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Ziel

Hello, Freunde des Ziels,

selbst Australien, toleranter Sehnsuchtsort vieler Europäer, scheint rückwärts zu fallen und schmäht einen herausragenden Sportler der Urbevölkerung, der es wagt, die Sünden der weißen Einwanderer öffentlich an den Pranger zu stellen. Unliebsame Flüchtlinge aus Hunger- und Unterdrückungsländern werden von australischen Kriegsschiffen weit draußen auf dem Meer in ihr Elend zurückgejagt. Vom Kriegsgeheul der ganzen Welt ganz zu schweigen. (SPIEGEL.de)

Ist die Welt aus den Fugen? Gibt es ein historisches Pendelgesetz, das die Menschheit über sich hinaus ins Humane treibt – und wieder zurückfallen lässt in ewig gleiche, verhängnisvolle Muster der Fremdenverachtung und des Menschenhasses? Tritt der Mensch lernunfähig auf der Stelle?

Wie würde Merkel die Frage beantworten, was für sie das Ziel der Menschheit sei? Würde sie diese philosophische Urfrage genervt zurückweisen, es sei nicht ihres gewählten Amtes, über den Tageshorizont hinauszudenken? Sie müsse arbeiten und habe Besseres zu tun als müßig zu spekulieren? Schweigt man höheren Orts vornehm über letzte Dinge?

Keineswegs, man redet nur nicht darüber. Jeder könnte wissen, was Merkel metaphysisch umtreibt. In verborgenen Winkeln evangelischer Akademien spricht sie freimütig von ihrem intakten Kinderglauben. Das wissen die Deutschen, wollen es aber nicht wissen. Emotional lassen sie an Einem nicht rühren: Mütterchens Glauben soll für Merkels Schäfchen der letzte Trost und das arkanische Beruhigungsmittel im

Irrsinn ihres Daseins bilden.

Jeder weiß um den religiösen Sinn der Deutschen, doch niemand will über das Heilige Rechenschaft ablegen. Die letzten Dinge müssen dem Parteiengezänk enthoben sein – obgleich sie den verborgenen Kern aller Tagesstreitigkeiten darstellen. Wie kann man über Politisches debattieren, wenn dessen Quintessenz nicht ans Tageslicht dringen darf?

Warum gibt es in Deutschland eine steigende, zwanghafte Groko-Atmosphäre? Weil die letzten Dinge in den großen Parteien identisch sind. Merkels Überlegenheit über alle Konkurrenten ist ihr unverwüstlicher Glaube, den sie von ihren Kindertagen an bis zu ihren Wagnerwallfahrten in mädchenhafter Reinheit bewahrt hat.

Einen solchen können weder tote Proleten noch halbtote Grüne vorweisen. In den wüsten Gründerjahren von Rot und Grün gab es anarchischen Glaubensverlust und beschämende Gottlosigkeit. Erst seit Schröders Gang nach Canossa – der in jedem parlamentarischen Gottesdienst seine käuflichen Knie beugte – wurde es Usus, dass Karrieristen in betonter Verschwiegenheit ihren persönlichen Frieden mit dem Himmel schlossen.

(Steinbrücks Friedensschluss mit dem VATER war für die Katz. Befreit von allen Kandidatenzwängen freut sich der Haudrauf, dass er Dummbeutel wieder Dummbeutel nennen kann. Dass seine Partei für soziale Gerechtigkeit eintrete, hält der Vortragskünstler im Dienst ukrainischer Milliardäre (oder ist das schon wieder vorbei?) für den Hauptfehler der Proleten.

Diese Partei ist nicht tot, sie vermodert und verwest bereits. Hier hülfen nur noch tägliche Telefongespräche Gabriels mit TV-Heroen wie Till Schweiger. Noch besser wären live-ticker-Gespräche mit Daniela Katzenberger im pfälzischen Originalsound Kohls. Eingefädelt und medial verwertet von BILD.

Gabriels Chancen sind wieder gestiegen, seitdem seine barocke Partnerin vom Hocker fiel und sein bayrischer Partner stante pede ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Laut Hexeneinmaleins bedeutet das: die Pleitegeier kreisen über den C-Parteien. Sigmar, greif zu, mach deinem Vornamen alle Ehre.)

Nach dem Kriege waren die Völker der Welt beseelt von gutwilligem Elan und ehrgeiziger Friedfertigkeit. Das dauerte nicht mal siebenzig Jahr. Mit achtzig Jahren wär‘s köstlich gewesen. Dann war der globale Honeymoon vorüber. Nun rattern die Züge der Geschichte retour in Richtung Mittelalter.

Der Pendelschlag ist kein historisches, sondern ein psychologisches Entwicklungsgesetz. (Psychische Gesetze sind nur annähernd kausal. Sie hängen ab vom traditionellen Alter der seelischen Verankerung in sehr unterschiedlichen Kulturen.)

Für Amerikaner gibt es keine Zweifel, dass die wesentlichen Antriebskräfte der Weltpolitik im lebendigen Glauben ihrer Pilgerväter liegen. Deutsche haben über ihren Glauben dünne Aufklärungsfermente gelegt, sodass sie nach Belieben fromm oder aufgeklärt sein können. Fromm sind sie gegen andere Fromme wie die Mohammedaner, aufgeklärt gegen fundamentalistische Creationisten aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Das Ergebnis dieser doppelten Immunisierung ist das Beschweigen ihres Glaubens, welches zur totalen Unwissenheit über die innersten und heiligsten Beweggründe ihres Tuns geführt hat. Ein dröhnendes Schweigen liegt über dem mächtigsten Element des Abendlands: dem christlichen Credo.

Das gewaltige Tabu hat verschiedene Gründe:

a) Es geniert die Deutschen, über ihren Glauben zu reden. Sie haben Angst, das Himmlische zu zer-reden. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Über Alltägliches und Triviales quasseln sie wie die Weltmeister. Da geht es um nichts. Das Nichtreligiöse und Heidnische darf, ja muss zerredet werden. Das Heilige muss durch Schweigen geehrt werden.

b) Sie haben keine Ahnung von den Grundlagen ihres Glaubens. Die Verachtung des Buchstabens hat dazu geführt, dass das Volk die Bibel nicht zur Kenntnis nimmt. Allzu schnell würde es irre werden, ob das Buch die Grundlage seiner – humanistisch gemeinten – Moral sein kann.

Die Willkürdeutungen der Theologie seit der Romantik hatten den gleichen Zweck wie das Leseverbot im mittelalterlichen Katholizismus. Die Bibel ist ein viel zu widersprüchliches Buch, als dass es Laien in die Hände fallen dürfte. Die Deutungsgewalt des Klerus wäre gefährdet, wenn jeder Laie die uralten Texte besser verstünde als die professionellen Hirten der Gemeinde.

Justament im Protestantismus, der jedem Gläubigen die Lesekompetenz zusprach, damit er sich vom Klerus unabhängig mache, hat die „katholische“ Tradition des Leseverbots gesiegt. Nicht in Form eines ordinären Verbots, sondern in der einer internen Zensur: warum soll ich die Bibel lesen? Ohnehin verstehe ich nichts davon.

Kommt einer mit einer kessen und antiklerikalen Deutung, wird ihm von seinem Seelenhirten beschieden, er habe keine Ahnung, denn er kenne nicht die neuesten Creationen theologischer Kompendien. So hat sich ins fromme Über-Ich eingeprägt: wovon ich nichts verstehe, das nehme ich nicht zur Kenntnis. In der Kirche Luthers, der noch schmettern konnte: „das Wort, sie sollen lassen stahn und kein Dank dafür haben,“ ist das Wort Gottes zu einem willkürlichen Hokuspokus verkommen.

c) Die Tabuisierung des heiligen Buches hat die Deutschen – zur Reduktion ihrer religiösen Dissonanz – verleitet, die Lektüre der Bibel für überflüssig zu erklären. Sie glauben zu wissen, was im Evangelium steht: ihre frisch erlernte demokratische Humanität. Die sich aber durch die momentane Flüchtlingsproblematik schmählich zur Kenntlichkeit entlarvt. Unter dem dünnen Firnis pflichtgemäßer Toleranz zeigen sich immer mehr die unbearbeiteten Amoralreste ihrer völkischen Exklusion und die neu erworbene egoistische Amoral des importierten Neoliberalismus. Beide Amoralen peitschen sich gegenseitig ins Verderben.

Da die Bibel ein Buch grenzenloser Widersprüche ist, taugt sie zur moralischen Orientierung so viel wie ein Wegweiser nach Rom, der in alle Himmelsrichtungen zeigt. Also gar nicht – sollte man meinen. In Wirklichkeit berufen sich alle Strömungen abendländischer Politik auf die dubiosen Sprüche der Offenbarung.

Und nun das Merkwürdige: die orientierungslose Amoral ist die genuine Moral der Schrift. Wie ist das zu erklären? Wie Gott über seiner Moral steht, so stehen die wahren Gläubigen und Wiedergeborenen über allen Geboten Gottes. Da sie gottgleich sind, haben sie erlassene Moralgesetze nicht mehr zu befolgen. Wahre Moral erkennt man nicht an ordinären Taten, sondern an Gesinnungen. Wer glaubt, hat die rechte Gesinnung. Der Gläubige kann gar nicht mehr unmoralisch sein. Dem Reinen ist alles rein.

Alles, was nicht aus Glauben kommt, ist Sünde. Was aber Frucht des Glaubens ist, muss ohne Sünde sein. Das Herz entscheidet. Das ungläubige Herz ist böse: aus ihm „kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung.“ Aus dem gläubigen Herzen kommen nur gottwohlgefällige Taten und seien sie noch so mörderisch. Weshalb alle Schlächtereien der Christen in der Welt keine Sünden waren, sondern Taten des Gehorsams, auf denen die Augen Gottes wohlgefällig ruhten.

„Liebestaten“ der Christen waren von Hasstaten nicht zu unterscheiden – wenn man nicht wie Gott den Tätern ins Herz schauen konnte. Die moralischsten Taten der Ungläubigen sind Sünden, die amoralischsten der Gläubigen Lobpreisungen des Herrn. Der gute Baum bringt gute Früchte. Gut ist er nur durch wahre Glaubensgesinnung. Wer eine Frau ansieht, ihrer zu begehren, und wenn er sie noch so ritterlich und fürsorglich behandelte – ist des Teufels. Die Tugenden der Heiden sind golden drapierte Laster.

Warum hat das Christentum in 2000 Jahren der Welt keine bessere Moral gebracht? Weil es gar keine – gesinnungsunabhängige – Moral bringen wollte. Sondern nur innere Herzensstimmungen und Gesinnungen, die von Gott einen Blankoscheck erhielten: tut, was ihr wollt, doch tut‘s im heiligen Geist. Wenn ein Ungläubiger sich vermisst, aus eigener Kraft gute Taten zu vollbringen, wird er der Sünde des Hochmuts bezichtigt und verflucht.

Merkel hat Deutschland in wenigen Jahren in eine neoliberale amoralische Anstalt mit wachsenden Hassorgien gegen hilfesuchende Flüchtlinge verschandelt. Mit wohlwollender Zustimmung ihres gläubigen Volks. Merkel praktiziert, was sie glaubt. Das dürfte kein Geheimnis sein. Ist es aber. Denn das Volk will nicht wissen, was Merkel im Einzelnen glaubt und tut.

Einerseits wollen Deutsche eine humane Moral, andererseits der Antinomer-Moral ihrer Kanzlerin nicht untreu werden. Ein tolles Gefühl, wenn man mit bestem Gewissen der Welt – das Verruchte tun kann. Dies ist das Geheimnis der Merkel‘schen Palliativpolitik. Sie tut, was sie glaubt und glaubt, was sie tut. So wenig die Deutschen wissen wollen, was sie selbst glauben und denken, so wenig wollen sie wissen, was ihre mütterliche Madonna treibt.

Streng genommen kann man den Christen keine Heuchelei vorwerfen. Da sie keine eindeutige Moral besitzen, können sie gegen diese auch nicht verstoßen. Sie predigen Wasser und Wein und praktizieren Wein und Wasser. Würden sie das Dogma ihrer antinomischen Moral verstehen, wären sie immer mit sich im Reinen, gleichgültig, was sie tun. Allerdings erwecken ihre Prediger vor dem Volk den Eindruck, als käme es auf überprüfbare Taten an. Und warum? Um das Volk wegen mangelhafter Moral in Angst und Schrecken zu versetzen. Klerus und Eliten wussten hingegen schon immer, sich eine eigene Welt zu erschaffen, in der nicht galt, was dem Volk gepredigt wurde.

Die Vorbildphase der Nachkriegsepoche war eine außerordentliche Leistung, die die Moralität der Völker im Überschwang des Davongekommenseins und Bessermachenwollens überdehnte. Der Rückschlag war vorprogrammiert. Niemand kann ewig über seine Verhältnisse leben. Der Rückschlag wäre nur zu verhindern gewesen durch ein Wachsen der moralischen Erkenntnis, die den ganzen Menschen und nicht nur seinen guten Willen erfasst hätte.

Es genügt nicht, etwas Besseres nur zu wollen, wenn Ratio und Gefühl, Wille und Erkenntnis auseinanderfallen. Das Bessere müsste aus eigener Vernunft geboren und in eigener Vernunft verankert werden. Die moralische Erkenntnis aus selbstbestimmter Vernunft wurde nicht gelernt und eingeübt. Im Gegenteil. Schnell überwogen die Lobpreisungen des Glaubens, welche Vernunftgründen nicht zugänglich sind. Der moralische Aufschwung des christlichen Westens wurde durch die rigide Stimme des Glaubens systematisch demontiert und abgeschmolzen. Der Glaube will, dass die Welt ein sündiges Lazarett sei. Also musste es so schnell wie möglich hergestellt werden.

Wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es ins ewige Leben bewahren. Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden. Wenn jemand die Welt liebt, ist die Liebe zum Vater nicht in ihm.

Dies sind die unausgesprochenen Regierungsdevisen Merkels und aller anderen westlichen Politiker. Sie können nicht erörtert werden, denn sie werden niemals ausgesprochen. Merkels Politik entspricht einer Geheimpolitik – die von niemandem entschlüsselt wird. Christliche Völker wollen die Prinzipien ihres Glaubens nicht heidnischen Säuen auf dem Marktplatz vorwerfen. Im Zweifel ist die Polis noch immer das Produkt heidnischer Hellenen.

Kein Zufall, dass die Politik der westlichen Völker, obgleich sie Demokratien sind und zur Transparenz verpflichtet wären, immer dubioser und undurchsichtiger wird. Geheime Handelsverträge, verschlossene Türen bei internationalen Verhandlungen, geheime Akten und geheime Allwissenheit des Staates über seine Untertanen. Der Citoyen aber soll dem Staat wie ein offenes Buch bis in die geheimsten Regungen seines Herzens sein. Wer sich gegen den Geheimkult des Regierens zur Wehr setzt, wird vom Staat verfolgt. Hier Gerhart Baums Kommentar über eine demokratische Perversion.

Aus einem eindrucksvollen Friedensprojekt muss die Welt in eine christliche Sündenkloake zurückverwandelt werden. Nur das erklärt die zunehmenden Spannungen und Konflikte in aller Welt. Ein russischer Pope ist es, der die ecclesiogene Verwandlung der Welt in ein Tollhaus als wünschenswertes Nahziel aussprach. Kein Politiker des Westens würde so ungeschützt sprechen, selbst wenn er dieselben Gedanken hätte. Tschaplin heißt Putins Gotteskrieger, der den westlichen Humanismus für eine „Vorstufe zur Religion des Antichristen“ hält.

„In einer Radiodebatte ließ Tschaplin unlängst aber einen Satz fallen, der selbst für einen Hardliner wie ihn radikal klingt: „Besser sollte es Krieg geben.“ Tschaplins Argumentation: Einer säkularen Gesellschaft, die zu lange in Frieden lebt, droht Siechtum und Gottlosigkeit. Damit Russland davon verschont bleibt, werde sich der Allmächtige einmischen. „Gott sei Dank ist die Zeit des Friedens bald vorüber“, sagte Tschaplin. Ein reinigender Krieg werde Russland zu Gott zurückführen.“ (SPIEGEL.de)

Tschaplins kathartischer Krieg ist identisch mit Kriegsvorstellungen der Deutschen, die zum Ersten Weltkrieg führten. Glück und Frieden auf Erden hat der Mensch nicht verdient. Sein irdisches Leben muss grausam, unerbittlich, machtgierig und eigensüchtig sein. Nur im tiefsten Elend kann er das Gnadenangebot Gottes würdigen und anerkennen. Frieden und Wohlstand machen träge, stumpf und ehrgeizlos. Auf Erden darf der Mensch in keiner Utopie ankommen. Ein klares Ziel darf es nicht geben. Unterwegs sein ist alles, das Ziel ist nichts. Ohne Rast und Ruh muss der Mensch ständig neue Ziele anpeilen. Hat er sie erreicht, muss er sie sofort verwerfen, das Erreichte zerstören und den unendlichen Weg in den Himmel weiterschreiten. Nie darf die Menschheit sich fragen: wie wollen wir leben? Stattdessen muss sie sich sagen: jedes Ziel ist es wert, dass es zugrunde geht – und wir einem nächsten Ziel zueilen. Das morgige Ziel ist der Tod des heutigen. Dieses Grundgesetz der gesamten christlichen Moderne – und nicht nur des Kapitalismus – hat Schumpeter „die fruchtbare Zerstörung“ genannt.

„Durch eine Neukombination von Produktionsfaktoren, die sich erfolgreich durchsetzt, werden alte Strukturen verdrängt und schließlich zerstört. Die Zerstörung ist also notwendig − und nicht etwa ein Systemfehler −, damit Neuordnung stattfinden kann.“

Schumpeter hatte Zarathustras schöpferische Zerstörung als Kern seines ökonomischen Fortschritts übernommen. „Und wer ein Schöpfer sein muß im Guten und Bösen: wahrlich, der muß ein Vernichter erst sein und Werte zerbrechen.“ (Nietzsche)

Der Mensch ist ein ewiger Wanderer. Niederlassen auf Erden darf er sich nicht. Jedes Einhalten und Ankommen wäre eine Sünde wider das Gebot des endlosen und mühseligen Fortschreitens und Beschleunigens.

„Wenn der Mensch aufhört zu wandern, dann wird er aufhören, auf der Skala des Seins zu steigen. Zwar ist das physische Wandern von Bedeutung, noch größer aber ist die Macht der geistigen Abenteuer des Menschen – Abenteuer des Denkens, Abenteuer des Empfindens und der ästhetischen Erfahrung. Der Segen des Wanderns liegt gerade darin, dass es gefährlich ist und Fertigkeiten verlangt, um Übel abzuwehren. Daher müssen wir erwarten, dass die Zukunft Gefahren enthüllen wird. Es ist die Aufgabe der Zukunft, gefährlich zu sein; und es gehört zu den Verdiensten der Wissenschaft, dass sie die Zukunft für ihre Aufgaben ausrüstet. Der Pessimismus der Mittelklasse erklärt sich aus einer Verwechslung von Zivilisation mit Sicherheit. In der Zukunft wird es weniger Sicherheit, weniger Stabilität geben als in der Vergangenheit.“ (Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt)

In der Atmosphäre des gefährlichen Abenteuers kann die Welt keine Lebensqualität entwickeln. Alles Erreichte muss in Frage gestellt und vernichtet werden. Das Alte ist vergangen, siehe die Titanen der Moderne machen alles neu. Ein Friedensreich auf Erden ist Angela Merkel aus biblischen Gründen verboten. Sie muss immer weiterschreiten durch selbstgeschaffene Mühen und Wirrsale. Ihr Ziel ist der transzendente Abgrund der Geschichte, die Wiederkunft ihres Herrn, der die einen erlösen und die anderen verdammen wird.

Das Dasein auf Erden muss gefährlich sein. „Lebe gefährlich“, war der Slogan des Faschismus. Faschistisch ist auch der ideologische Kern der westlichen Wirtschaftsreligion. Vivere pericolosamente: ohne ständige Gefahr können die technischen und wirtschaftlichen Abenteurer der Moderne nicht auf ihre Kosten kommen. Die Völker der Welt sind dabei, neue Gefahren künstlich zu schaffen, um sie mit noch größeren Gefahren zu bekämpfen.

Die Deutschen verehren Goethes Faust, weil er eher die Welt in Stücke schlug, als sich dem erfüllten Augenblick zu ergeben:

„Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!“

Warum wundern wir uns über unsere larvierte Seelennot, wenn wir ununterbrochen neues Unglück schaffen müssen – um glücklich zu sein?

Volles, saftiges und freudiges Leben als Ziel des Lebens ist uns verboten. Her mit dem nächsten Krieg, der nächsten Finanzkrise, der nächsten Hungerepidemie, der globalen Klimakatastrophe. Fressen wir uns gegenseitig auf. Wo Du nicht bist, da ist das Glück.