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West und Ost

Hello, Freunde Pankaj Mishras,

der gebürtige Inder ist Historiker, vertraut mit Ost und West, und hat ein Buch über den Konflikt zwischen den zwei Hemisphären geschrieben: „Aus den Ruinen des Empires“. Der SPIEGEL hat den Autor interviewt.

Mishras Sätze über den Ost-West-Konflikt sind wie Donner- und Planetenhall und verurteilen alles zu Makulatur, was im Westen zu diesem Thema – verschwiegen wird. Sollte der Inder Recht behalten mit seinen Thesen, wird die Zukunft der Menschheit nicht mehr vom westlichen Paradigma alternativlos dominiert werden.

Nach seiner Aufholjagd beginnt der Osten, sich auf seine uralten Philosophien zu besinnen und der Naturzerstörung und Wachstumsidiotie des Westens die rote Karte zu zeigen. Erste Anzeichen des Wandels lassen sich bereits erkennen. Li, der neue starke Mann in Peking, erklärt der Umweltverschmutzung den Krieg:

„So wie wir der Armut den Kampf angesagt haben, erklären wir auch der Umweltverschmutzung den Krieg“, kündigte er letzte Woche zum Auftakt des Nationalen Volkskongresses an.“

Selbst die Wachstumsraten der Wirtschaft werden bereits gesenkt:

„Nicht mehr hohe Wachstumsraten stehen im Vordergrund, sondern Chinas geschundene Umwelt. Bis 2050 könnte China 80 Prozent der Energie klimafreundlich erzeugen, hofft der WWF.“ So ein TAZ-Bericht von Felix Lee.

Als das chinesische Denken im 18. Jahrhundert nach Europa drang, waren die europäischen Aufklärer begeistert und stellten Konfuzius & Co auf dieselbe Stufe wie die Griechen. Heute weiß der Westen

nicht einmal mehr, dass die Chinesen den Einklang mit der Natur lehrten.

Doch die Realität ihres modernen Staates ist das Gegenteil zur Harmonie mit der Natur: In indischen und chinesischen Riesenstädten kann man kaum noch atmen. Das Grundwasser ist verseucht. Die abschmelzenden Gletscher auf dem Himalaja werden die Wassermassen der großen Flüsse immer mehr reduzieren. Die Böden sind kontaminiert.

Wie konnte es geschehen, dass der traditionelle Einklang mit der Natur mit Verwüstungsorgien zerstört wurde?

Mishras Antwort: der Osten hat das westliche Wachstumsmodell nur imitiert, um seine Selbstachtung zu gewinnen. Die Demütigungen durch den Westen waren so fundamental, dass der Osten seine ganze Tradition verdrängen musste, um mit dem Westen gleichzuziehen.

„Einige asiatische Länder, allen voran China, haben lediglich das nötige Handwerkszeug erlernt, um am westlichen Spiel um Profit und Wachstum erfolgreich teilzunehmen. Das mag Konservative im Westen verunsichern. Doch eine wahre Hegemonialmacht ist nicht nur wirtschaftlich erfolgreich. … Um zu überleben und Würde zurückzuerlangen in einer Welt, die vom Westen dominiert wird. Deshalb entschieden sie sich für die westliche Art des Wirtschaftswachstums durch Industrialisierung und Urbanisierung sowie des wirtschaftlichen Produktionsstils und des Konsums.“

Offenbar hat der Osten heute das Gefühl, seine Würde durch Wirtschaftskraft – die einzige Sprache, die der Westen versteht – wieder erlangt zu haben. Doch wer im Osten eine führende Macht sein will, muss seine Stärke nicht nur durch Wirtschaftsdaten beweisen. Das klingt verheißungsvoll. Hieße das doch, dass die künftige Politik des Ostens eine ganzheitliche sein wird.

Die Natur muss geschützt werden, wenn sie uns eine verlässliche Heimat auf Erden sein soll. Das wäre eine fundamentale Kehre gegenüber der bislang dominierenden ökologischen Boykottpolitik der Schwellenländer. Bald werden wir sehen, wer die Natur besser schützt: der halbherzige Westen oder der zur Besinnung gekommene Osten. Wird es zum friedlichen Wettstreit um die Trophäe der wirksamsten Naturschützer kommen?

Der Westen ist vom naturfeindlichen Christentum beherrscht, das alle zivilisatorischen Bereiche der Wissenschaft, Technik und Wirtschaft durchdringt. Der Osten wird sich seiner naturfreundlichen Yin- und Yang-Philosophie erinnern. Das bedeutet, dass die östliche mit der westlichen Ideologie frontal kollidieren wird.

Werden Ost und West zusammenpassen?

Der englische Dichter Rudyard Kipling, weitgereister Literat und Apologet des englischen Empire, sah beide Welthälften für immer getrennt: „Ost ist Ost und West ist West, sie werden nie zueinander kommen“.

Anders unser Hinterwäldler Goethe, der sein Imperium allein im Kopf aufbaute:

Wer sich selbst und andere kennt,

Wird auch hier erkennen:

Orient und Okzident

Sind nicht mehr zu trennen.

Goethe konnte Harmonie konstatieren, weil er beide Augen schloss und keine Ungereimtheiten sehen wollte:

Ob der Koran von Ewigkeit sei?

Darnach frag’ ich nicht!

Daß er das Buch der Bücher sei

Glaub’ ich aus Mosleminen-Pflicht.

Der Kosmopolitismus der Weimaraner war von poetischer Verschmelzung und von ideologischer Blindheit geprägt. Wir erkennen das Urbild der noch gestern geltenden Multi-Kulti-Seligkeit der Grünen, die einem jähen Erwachen und religiösen Misstrauen gewichen ist. Die rechte Kavallerie der AfD will künftig jede Moschee durch Volksabstimmung hemmen oder verhindern.

Der gute Wille allein genügt nicht zur brüderlichen Versöhnung der intoleranten Erlöserreligionen, zu denen nicht nur der Islam gehört. Die inländische Kritik an fundamentalistischen Muslimen sollte zuerst vor der eigenen christlichen Tür kehren. Solange die heilige Schrift geschont wird, ist jede Kritik am Koran wohlfeil.

Die deutschen Islamhasser machen denselben Fehler wie ihre antisemitischen Vorfahren: sie hassen an anderen, was sie an sich selbst hassen, aber nicht hassen dürfen. Die deutschen Christen hassten an den Juden, was sie an sich selbst ablehnten, aber aus Feigheit vor dem heiligen Jesulein nicht ablehnen durften.

Goethes weltumarmende Selbstgefälligkeit schreckt vor gedanklicher Nivellierung nicht zurück:

Jesus fühlte rein und dachte

Nur den Einen Gott im Stillen;

Wer ihn selbst zum Gotte machte

kränkte seinen heil’gen Willen.

Und so muß das Rechte scheinen

Was auch Mahomet gelungen;

Nur durch den Begriff des Einen

Hat er alle Welt bezwungen.

Jesus soll Mensch und kein Gott sein: das war schon ein kecker Angriff aus der Tiefe des philosophischen Raumes gegen das nicänische Glaubensbekenntnis, das die Christen im Gottesdienst abzulegen hatten. Damit konnte er den Menschen Mohammed mit dem Menschen Jesus auf eine Stufe stellen – und alles war paletti.

Lebte der literarische Großmeister der Deutschen noch heute, würde er sich wundern über die Ablehnungs- und Hassorgien zwischen Mohammedanern und Jesuanern.

Der Umschlag der schwärmerischen Multi-Kulti-Haltung in die gegenwärtigen Kollisionen wiederholt den Umschlag des vorromantischen Kosmopolitismus in den deutschen Chauvinismus, etwa bei Fichte. Solange sie glühende Anhänger der Französischen Revolution waren, waren sie gleichzeitig weltumarmende Idealisten.

Seid umschlungen, Millionen. Diesen Kuss der ganzen Welt!

Brüder! Über’m Sternenzelt, Muss ein lieber Vater wohnen.

Muss ein lieber Vater wohnen? Was, wenn er nicht überm Sternenzelt wohnt und seine lieben Kleinen nicht zur friedlichen Schafsherde vereinigt? Dann kommt der böse Napoleon und besiegt mit links seine deutschen Brüder, die ganz dumm aus der Wäsche gucken, ihren Kosmopolitismus sofort einrollen und zum deutschen Chauvinismus übergehen.

Das kommt davon, dass man die kleinen Unterschiede nicht sehen will und alle Konflikte mit pazifistischem Silberblick für beendet erklärt. Verbrüdern und verschwestern kann man sich nur, wenn man die Hindernisse zur Kenntnis nimmt, die auf dem Weg zur Harmonie liegen. Harmonie ohne Konfliktbewusstsein endet gewöhnlich auf dem Schlachtfeld.

Doch die Deutschen kennen nur Entweder-Oder. Entweder küssen sie andern die Füße oder sie würgen sie am Hals. Ein Drittes und Nüchternes gibt es nicht. Der Weg ins Paradies ist mit vielen Schrapnellminen gepflastert.

Auf dem Weg zu einem überlebensnotwendigen Kosmopolitismus müssen wir unsere Gemeinsamkeiten und unsere Unverträglichkeiten zu Protokoll geben und in Streitgesprächen penibel durchkauen. Gesunder Menschenverstand, im Land der genialen Dichter und Denker verpönt, hilft oft weiter als säuselnde Europahymnen.

Was die notwendigen Streitgespräche fast unmöglich macht, ist die Unfähigkeit, die wirklichen Streitpunkte zu sehen und angemessen anzusprechen. Gibt es dogmatische Unverträglichkeiten zwischen den Religionen? Wo denkst du hin? Religionen sind immer Angelegenheiten der Nächstenliebe.

Und wenn sie es nicht sind, werden sie von bösen Menschen instrumentalisiert. Giftige Religion ist immer giftige Pseudoreligion. Zum Zwecke politischer Ranküne werden religiöse Inhalte immer nur missbraucht. Das Heilige ist immer unschuldig, das Weltliche verrucht und teuflisch.

Das ganze deutsche Feuilleton kennt nicht das Wörtchen religiös, sondern nur das verharmlosende Wort pseudo- oder quasireligiös. In Silicon Valley ist alles hochreligiös bis zum Messianischen, doch Ray Kurzweil ist im SPIEGEL quasi-religiös:

„Kurzweils Vorstellungen sind stark umstritten. Seine Befürworter sehen in Kurzweil einen Visionär des Technikzeitalters und ein Computer-Genie. Kritiker finden seine Methode unwissenschaftlich und seine Heilsversprechen quasireligiös.“ (DER SPIEGEL)

Religionskritik in Deutschland beschränkt sich auf die intelligente Frage, ob man Gott beweisen kann. Der konkrete Gott ihres Christentums, dessen nicht immer sympathische Eigenschaften in einem dicken Buch beschrieben werden, wird tabuisiert.

Mit anderen Worten: der Gott überm Sternenzelt liebt alle Menschen, sogar Buddhisten und Konfuzianer. Doch wehe, jene fühlen sich nicht so geliebt, dass sie bei jedem Knebelvertrag nicht die gottgewollte Überlegenheit des Westens anerkennen.

Die Unterschiede zwischen West und Ost gehen bis auf die Grundmauern. Im Buch „Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen“ des Chinesen Ku Hung-Ming aus dem Jahre 1917 notiert der Autor unüberbrückbar scheinende Differenzen.

Die christliche Kultur basiere auf dem Grundsatz: „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang“. Die westliche Kultur appelliere hauptsächlich an die Gefühle der Furcht und der jenseitigen Hoffnung.

Die chinesische Kultur hingegen appelliere an die gesamten geistigen Kräfte, an seine Vernunft ebenso sehr als an seine Gefühle.

Für den Westen ist der Mensch in Sünden geboren und radikal böse.

Die chinesische Kultur betrachte die Natur des Menschen als radikal gut wenn sie richtig entwickelt wird. Dann werden sich moralische Wohlfahrt und gesellschaftliche Ordnung wie von selbst in der Welt einstellen.

Die systematische Kolonialisierung des Ostens durch den Westen begann mit einem Friedensschluss. Als die europäischen Staaten auf dem Wiener Kongress ihre Streitigkeiten beilegten, konnte sich ihre geballte militaristische Energie auf den Rest der Welt stürzen:

„Der Frieden in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte zum radikalen Wandel in vielen asiatischen Gebieten. Indem europäische Nationen nun eng miteinander zusammenarbeiteten, bauten sie ihren Einfluss in der Türkei oder in China aus. Andere Orte wie Indien wurden einfach besetzt. Klar ist: Was Europa Frieden, Wohlstand und Würde bescherte, brachte Niederlage, Demütigung und Elend über Hunderte Millionen Menschen in der östlichen Welt.“

Was die Europäer den östlichen „Untermenschen“ abverlangten, war nicht nur äußerliche Assimilierung an die siegreichen Herrenmenschen: „Der englische Politiker Lord Macaulay forderte seinerzeit eine „Klasse von Menschen“, die „dem Blut und der Farbe nach indisch, in ihrem Geschmack, ihren Ansichten, ihren Moralvorstellungen und ihrem Denken englisch“ sein sollte.“

Hitler bewunderte das englische Empire. Er nannte es die „kapitalistische Ausbeutung von 300 Millionen indischer Sklaven“.

„Der indische Widerstandskämpfer und spätere Ministerpräsident Jawaharlal Nehru bezeichnete später „das Nazitum als den Zwillingsbruder des westlichen Imperialismus“.

Interpretationen dieser Art sind für viele britische Historiker natürlich ein rotes Tuch. Sie sind ständig bemüht, ihre nationale Identität mit ihrem angeblichen liberalen und demokratischen Empire zu schmücken.

Eine Relativierung deutscher Schuld mit Verweis auf die Schuld der anderen Europäer gibt es nicht. Doch historische Vergleiche gibt es, um das Gesamtbild der europäischen Weltverwüstungen realistisch einzuschätzen. Die Welt lässt sich nicht vorschreiben, wie sie den Westen zu sehen hat.

Das Unmaß seiner Völkerbrechen in der ganzen Welt will der Westen bis heute nicht sehen. Alles, was er getan hat, ist doch nur, den Völkern die Segnungen der Zivilisation und des wahren Glaubens gebracht zu haben. Das gilt bis zum sinnlosen Krieg in Afghanistan und im Irak. Wenn Putin dasselbe macht, ist es von Übel.

Was Mishra fast beiläufig fordert, käme einer Weltrevolution gleich. Es wäre die Abschaffung der Wettbewerbswirtschaft und die Errichtung von Gesellschaften mit neuen Maßstäben für Glück und Wohlstand:

„Zunächst müssen wir Abstand von unserem derzeitigen wettbewerbsorientierten Wirtschaftssystem nehmen. Das große westliche Abenteuer, das ständige Streben nach einem materialistischen Leben voller individueller Erfüllung durch Wohlstand erreicht seine natürlichen Grenzen. Deshalb muss es unser aller Aufgabe sein, eine neue Moralvorstellung über ein gutes, erstrebenswertes Leben zu definieren. Dies umfasst die Entwicklung eines neuen Maßstabes für Glück und Zufriedenheit. Neue Wege müssen Menschen, denen ein materialistisches Leben verwehrt bleibt, dennoch zufriedenstellen. Dabei könnten alte asiatische kulturelle Traditionen hilfreich sein. Ein „weiter so“, ist unmöglich.“

Es wird Zeit für eine grundlegende Epochenwende. Es wird Zeit, dass der Westen beginnt, vom Osten zu lernen.

Was ist der Hauptunterschied zwischen Ost und West?

“Beim Umgang mit der Natur gilt in den meisten chinesischen Denkrichtungen grundsätzlich, dass der kleinstmögliche Eingriff in die Natur der beste sei. Der Mensch soll die Natur nicht seinen Bedürfnissen anpassen, sondern ihre Gesetze und Wirkungen so ergründen, dass er sich ihnen anpasst“.

Im Westen steht der unsterbliche Mensch im Mittelpunkt. Im Osten die unsterbliche Natur.