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Welt retten! Aber subito! XL

Tagesmail vom 06.01.2023

Welt retten! Aber subito! XL,

Zu Jahresbeginn ein Friedensangebot Putins zum russisch-orthodoxen Weihnachtsfest?

Im Gegenteil, die Ankündigung einer Verschärfung des Kriegs im Namen der Religion. Der Allmächtige ist ein rachsüchtiger Kriegergott.

„Ach, HERR, wie sind meiner Feinde so viel und erheben sich so viele wider mich! Viele sagen von mir: Er hat keine Hilfe bei Gott. Sela. Aber du, HERR, bist der Schild für mich, du bist meine Ehre und hebst mein Haupt empor. Ich rufe mit meiner Stimme zum HERRN, so erhört er mich von seinem heiligen Berge. Sela. Ich liege und schlafe und erwache; denn der HERR hält mich. Ich fürchte mich nicht vor vielen Tausenden, die sich ringsum wider mich legen. Auf, HERR, und hilf mir, mein Gott! / Denn du schlägst alle meine Feinde auf die Backe und zerschmetterst der Frevler Zähne. Bei dem HERRN findet man Hilfe. Dein Segen komme über dein Volk.“

Auch Israels neuer Kurs wird kriegerischer sein. Russland und Israel nähern sich einander an. Was der Alttestamentler Gerhard von Rad als „die Einsamkeit Israels in der Gesellschaft der Religionen“ bezeichnet (Theologie des Alten Testaments), ist die Auserwähltheit der Kinder Gottes, die die Götter der Heiden als „Nichtse“ verachten.

Die privilegierte Einsamkeit hat einen bitteren Preis: Israel wird von den Völkern der Welt zunehmend verachtet und gehasst. Das ist die Urquelle des Judenhasses in der Welt bei allen, die selbst einen Spitzenplatz bei Gott begehren.

Was nicht bedeutet, dass die Juden am Entstehen des Antisemitismus selbst schuldig sind. Letztlich ist jeder selbst für seine Emotionen zuständig – äußere Impulse hin oder her.

„Denn alle Götter der Völker sind Götzen; aber der HERR hat den Himmel gemacht. Hoheit und Pracht sind vor ihm, Macht und Herrlichkeit in seinem Heiligtum. Ihr Völker, bringet dar dem HERRN, bringet dar dem HERRN Ehre und Macht. Betet an den HERRN in heiligem Schmuck; es fürchte ihn alle Welt! Sagt unter den Heiden: Der HERR ist König. Er hat den Erdkreis gegründet, dass er nicht wankt. Er richtet die Völker recht. Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit und die Völker mit seiner Wahrheit.“

Götzen sind falsche Götter oder Nichtse.

Der jüdische Gott befahl den Abschied von der Naturvorstellung der Nichtgläubigen, in der die Götter nur Bestandteile des Kosmos – und der Natur keineswegs überlegen waren.

„Die griechische Vorstellung von der Welt als einem Kosmos, als einem in sich ruhenden Organismus, war dem alten Israel fremd. Ihre Einheit hat die Welt nicht in sich, sondern nur in ihrem Bezug auf Gott, ihrer Herkunft aus seinem Schöpferwillen, in ihrer fortwährenden Fristung und in dem Ziel, das ihr Gott setzt. Welt ist, im Unterschied zum griechischen Kosmos, ein geschichtlicher Begriff: er ist orientiert am Leben der geschichtlichen Menschen.“ (ebenda)

Mit dem Glauben an Jahwe beginnt die Herrschaft der Geschichte als Heilsgeschichte für alle Menschen. Der Wert des einzelnen Menschen bemisst sich nicht mehr nach seiner Beziehung zur Natur – die zur Schöpfung oder zum Mach-Werk degradiert wird –, sondern in seiner Fähigkeit, Gottes Gesetze zu befolgen – um die Konkurrenz aller gegen alle als Sieger zu beenden.

Erst am Ende der Geschichte werden alle Bücher aufgeschlagen und das endgültige Urteil über jeden Sterblichen gesprochen.

Nicht die sündig-entwertete Natur wird zum Zentrum der Zeit, sondern die Geschichte des Heils wird das Schicksal der Menschheit bestimmen. Die Natur als freigebig nährender Kosmos verliert ihre absolute Bedeutung für den Menschen.

Machet euch die Erde untertan und herrschet über alle Tiere und Pflanzen. Aus der überragenden Bedeutung der Mutter Natur wird die Magd Gottes, die dem Menschen widerstandslos gehorchen muss.

Mit der Inthronisierung des Menschen zum Ebenbild seines Schöpfers ereignet sich die gigantischste Umwandlung des menschlichen Lebens in seiner Erdenzeit. Die Bedeutung des Menschen wächst ins Endlose, während die Bedeutung der Natur ins Bodenlose schrumpft.

Naturverehrung gilt heute als esoterische Hinterwäldlerei oder als Hass gegen den Fortschritt, der es immer besser versteht, die Natur zu demontieren. Man muss seine natürliche Umgebung nur mal aufmerksam beobachten, um ihren verwahrlosten und beschmutzten Nuttenstatus zu bemerken.

Der Fortschritt der männlichen Heilsgeschichte wurde zum Niedergang der wissenwollenden Frau, die vom Mann nach Belieben erniedrigt und geschändet werden kann.

Außer zu voyeuristischen Erholungszwecken hat Natur nur noch den Wert eines globalen Rohstoffs, der durch die Herrschaft der Maschine veredelt werden kann. An sich ist er wertlos.

Nur indigene Völker kennen heute noch das innige Gefühl der Verbundenheit mit der Natur. Alle fortgeschrittenen Nationen haben die maschinelle Zivilisation zwischen sich und die Natur gerückt.

An die Stelle der staunenerregenden Natur ist die faszinierende oder sensationelle Kultur getreten. Faszination und Sensation sind mühsam nachgeäffte Imitationen des kindlichen Staunens.

Was ist der Unterschied? Alles Denken, Philosophieren, Erkennen beginnt mit Staunen, so Platon und Aristoteles. Heute gibt es kein Staunen mehr. Das Christentum hat das heidnische Staunen abgeschafft. An seine Stelle traten Angst und Schrecken:

Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang.

Das ist abzulesen an der Befindlichkeit fast aller abendländischen Schüler und Schülerinnen, die keinen angstfreien Tag in ihren Schulen kennen. Mit Ausnahme jener Überflieger, die die erforderlichen Intelligenzleistungen mit links erbringen und mit Verachtung auf Andersbegabte herabblicken. Jeder Mensch hat das Recht, seine Einzigartigkeit ohne schiefen Vergleich zur Entfaltung zu bringen.

Womit klar ist, dass die ordinäre Schule kein Raum für Kinder sein kann, die in angstfreiem Erstaunen ins Denken kommen wollen. Ins spontane Denken, das von keiner Autorität reglementiert oder von außen gesteuert werden kann.

Die Abendländer, stolz auf das unvergleichliche Individuum, unterwerfen ihre Kinder einer mehr als jahrzehntelangen Entindividualisierung, Maschinisierung, Uniformierung oder Gleichschaltung all ihrer Schutzbefohlenen.

Die einzige defekte Individualisierung, die sie sich noch erkämpfen können, ist eine quantitative und erkenntnisfeindliche: sie können zu Tycoons werden, die mit Reichtum protzen und Macht erringen können.

Niemand in einer von Leistung dominierten Rangskalen-Gesellschaft kann Staunen als Beginn eigenen Denkens tolerieren. Denn niemand weiß, wohin Nachdenken führen könnte. Freies Philosophieren ist jeder Macht gefährlich.

Ein unabhängiger Denker könnte der Meinung sein, die erpressten Leistungen einer Fortschrittsdespotie ablehnen zu müssen. Despotie? Alles, was vom Volk nicht debattiert wird, was „komplexen“ Gesetzen einer autoritären Obrigkeit folgen und sich um die Zustimmung des Volkes nicht kümmern muss, ist despotisch.

Eine vitale Demokratie bestünde aus freiem Staunen, strengem Debattieren und vorläufigen Abstimmungen – unter dem Motto: da capo al fine. Nach neuen Erfahrungen dieselbe Prozedur, sodass die Gemeinschaft nicht nur eine korrekte, sondern eine lernende werden kann.

Sind die Gesetze der modernen Demokratie tatsächlich komplex und undurchschaubar? Nicht im Geringsten. Tatsachen und instrumentelle Abläufe der Gesellschaft mögen auf den ersten Blick abschreckend sein. Allein, sie haben Gründe und können erforscht werden.

Die Folgen dieser schwer zu durchblickenden Mechanismen hingegen erlebt jeder Mensch im täglichen Leben. Andernfalls wäre er taub und stumm.

Tatsache ist: Eliten wollen nicht, dass ihre Abhängigen durchschauen, wie die Ungerechtigkeiten und Ungleichgewichte der Gesellschaft im Lauf der Jahrhunderte zusammengebacken sind. Sie könnten auf die Idee kommen, die willkürlich erfundenen Gesetze zu durchschauen, um sie nach Gutdünken zu verändern.

Mögen die „physiologischen Vorgänge des gesellschaftlichen Körpers“ unsichtbar und schwer verständlich scheinen: die sichtbare Statur der Gesellschaft ist für jeden ersichtlich, der gelernt hat, Dinge zu beobachten, ihre Gründe zu erforschen, um zu erkennen, wie sie wurden, wie sie sind.

Spätestens ab der Schule wird den Nachkommen verwehrt, auf ihre eigene Beobachtung zu achten und ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Natur beobachten? Nichts für Tiefendenker, die den Offenbarungen einer heiligen Schrift Konkurrenz machen wollen.

Natur erkennen? Nichts für Kantianer, die eine unabhängige Natur zwar anerkennen, ihr Erkennen aber als Vorschreiben ihres Apriori verstehen.

Verstehen? Um Gottes willen: nein. Verstehen muss man höchstens, wenn man nicht messen und berechnen kann.

Haben Newton, Einstein oder Heisenberg die Naturgesetze verstanden, die sie entdeckt haben? Das Höchste, was sie verstehen konnten, waren die mathematischen Beziehungen ihrer Erfindungen zu den schon anerkannten ihrer Vorläufer, Konkurrenten und Sympathisanten.

Bis heute aber wurde nicht richtig verstanden, warum Einsteins Theorien die Newton‘schen Gesetze überholten, diese aber noch immer – unter Randbedingungen – gültig sind. Besteht Natur tatsächlich – wie Hegel behauptete – aus endlosen Widersprüchen, die sich nicht in widerspruchslose Logik auflösen lassen? Ist Dialektik nur ein trügerisches Allheilmittel, um der Realität aus dem Weg zu gehen?

Bis heute weiß niemand: hat Heisenbergs Unschärferelation die Determinierung der Gesetze Einsteins widerlegt oder nicht? Gott würfele nicht, hatte Einstein seine Position beschrieben. Stehen beide Theorien unwiderlegbar neben-, ja gegeneinander, und niemand kann sagen, der eine hatte Recht, der andere Unrecht?

Die störrischen Widersprüche bei Hegel hatten ihren Grund darin, dass die Gesetze des menschlichen Denkens – oder seines Geistes –, mit den Gesetzen der Natur ständig im Konflikt lagen, im Konflikt liegen mussten. Was war der Grund?

„Die Natürlichkeit ist das, worin der Mensch nicht bleiben soll; die Natur ist böse von Hause aus, die natürlichen Dinge bleiben nur in ihrem Ansich (ihrer primären Ursprünglichkeit); sie können den Widerspruch nicht ertragen. Die Versöhnung des Geistes mit der Natur ist Befreiung von der Natur und ihrer Notwendigkeit. Der Natur fehlt die Einheit mit sich, die das Selbstbewusstsein hat. In Güte lässt sich gegen die Gewalt der Natur wenig ausrichten. Über dem Tod der Natur geht eine schönere Natur, der Geist, hervor.“

Kurz: Natur ist etwas Minderwertiges, das vom Geist des gottähnlichen Menschen erlöst werden muss. Was ist das anderes als Theologie in gestelztem Philosophisch?

„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde sind verschwunden und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!“

Um was geht’s also? Darum, dass der Mensch als Ebenbild Gottes die Schöpfungsschwächen seines himmlischen Vaters ausbügeln muss. Mit allen Widersprüchen der Natur muss er sich herumärgern, bis es ihm gelingt, den Absturz der einst vollkommenen Natur (und siehe, es war sehr gut) zu stoppen und in die ursprüngliche Vollkommenheit  zurückzuführen.

Wie der Sohn des Vaters die Bosheiten der Geschöpfe durch seinen Tod am Marterholz büßen und reparieren musste, so müssen alle Gläubigen im Verlauf der Heilsgeschichte alle Widersprüche der Natur erforschen und verstehen, auf dass sie eines fernen Tages das ganze infernalische Gewimmel und Gestrüpp bereinigt, geordnet und wieder in paradiesischen Zustand zurückversetzt haben.

Es war dasselbe Ziel wie bei Francis Bacon, der mit Fortschritt und „Wissen ist Macht“ das verlorene Paradies zurückerobern wollte.

Das betrifft nicht nur die außermenschliche Natur, sondern auch den Menschen selbst: seine Tränen sollen abgewischt, die Angst vor dem Tode durch Abschaffen desselben reduziert werden.

Mit einem Wort: die Schöpfung war Pfusch. Da Gott sich nicht mehr zutraute, seinen Pfusch selbst zu korrigieren, schuf er zuerst einen göttlichen Sohn, hierauf viele Gläubige, die eine gesamte Heilszeit zur Verfügung gestellt bekamen, um Gottes FEHL in einen finalen Triumph zu verwandeln.

Moderner Fortschritt ist nichts anderes als die in aktives Rechnen und Tun verwandelte, passive Heilserwartung. Der Mensch müsste dem Pfusch seines Gottes ebenso hinterherarbeiten, wie die Deutschen dem Durchwursteln ihrer Politiker.

Tun sie aber nicht, weil sie – bei allem Protest – noch immer von der Überlegenheit ihrer Erwählten, pardon, ihrer Gewählten überzeugt sind. Sie ärgern sich über ihre Regierung, sind aber zu feige, Verantwortung zu übernehmen – und ihre Regierung zum Teufel zu jagen.

Was also wäre zu tun, um die jetzige Grundlagenkrise mit Elan anzugehen?

Das notwendige Tun wäre die Folge eines notwendigen Grundsatzdenkens. Noch immer wissen wir nicht, wo wir anpacken müssten. Wir staunen nicht über Durchwurstel-Verhältnisse, weil wir Angst haben, wir könnten den Durchblick verlieren und im Labyrinth blind und taub umhertappen.

Doch diese Ängste müssen wir zu beherrschen versuchen. Wer die Hosen gestrichen voll hat, ist zum Staunen wenig geeignet.

Staunen ist selbstständig denken. Nach der körperlichen Abnabelung von der Mutter müsste die geistige folgen mit Gewahrwerden der unfasslichen Natur, die uns heilen könnte vom Irrsinn unserer Eitelkeiten und Machtträume.

Eben dies wäre das Staunen als Anfang eigenständigen Denkens. All dies gelänge nur, wenn wir  unsere Ängste freimütig wahrnähmen, um sie unschädlich zu machen. Erst wenn wir mutig genug wären, die Mächte des Überkomplexen wegzuräumen, wären wir fähig zum verspäteten Staunen.

Autonom werden, erwachsen werden, klug und weise werden, hieße Staunen lernen, auch wenn wir grau und tattrig geworden sind.

Was wird unser erster unabhängiger Blick sein, wenn wir bei uns angekommen sind? „Unglaublich. Diese lebensgefährlichen Widersprüche haben wir täglich geschluckt, anstatt sie mit zivilem Widerstand in die Welt zu brüllen?“

Es gibt zwei Ziele, die wir uns vornehmen könnten. Ein praktisches und ein geistiges:

Das praktische wäre, sofort aufzuhören mit naturschädlichem Reichwerden und dem Abstürzenlassen in Armut.

„Die Armut, die ihr Maß hat am Endziel der Natur, ist ein großer Reichtum. Der Reichtum, der keine Grenze hat, ist eine große Armut.“ (Epikur)

„Das Denken aber, das die Einsicht in das Ziel und die Grenze des Fleisches erlangt und die Ängste zerstreut, beschafft das vollkommene Leben. Wer die Grenzen des Lebens begriffen hat, weiß, dass jenes leicht zu beschaffen ist, was das Schmerzende des Mangels beseitigt und das gesamte Leben zu einem vollkommenen macht.“ (Epikur)

Fortsetzung folgt.