail

Jesus war ein Jude

Hello, Freunde der Klischees,

wenn Antisemitismus eine Sammlung von Klischees wäre, gäbe es keine Antisemitismus-Probleme. Wenn Deutsche klischeehaft als linkische Pedanten bezeichnet werden, hat es ihnen noch nie geschadet.

„Klischees sind vorgeprägte Wendungen, abgegriffene und durch allzu häufigen Gebrauch verschlissene Bilder, Ausdrucksweisen, Rede- und Denkschemata, die ohne individuelle Überzeugung einfach unbedacht übernommen werden.“ (Gero von Wilpert in Wiki)

Abgegriffen, verschlissen und unbedacht sind keine Hass-Äußerungen. Klischees sind Vorurteile, die richtig oder falsch sein können. Vorurteile sind Urteile ohne Erfahrung und Wahrnehmung.

Ohne projektive Vermutungen können wir nicht leben. Mit einer zukünftigen Situation sucht man sich vertraut zu machen, indem man sie in Gedanken vorwegnimmt. Auguste Comte hat eine einprägsame Formel gefunden: Wissen, um vorauszusehen, vorauszusehen, um zu können (savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir).

Jede religiöse Prophetie ist nichts als ein Voraussehen, um die Zukunft unter Kontrolle zu bekommen – unter dem Vorzeichen göttlicher Allwissenheit. Wer Allwissenheit streicht und dennoch voraussehen will, muss sehen und wissen wollen.

Wer wissen will, muss Wissenschaft betreiben, um seine persönliche Sicht der Dinge zu verallgemeinern und aus subjektiver Wahrheit eine objektive zu machen, die von allen Menschen geteilt werden kann. Auch objektive Wahrheiten sind nicht unfehlbar und können

jederzeit widerlegt werden – durch methodische Prüfungen.

Voraussehen ist nichts als Sehen und das Gesehene in die Zukunft verlängern. Diese Methode ist legitim, solange man Kostanz der Situation unterstellen darf. Darf man es nicht, wird die Verlängerung der Gegenwart in die Zukunft Kaffeesatzlesen.

Ich durchdenke eine zukünftige Situation, um sie besser zu bestehen oder sie zu beherrschen. Von Selbsterhaltung bis zur Überwältigung der anderen kann alles pouvoir sein.

Der französische Philosoph war Wissenschaftstheoretiker und der Tradition des Francis Bacon verpflichtet: Wissen ist Macht. Sein Wissenwollen war Eroberung der Macht über Mensch und Natur.

Vorurteile können gefährlich werden, wenn sie Erkenntnisse sein wollen, die nicht mehr überprüft werden oder subjektiven Hass objektivieren wollen.

Solange Vorurteile die vermuteten Dinge in günstigem Lichte sehen, besteht die Gefahr der Idolisierung, die nach realer Erkenntnis in Enttäuschung umkippen kann. Überidentität kann leicht zur Ablehnung führen – wenn das Objekt der Begierde die übergroßen Erwartungen nicht erfüllte.

Habe ich hingegen eine tiefe Abneigung gegen etwas, besteht die Gefahr, das negative Vorurteil auf Biegen und Brechen zu bestätigen. Vorurteile sind allergisch gegen Widerlegungen. Selbst wenn die Projektionsfigur freundlich und zuvorkommend war, sehe ich verbissen nur das Negative.

Antisemitismus besteht nicht aus Klischees, sondern aus feindseligen Vorurteilen, die sich der Überprüfung entziehen. Die ganze Klischeemethode führt in die Irre. Dahinter steckt die unausgesprochene Frage: Kann ich Menschen hassen, die ich kenne? Darf ich gefährliche Verbrecher hassen, weil sie hassenswert sind? Muss ich liebenswerte Menschen automatisch lieben?

Meine Gefühle zu anderen Menschen sind keine bloßen Reaktionsbildungen auf deren Charaktereigenschaften. Einem vollendeten Charmeur und Heiratsschwindler erliege ich eher, als einem verletzenden Grantler. Dennoch könnte der wahrheitsliebende Grantler die authentischere Persönlichkeit sein. Er könnte aber auch ein Menschenfeind sein, der seine Mitmenschen mit bedingungsloser Ehrlichkeit verletzen muss.

Wie Juden, Deutsche, Amerikaner, Roma, Flüchtlinge auch immer sein mögen: es gibt keine objektive Nötigung, Menschen zu hassen. Wie ich mit ihnen umgehe, entscheidet allein meine moralische Autonomie. Für meine Gefühle bin ich selbst verantwortlich. Reiz-Reaktions-Automatismen mögen nachvollziehbar sein: dennoch sind sie nicht befugt, mein Verhalten gegen andere zu legitimieren.

Die antisemitische Klischeeforschung unterstellt, dass genaue Kenntnisse über Juden die Hassgefühle gegen sie vertreiben würden. Das ist gefährlicher Unfug. Die gehässigsten Judenfeinde waren oft hervorragende „Judenkenner“, wie etwa die christlichen Alttestamentler. Selbst wenn ihre Erkenntnisse „objektiv und unangreifbar“ gewesen wären: Kenntnisse schützen nicht vor Amoklauf. Gerade Experten sind in der Lage, die Objekte ihrer Disziplin besonders zu diskriminieren.

Deutsche Afrikaforscher sprachen ungeniert von Buschnegern oder stellten die Frage, ob Schwarze vollwertige Menschen sein konnten. Heute wissen wir, das Wissen der weißen Ethnologen war kein Wissen. Die deutschen Herrenmenschen hatten Vorurteile, die sie durch Augenschein und Erfahrung bestätigt fühlten.

Wer seinen vertrauten Partner tötet, hasste ihn, weil er ihn „zu gut kannte“. Wissen schützt vor Dummheit und Verbohrtheit nicht. Nicht mal Allwissenheit. Gott will seine Schäfchen durch und durch erkannt haben – und stürzt die Meisten dennoch ins ewige Unglück. Gott hatte das Vorurteil, dass seine Kreaturen Ausgeburten des Bösen seien und verdammt werden müssen.

Nicht einfach, jemanden, der mich hasst, nicht zurückzuhassen. Aber nicht unmöglich. Göttliche Gnade ist dazu nicht erforderlich, sondern Selbsterkenntnis und jene Tugend, die man früher Weisheit nannte.

Nichts hasst die Moderne mehr als Weisheit: sie stellt unangenehme Fragen, stört den Betrieb, bezweifelt den Fortschritt, hält Besserwerden durch bessere Maschinen für Unfug, braucht keinen wachsenden Wohlstand, unterstützt keine Hasskampagnen und mögen sie noch so wohl begründet scheinen.

Amerika hätte mehr gegen den internationalen Terrorismus nach 9/11 getan, wenn es in sich gegangen wäre und seine Bigotterie vor der Welt bearbeitet hätte. Die Glaubwürdigkeit der Nation wäre außerordentlich gestiegen. Der Hass gegen die Amerikaner hätte nicht so expandieren können, wenn es keinen militärischen Overkill in Afghanistan gegeben hätte.

Eine Ursachenforschung des Hasses der Welt auf Neukanaan wäre unerlässlich. Dennoch gibt es keine im Westen. Auserwählte Nationen sind immer die Guten, Selbstkritik wäre eine nationale Selbstgeißelung. Das Böse muss immer bei den andern liegen.

Eine selbstkritische Schrift wie „Arroganz der Macht“ von Senator Fulbright wäre heute ein Unding. Fulbrights Kritik traf die neuralgischen Punkte der Nation: „Eher als die meisten seiner Senatskollegen erkannte er die Gefahr, die die Kommunistenhetze Joseph McCarthys für die Freiheit Amerikas bedeutete. Früher als die meisten seiner Kollegen legte er sich mit leidenschaftlichen Reden gegen die Vietnam-Politik Präsident Johnsons fest. Und sieben Jahre vor den Reisen seines Freundes Henry Kissinger nach Peking und Moskau verlangte er die Normalisierung der Beziehungen mit Peking und Moskau.“

Heute ist jede Amerikakritik Antiamerikanismus und jede Israelkritik Antisemitismus. Die Kategorie Kritik ist eliminiert. Wie will man unterscheiden zwischen Kritik und verstecktem Antisemitismus? Man verlässt sich auf seine Gefühle, weil man glaubt, seine Pappenheimer zu kennen. Die mögen sagen, was sie wollen, sie reiten sich immer mehr ins Schlamassel.

Es ist wie in der mittelalterlichen Inquisition. Je intensiver sich einer verteidigt, je verdächtiger macht er sich. Was, der argumentiert? Dann muss er es nötig haben.

Sibylle Berg schäumt vor Wut, wenn jemand es wagt, ihr heiliges Land Israel durch Kritik zu beschmutzen. Man müsste sie eine fundamentalistische Philosemitin nennen, bei der die Frage nicht zu vermeiden ist: welche Gefühle muss sie selbst unterdrücken, um die Welt zu versenken, wenn sie die Unverschämtheit besitzt, dem rechtgläubigen Philosemitismus zu widersprechen.

Woran erkennt man zweifelsfrei einen Antisemiten? Wenn er judenfeindliche Taten vollbringt. Beleidigen, beschimpfen, angreifen, Gewalt antun. Hier kann‘s keine Zweifel an den Motiven des Täters geben. Alles aber, was nicht flagrante Taten sind, sind Vermutungen, die richtig oder falsch sein können.

Keinem Menschen kann man ins Gehirn schauen. Ein Israelkritiker kann ein verkappter Antisemit sein. Beweisen kann man es nicht. Es ist ein Anti-Vorurteil, hinter jedem legitimen Vorwand illegitime Hintergedanken zu vermuten. Der Gegenverdacht ist genauso plausibel, dass blindwütige Antisemitismus-Schelten nur den Sinn haben, von Israel alle Kritik fernzuhalten.

Israel will – wie Amerika – bedingungslos geliebt und anerkannt werden, besonders von den Deutschen. Alles bewerten sie als Antisemitismus oder Antiamerikanismus, was nicht ihrem geschönten Selbstbild entspricht. Die kleinste Kritik ist Unbotmäßigkeit, Undankbarkeit und Lieblosigkeit. Vor allem ein Zeichen mangelnder Aufarbeitung der Vergangenheit.

Die Lehre aus dem Völkerverbrechen kann nur sein: Wehret allen Menschenrechts-Verbrechen. Es kommt nicht auf die Quantität der Verbrechen an, sondern auf das pure Dass, die schlichte Qualität.

Jeder Vergleich der israelischen Besatzungspolitik mit NS-Politik ist abwegig. Doch wer folgerte: ergo ist die Besatzungspolitik legitim, hätte nicht begriffen, dass das kleinste Verbrechen ein Verbrechen ist.

Nicht jeder Vergleich muss ein antisemitischer Akt sein. Durch provozierende Übertreibung wollen Deutsche oft das Ausmaß ihrer Empörung zeigen. Viel schlimmer sind antisemitische Einstellungen, die sich hinter philosemitischen Masken verbergen.

Wenn Kritik die höchste Form der Liebe ist, so Springerchef Döpfner, dann ist die Abwesenheit jeglicher Israelkritik in seinen Blättern ein Faustschlag ins Gesicht des Heiligen Landes. Unberührt schauen sie zu, wie das Land durch friedlose Politik, ungehindertes Gewährenlassen der Ultras, sich in den Abgrund stürzt.

Die deutschen Philosemiten verdrängen ihre antisemitischen Affekte, indem sie deutschen Israelkritikern Antisemitismus vorwerfen. Wenn schon psychoanalytische Seelenkunde, dann aber richtig und auf beiden Seiten. Synchron müsste man die deutsche und die jüdische Seele auf die Couch legen.

Nicht nur Fremde und Feinde haben Unbewusstes, auch Juden haben ein verzwicktes Innenleben. Wer sich dogmatisch von der ganzen Welt abgelehnt fühlt, sollte sich nicht wundern, dass er die ganze Welt ablehnt. Projektionen treffen auf Gegenprojektionen. Gibt es unlösbar scheinende Probleme zwischen Völkern, liegt der Verdacht nahe, dass verdrängte Kollektivneurosen auf beiden Seiten eine Rolle spielen.

Ein Streitgespräch auf gleicher Augenhöhe – die heutigen Deutschen sind keine Täter mehr – ist derzeit eine Illusion. Die Deutschen sind zu feige, sich gegen Gegenprojektionen zu wehren, dass jede Israelkritik klammheimlicher Antisemitismus sein soll.

Wehret den Anfängen, ist die sinnvolle Kampfdevise aller Antisemitismus-Wächter. Nur: was sind Anfänge des Unheils, was Anfänge sinnvoller Normalisierung? Psychische Regungen lassen sich mit mathematischer Präzision nicht vorausberechnen. Nicht nur jeder Jude, auch jeder Deutsche sollte sich als Antisemitismus-Wächter definieren, um dem Unheil vorzubeugen.

Der Großteil der nichtjüdischen Medien fühlt sich zur Antisemitismus-Vorbeugung nicht angesprochen. Das überlassen sie den Juden, die für ihre Probleme selbst zuständig sind. Deutsche Juden werden von deutschen Philosemiten am schmählichsten im Stich gelassen. Eine Große Koalition aus Deutschen und Juden gegen den Giftvirus des Judenhasses gibt es nicht. Es kommt zum Debattengefälle zwischen Opfern und Nachfolgern der Täter, das einen machtfreien Diskurs verhindert.

Nach Uri Avrney ist die Übermächtigung Israels durch Ultrafromme eine antizionistische Tatsache ersten Ranges, die dazu beitragen könnte, den israelischen Staat zu ruinieren.

Wer dies in Deutschland nicht sehen will, kann nicht den kleinsten Hauch der Empathie mit Israel haben. Ungerührt schaut er zu, wie der junge, hoffnungsvoll gestartete Staat sich ins Verderben stürzt. Die schweigenden Nichtkritiker Israels sind die wahren Feinde der befreundeten Nation.

Niemand ist unfehlbar im Diagnostizieren der uralten Christenkrankheit, die trotz wechselnder Symptome stets die alte Krätze geblieben ist. Der Historiker Michael Wolffsohn hält alle Linken per se für antisemitisch: „«Die Linke ist antisemitisch. Sie muss es sein, wenn sie links sein will.» Seine Begründung: Für die Linke ist ein Staat, der nur über Religion zu verstehen ist, „reaktionär“ und muss überwunden werden.“ (Miriam Hollstein in der WELT)

Nicht nur Gysi hält diese abenteuerliche Antisemitismus-Inflation für falsch. Für Avnery sind die Ultrareligiösen die größte Gefahr für den Bestand eines demokratischen Israels:

„Vor kurzem berichtete ein alarmierender Fernseh-Dokumentarfilm mit Zitaten von Demographen, dass in etwa 30 Jahren die Haredim die Mehrheit der jüdischen Bürger in Israel sein würden – auf Grund ihrer enormen Geburtsrate. Dies würde Israel in etwas Ähnliches wie das heutige Saudi Arabien oder den Iran verwandeln.“

Es ist umgekehrt: wer die faschistischen Kräfte der expandierenden Religion nicht kritisiert, der ist ein tätiger Antisemit, ob er es weiß oder nicht. Juden sind nicht identisch mit „ihrer“ Religion. Das bewiesen die Zionisten, die wahren Erbauer des neuen Israel.

Wie beurteilten Zionisten die Religion? „In meiner Kompanie im Irgun-Untergrund und später in der israelischen Armee gab es keinen einzigen Kipa-tragenden Kämpfer, auch wenn einige diskret eine Schirmmütze trugen. Religiöse Leute waren Objekte des Mitleids. Die vorherrschende Doktrin war, dass Religion tatsächlich eine sinnvolle Rolle während der Jahrhunderte spielte, indem sie die Juden zusammenhielt und für das Überleben des Judentums sorgte, aber dass jetzt der hebräische Nationalismus diese Rolle übernommen hatte und die Religion überflüssig machte. Man fühlte, dass die Religion bald aussterben würde.“ (Uri Avrney)

Just das Fehlen einer scharfen Religionskritik unterstützt das Wachsen der religiösen Macht. Israel hat als zionistisches Projekt nur eine Überlebenschance, wenn die Religion – nein, nicht irgendeine, sondern eine demokratie-inkompatible Religion – von aller politischen Einflussnahme getrennt wird.

Wer unterschiedslos von Religionen spricht, hat von Religion nichts verstanden. Alle Religionen sind willkommen, solange sie demokratische Menschenwürde fördern. Alle an den Pranger, wenn sie sich an der Würde des Menschen vergreifen. Es geht nicht um Religion oder Nichtreligion, es geht um demokratie-stärkende und demokratie-feindliche Religionen. Letztere haben in Volksherrschaften nichts verloren. Dem Volk wollen sie die Macht nehmen, um klerikale Despotien zu errichten.

Wer Religion braucht, um sich als Mensch zu erweisen, soll seine Religion ungehindert ausüben. Wer Religion benutzt, um seine Mitmenschen zu beherrschen, dem muss widerstanden werden.

Der Ursprung des Antisemitismus ist der religiöse Vernichtungswettberwerb der Christen gegen die Juden im Neuen Testament. Im Verlauf des Abendlandes hat sich die Erscheinungsweise des Antisemitismus erheblich gewandelt, die Substanz ist gleich geblieben. Sie hat sich stets der jeweiligen politischen Probleme angepasst, um das uralte Gift mit aktuellen Ereignissen zu reaktivieren.

An Theodor Fritsch, einem der verhängnisvollsten Antisemiten des beginnenden Hitlerreiches, kann man die unendliche Plastizität des Antisemitismus beobachten:

Alle ungelösten Widersprüche der Sonderwegdeutschen halste er den Juden auf. Obgleich die Deutschen selbst den Kapitalismus übernommen hatten, blieben sie emotionale Antikapitalisten. Obgleich sie in Technik und Naturwissenschaft die meisten Nationen überholt hatten, blieben sie gefühlsmäßige Feinde technischer Naturverwüstung. Anstatt sich ihre verdrängten Widersprüche bewusst zu machen und sich selbst und den Westen für hemmungslose Naturverwüstung zu attackieren, bevorzugen die Deutschen das Steinigen eines Sündenbocks, um ihrem Judenhass freien Lauf zu lassen. Am deutschen Unbehagen in der Kultur soll allein der Jude schuldig sein.

Das „Handbuch“ des Thomas Fritsch „zeichnet die Juden als Agenten und Nutznießer der kapitalistischen Moderne: «Der Jude […] machte die Jagd nach dem Mammon zum beherrschenden Element.» Auf diese Weise sei die bodenständige gutdeutsche Kultur dahingeschwunden, «es kam die Flut verändernder, verfälschender, alles Echte und Gesunde verschüttender Zivilisation.»“ (Peter Fasel in der ZEIT)

Aus bigotter Ablehnung der Moderne, für die man das internationale Judentum verantwortlich machte, wird heute der Schluss gezogen, jede antikapitalistische und ökologische Einstellung müsse primärer oder sekundärer Antisemitismus sein. Juden waren in den Augen der Nationalsozialisten Agenten der Moderne, die fanatisch das Ziel verfolgten, das deutsche Reich in seinen Grundfesten zu erschüttern. Für Nationalsozialisten waren Juden das, was Freud das „innere Ausland“ genannt hatte:

„Das Symptom stammt vom Verdrängten ab, ist gleichsam der Vertreter desselben vor dem Ich, das Verdrängte ist aber für das Ich Ausland, inneres Ausland, so wie die Realität – gestatten Sie den ungewohnten Ausdruck – äußeres Ausland ist.“ (Freud)

Was die Deutschen verdrängten, verwandelten sie in einen psychischen Tumor, den sie mit den Juden identifizierten. Indem sie sich vom Tumor befreiten, glaubten sie, sich ihrer ungelösten Nationalprobleme zu entledigen.

Juden galten als international vagabundierende Gesellen, die zur nationalen Loyalität unfähig waren. Sie waren Vertreter des feindlichen Westens mitten in der völkischen Einheit, die sie mit verschwörerischen Mitteln zerstören wollten. Darf es keine rationale ökologische oder antikapitalistische Kritik geben, nur weil die Nationalsozialisten solche Themen nutzten, um ihren Antisemitismus anzuheizen? Das ist absurd.

Als Sündenbock aller westlichen Insuffizienzgefühle hat der Jude noch lange nicht ausgespielt. Amerikas Fundamentalisten überidentifizieren sich mit Israel, um ihren Antisemitismus zu verbergen und unter Kontrolle zu kriegen. Nicht mehr lange. Je mehr der Westen umgreifenden Krisen entgegenschliddert, je größer wird die Gefahr eines erneut ausbrechenden Antisemitismus.

An der Not der Christen können nur Juden schuldig sein. Christen fühlen sich von ihren Sünden erlöst, wenn sie ein jüdisches Opfer stellvertretend ans Kreuz nageln können. Jesus war ein Jude.