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Welt retten! Aber subito! XLI

Tagesmail vom 09.01.2023

Welt retten! Aber subito! XLI,

wie lautet die wichtigste Frage der Menschheit?

Welche Kultur ist die beste im Überlebenskampf der Völker?

Welche wird den Kampf ums Überleben gewinnen, welche wird mit Sicherheit untergehen?

Es gibt viele Völker, aber nur zwei Arten von Kultur, die grundlegend unterschiedlich, ja unvereinbar sind.

Die eine Art Kultur hat sich seit Jahrtausenden der Natur so angepasst, dass ihre Zukunft in jeder Hinsicht gesichert zu sein scheint.

Mögliche Ausnahmen: Natur kollabiert, ihre elementaren Gesetze gelten nicht mehr, die Erde verglüht, unbekannte Wesen entdecken und zerstören sie.

Die andere Kultur – im Wahn, alles besser zu machen als die Natur – zerstört sich selbst im Streben nach Vollkommenheit.

Die Völker der ersten Kultur sind die indigenen; die Völker der zweiten Art die hochentwickelten, technisch fortgeschrittenen, reichen und weltbeherrschenden Nationen, deren Kultur sich vom Westen aus über die ganze Erde verbreitet hatte.

Die naturkonforme Kultur ist stabil und hat sich bewährt, solange sie existiert.

Die naturwidrige schwankt in jeder Hinsicht und muss sich ständig ändern, um ihre gefährdete Balance zu wahren und an immer perfektere Lösungen in der Zukunft zu glauben.

Die eine erlebt täglich die Stabilität ihrer Überzeugungen, die andere muss ihre Zweifel und Unsicherheiten mit dem Glauben an eine perfekte Zukunft rechtfertigen. Selbstgewählte Risiken sind für sie nicht existenzgefährdend, sondern Motoren ihrer Höherentwicklung, die erst ans Ziel gelangt, wenn der Mensch auf Natur nicht mehr angewiesen wäre und nach Belieben eine neue Schöpfung schaffen könnte.

Die erste Kultur lebt in der Gegenwart, die sich von ihrer Vergangenheit und Zukunft nicht unterscheidet.

Die zweite lässt die Vergangenheit hinter sich, gleitet schnell über die Gegenwart hinweg, um sich beharrlich einer unbekannten, aber perfekten Zukunft zu nähern. Der Mensch, das geschaffene Geschöpf, verwandelt sich in ein schaffendes Wesen. Gläubige sprechen von einem gottgleichen Schöpfer. Woran sie jahrhundertelang geglaubt, haben sie selbst hergestellt.

Die erste Kultur lebt von der Identität ihres Erkennens und Fühlens mit der erkannten und gefühlten Realität, die zweite von der selbsterfüllenden Prophezeiung ihres Tuns und Machens, die eines fernen Tages erleben wird, woran sie geglaubt.

Die erste Kultur kennt nur eine Welt, die sie weder verändern kann noch muss. In der vertrauten und immer gleichbleibenden Natur kann sie glücklich werden.

Die zweite betrachtet die jetzige Welt als vorübergehende und minderwertige, die sie mit allem Aufwand ihrer Mühe in eine futurisch vollkommene Welt verändern will. Doch damit spaltet sie die Welt in zwei Welten: die unvollkommene will sie in jene verwandeln, an die sie bislang nur glauben konnte. Das Jenseits ihres Glaubens soll einst zum Diesseits ihres Schauens und Fühlens werden.

Die erste Kultur kennt keine zwei Welten. In der einen Welt, in der sie lebt, wird ihr alles zuteil, was sie zu einem erfüllten Leben benötigt.

Die zweite Kultur kennt nur zwei Welten: die eine durchhastet sie, um so schnell wie möglich in die zweite zu gelangen, die eines Tages die erste vernichten wird. Erst dann gibt es für sie wieder die eine Welt, die zwar vollkommen ist, aber die getötete erste Natur ewig in sich bergen wird.

Das Leben der zweiten Kultur ruht auf dem Leichnam der ersten. Der Fortschritt der zweiten Kultur lebt vom unermüdlichen Zerstören und Töten der verschiedenen Bestandteile der Natur, um einst auf dem Grab der ersten Kultur ihr himmlisches Jenseits zu errichten.

Jenseits ist der Begriff für das vollkommene Reich der Zukunft, solange der Mensch noch in irdischer Unvollkommenheit ausharren muss. Eines Tages wird das Jenseits zum Diesseits werden: dann wird es keinen Fortschritt mehr geben, denn alles wird vollkommen sein.

Die erste Kultur kennt keine Zeit, die sich als Geschichte vom Unvollkommenen zum Vollkommenen entwickelt. Ihre Zeit ist ein stehendes Jetzt, das sich ständig im Kreise dreht, um Werden und Vergehen der Natur in stabiler Wiederholung zu gewährleisten.

Erst die zweite Kultur zerdehnt das stabile Jetzt in verflossene Vergangenheit, den flüchtigen Augenblick der Gegenwart und eine zu erhoffende phantastische Zukunft.

Das zirkuläre und stabile Jetzt der ersten Kultur wird zur linearen Geschichte – oder Heilsgeschichte – in der zweiten, die sich nach der Vollkommenheit der Zukunft – oder eines jenseitigen Himmels – sehnt.

„Denn die Sehnsucht des Geschaffenen wartet auf das Offenbarwerden der Herrlichkeit der Söhne Gottes. Deshalb seufzen wir auch, indem wir uns sehnen, mit unserer Behausung aus dem Himmel überkleidet zu werden.“

Die erste Kultur lebt davon, dass sie ihre „Abhängigkeit“ von der Natur nicht als entwürdigende Unfreiheit empfindet, sondern als Geborgensein in einem Urgrund, den sie mit Pflanzen und Tieren teilt.

Zwar wird der Mensch von der Natur gemacht, aber von der Macherin wird er nicht zwanghaft hinter sich her geschleift, um den Sinn einer von Oben bestimmten Heilsgeschichte zu erleiden und zu erfüllen.

In der zweiten Kultur wird der Mensch zum rechtlosen Geschöpf eines Schöpfers erniedrigt, das sich dem Willen eines Schöpfers unterwürfig beugen muss – wenn es nicht mit endlosen Strafen bestraft werden will.

Die erste Kultur kann man Naturreligion nennen – wenn man unter Religion nicht das Gebilde eines Jenseitsgottes versteht.

Die zweite Kultur besteht aus zwei ungleichwertigen Naturen, die miteinander in Konflikt liegen. Die zu glaubende Übernatur herrscht mit Furcht und Schrecken über die erste sicht- und greifbare. Sie kann auch als Jenseits- oder Erlöserreligion bezeichnet werden, denn ohne Beistand des Jenseits wäre sie im NU vernichtet.

Die erste Natur kennt nur selbstbewusste, selbst bestimmende Wesen, deren Leben aus gleichberechtigtem Nehmen und Geben besteht.

Die zweite kennt nur geduckt-überhebliche Gläubige, die sich ihrem Gott unterwerfen müssen, um von Ihm erlöst zu werden. Solange sie nicht vorschriftsmäßig glauben, sind sie nichts; kommen sie aber zum Glauben, können sie – bei aller demonstrativen Demut – von niemandem in gottähnlicher Eitelkeit übertroffen werden.

Welche Kultur ist die natürlichste und überlebensfähigste?

Ist das nicht eine merkwürdige Frage? In allen gesellschaftlichen Bereichen sollen die Tüchtigsten das Sagen haben, nur nicht in Fragen des Überlebens?

In dieser Frage fühlen sich die Todessüchtigsten tatsächlich am überlegensten. Ihre himmelweite Überlegenheit über alle primitiven Urwaldbewohner lassen sie sich nicht nehmen.

Kultur Eins lebt in zeitloser Zeit, so erlebt sie die Natur. Alles, was sie tut, muss so zeitlos gültig sein, wie die Natur, von der sie sich umgeben und beschützt fühlt. Was einmal gegolten hat, bleibt für immer gültig, denn das Wahre bleibt immer wahr.

Im Gegensatz zur linearen Zeit, in der nichts gültig bleibt, wenn es dem Gott nicht gefällt, der ständig in die Zeit eingreifen kann. Deshalb kann heute wahr sein, was gestern falsch war und morgen falsch, was heute noch das Gelbe vom Ei ist.

In linearer Zeit entscheidet der Augenblick, denn alles Wahre ist einmalig. Wie die Schöpfung, die Geburt Jesu und sein Tod am Kreuz einmalig sind, so die endlos wechselnden Imperative des Tages.

„Heute ist ein neuer Tag“, ist die Standardfloskel der Politiker, die jeden Tag die Chance einer neuen Wahrheit wittern, sodass sie sich an ihr „Geschwätz von gestern“ nicht gebunden fühlen.

Politiker der Kultur zwo empfinden sich als wendige Diener des Augenblicks, der sich in ständiger Veränderung befindet. Zeitlose Wahrheit wird heute verlacht als Irrsinn der Primitiven.

Wer modern sein will, muss alle überzeitigen Maßstäbe ignorieren. Sein Sensorium ist auf den Augenblick fixiert, weshalb es für ihn keine überzeitige und immergültige Ethik geben kann.

Was ihm gerade einfällt und ihm gerade nützlich scheint, ist für ihn die Devise des Augenblicks. Wer den Augenblick zur Dauer ausdehnen will, ist ein Trottel gestörter Reaktionslosigkeit im Stakkato rasender Augenblicke.

Das ist der Grund der Unfehlbarkeit deutscher Politiker. Zeigt sich die Richtigkeit ihrer Entscheidungen, wussten sie es schon immer. Irrten sie sich, haben sie nicht gefehlt, sondern sind nur der Devise des verflossenen Augenblicks gefolgt. In Kultur zwo sind Menschen keine verlässlichen Charaktere, die bei ihrer zeitlosen Philosophie bleiben, sondern im Wechselbad der Augenblicke hin und her rasender Seismographen.

Entsprechend ist ihre Politik das Abziehbild großer Entscheidungen anderer Mächte. Das einzig Konstante ihrer Nachkriegspolitik war ihre Einbindung in die Politik der Siegermächte. Brav machten sie nur die immer gleiche Wirtschaftspolitik, alles andere überließen sie Washington.

Ausgerechnet in Ökonomie wurden sie zu Anbetern des Immergleichen und waren unfähig, die Ausbrüche und Abstürze des launenhaften Marktes wahrzunehmen.

Da man ihnen einbläute, niemals idealen Zielen zu folgen, waren sie unfähig zu aller zielführenden Grundsatzpolitik.

Popper warnte vor jeder Utopie, die mit Sicherheit in Zwangsbeglückung umschlagen würde. Weshalb er dringend zur Stückwerktechnologie riet: heute dies, morgen das. Ja keine überzeugende Generallinie. Doch hier griff er in eine pathologische Theologenkiste.

„Denn unser Erkennen ist Stückwerk und unser Reden ist Stückwerk. Denn wir sehen nur mittels eines Spiegels in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich völlig erkennen, wie ich auch völlig erkannt worden bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, am größten aber unter diesen ist die Liebe.“

Der Kontrast zur Weisheit der griechischen Philosophie ist offenkundig. Dort ist das Wahre auch das Gute. Wer die Natur erkennt, schaut auch ihre rationale Struktur.

Bei Paulus fällt alles auseinander. Auf Erden sieht man nur Rätselhaftes, dessen Auflösung erst im Jenseits geschieht. Empfindungen der Liebe sind strikt getrennt vom „kalten“ Erkennen. Das Erkennen der Natur ist lieb- und empfindungslos. Ratio und Gefühle fallen auseinander.

Ein Kopfmensch kann kein einfühlsamer Empfindungsmensch sein. In Kultur eins gilt: Philosophische Erkenntnis ist theoria, die Schau des Wahren, in Kultur zwei: das Schauen geschieht erst im Jenseits, wo wir keine eigenständige Erkenntnis mehr benötigen, sondern alle Weisheit von Oben serviert erhalten.

Was ist Erkennen als Stückwerk? Das Gegenteil einer perfekten Erkenntnis. Sind wir Sterblichen zu Pfusch und permanentem Durchwursteln verurteilt? Erkennbar daran, dass wir zum Glück auf Erden nicht gemacht sind?

Was würden Vertreter der Kultur Eins zu dieser Verdammung zum Unglück und zum vergeblichen Suchen nach Glück sagen? Sind sie selbst, nach eigenem Bekunden, nicht in hohem Maße glücklich? War Glück nicht das erreichbare Ziel philosophischer Erkenntnis?

Den Sündern in Kultur zwo ist das Glück der Erdenkinder verboten. „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehen.“

Erkennen und glücklich werden muss auf Erden auseinanderfallen. Die Schlaumeier der Moderne machten daraus ihre hinterlistige Motivation: wer dem Unglück nicht ausweicht und kein Risiko scheut, der wird zum Fortschritt fähig sein, welcher vielleicht, möglicherweise, eines fernen Tages zum Glück führen kann. Unglück ertragen ist conditio sine qua non zum Fortschritt ins Unendliche. Das Unendliche des irdischen Fortschritts ist die Übersetzung göttlicher Grenzenlosigkeit ins Technische.

Popper, Bewunderer des unbeugsamen Moralisten Sokrates, lehnte jede moralische Politik ab.

„Suche nicht, mit politischen Mitteln Glück zu schaffen. Vielmehr setze dich für die Beseitigung konkreter Missstände ein. Die utopistische Haltung ist der vernünftigen entgegengesetzt. Das Bestechende des Utopismus, glaube ich, entstammt der mangelnden Einsicht, dass wir keinen Himmel auf Erden schaffen können. Was wir stattdessen tun können, das ist, wie ich meine, das Leben etwas weniger furchtbar zu machen und etwas weniger ungerecht in jeder Generation. Die Ingenieure von Utopia müssen auf diese Weise allwissend und allmächtig werden. Sie werden Götter. Du sollst keine fremden Götter neben ihnen haben. Der utopische Rationalismus ist selbstzerstörerisch. Es gibt keinen wissenschaftlichen Weg, zwischen zwei Zielsetzungen zu wählen. Politik besteht aus Handlungen, diese Handlungen sind nur rational, wenn sie einem Ziel folgen. Doch solche Ziele können rational nicht bestimmt werden. Jede utopische Zielsetzung kann wissenschaftlich unmöglich entschieden werden. Utopische Ziele sind gefährlich und unheilvoll. Sie widerlegen sich selbst und führen zur Gewalt.“ (Popper, Utopie und Gewalt)

All diese Sätze sind ein einziger Galimathias. Popper verwechselt wissenschaftliche Erkenntnis mit politischer. Hier sehen wir erneut das Verhängnis der modernen Naturwissenschaft, dass sie sich zum alleinigen Vorbild aller Erkenntnis aufschwang. Moralische Erkenntnisse aber sind keine Naturerkenntnisse.

Popper hat einen entscheidenden Satz von Sokrates nicht ernst genommen:

„Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.“

Wohl können wir viel von der Natur lernen, aber wie wir leben wollen, das kann sie uns nicht lehren. Denn dies sollen wir durch eigenes Denken herauskriegen. Sonst wären wir ja ferngesteuerte Hirnmaschinen der Natur.

Wir können voneinander lernen, wenn wir miteinander reden, streiten, Dialoge führen und uns zu verstehen versuchen. Das ist das Zentrum jeder Demokratie. Mathematisch-physikalische Beweise für unsere politischen Ziele kann es nicht geben – bestimmt aber subjektive Beweise unserer Befindlichkeit, die wir durch demokratische Prozesse objektivieren können.

Wenn wir eine Gesellschaft gerechter machen oder die Schwachen entlasten wollen, muss man dieselben nur fragen, ob sie danach ein Quäntchen glücklicher und angstfreier geworden sind – wir werden es von ihnen erfahren.

Popper wehrte sich mit Hand und Fuß gegen die Einschätzung seiner Gegner, ein Positivist zu sein, also einer, der den Vorschriften der Naturwissenschaft blindlings folgt. Doch an den zitierten Stellen ist er zweifellos einer. Das rationale Leben außerhalb von Rechnen, Experimentieren und Falsifizieren scheint er verdrängt zu haben.

Rationalisten glauben an keinen Himmel, weshalb sie auch keinen auf Erden realisieren wollen. Wir sollen niemanden glücklich machen wollen, stattdessen aber konkretes Unglück zu vermindern suchen: soll das etwa ein Gegensatz sein: Glück schaffen und Unglück vermindern?

Es war ein erhebender Moment in der Geschichte des Abendlands, als die Naturwissenschaften ins Leben traten. Doch es blieb nicht ohne verhängnisvolle Folgen, als sie alles für irrational erklärten, was nicht Punkt für Punkt ihren Erkenntnisprinzipien folgte. Vitales Leben aber ist weitaus umfassender und erfahrungsgesättigter als Hypothesenbilden und Falsifizieren.

In einem Punkt hat Popper recht: kein politisches Ziel – und sei es noch so human – kann durch einen Gewaltstreich erreicht werden. Es gibt viele Wege zum Ziel und nicht alle scheinen auf den ersten Blick rational zu sein. In einer Demokratie müssen die konkurrierenden politischen Pläne, zum Ziel zu gelangen, erst aufeinander prallen, sich zu Kompromissen bequemen und den mühsamen Weg alltäglicher Konkretisierung gehen. Das mag man den Stückwerkcharakter einer demokratischen Verständigung nennen. Doch der kann nur rational sein, wenn das Ziel unmissverständlich vernünftig und human ist.

Von wem stammt der folgende Satz?

„Eine Gestaltung unserer sozialen Umwelt mit dem Ziel des Friedens und der Gewaltlosigkeit ist nicht nur ein Traum. Sie ist eine mögliche und, vom biologischen Standpunkt aus, offenbar eine notwendige Zielsetzung für die Menschheit.“

Ist das keine eindeutige Utopie, die Politiker auch als Vision bezeichnen würden? Wer aber eine Vision hat, sagte Popper-Schüler Helmut Schmidt, sollte zum Arzt gehen.

Dann hätte auch Popper zum Arzt gehen müssen: von ihm nämlich sind die utopischen Träumereien von Frieden und Gewaltlosigkeit.

Fortsetzung folgt.