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Welt retten! Aber subito! XI

Tagesmail vom 23.09.2022

Welt retten! Aber subito! XI,

„Oh Welt, ich muß dich lassen,
ich fahr dahin mein Straßen,
Mein Zeit ist nun vollendet,
der Tod das Leben endet,
Sterben ist mein Gewinn;
kein Bleiben ist auf Erden;
das Ewge muß mir werden,
mit Fried und Freud ich fahr dahin.“

Und wohin fährst du, du Lebensmüder?
„Ins ewig Vaterland.“

Bist du noch zu retten, du Verräter der Erde? Du Denunziant der Natur, Verächter des Menschen und des heiteren irdischen Lebens?

Stattdessen gehst du fremd, lüstern nach dem Ewigen und Unbegrenzten?

Genügt Dir nicht mehr die Weisheit der Menschheitsfrühe:

„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.“

Freilich, in der Morgenröte der Zeit stand der Mensch noch mit beiden Beinen auf dem Boden. Doch nicht lange und er beging den Urverrat: das Irdische und Begrenzte genügte ihm nicht mehr, es gelüstete ihn nach dem Endlosen und Ewigen.

Sein begrenzter Gott wurde mächtiger und zeitloser, bis er alle anderen Götter überwältigt hatte: er ernannte sich zum allmächtigen Richter aller Völker, die es wagten, ihm nicht zu huldigen:

„Gott, mache dich auf und richte die Erde; denn dein Eigentum sind alle Völker!“

Der begrenzte Gott machte Karriere und ernannte sich zum Herrn aller Zeiten und aller Völker. Wer sich zu Ihm bekannte, wurde Sieger im Wettstreit der Völker und zum Matador am Ende der Geschichte.

Seitdem geht der Kampf um Sein und Nichtsein zwischen den ewigen Völkern – die ihren finalen Sieg schon hienieden vorwegnehmen wollten – und den zeitlichen, die sich begnügten mit einem erfüllten Leben auf Erden.

Es scheint, als ob die Ewigen über die Zeitlichen den Sieg davon tragen werden. Denn die Menschheit richtet sich zu Grunde, vernichtet die Natur – und überlässt den Sieg jenen, die sich mit nichts weniger zufrieden geben wollen als mit – Allem: dem Triumph in alle Ewigkeit.

Die Irdischen und Genügsamen scheinen sich geschlagen zu geben. Die Süchtigen nach Allem jubilieren schon in ihren Gottesdiensten: wartet nur, wartet noch ein Weilchen, bald sitzen wir auf den Thronen der Engel.

Wollt ihr wirklich wissen, warum die Menschheit so unerträglich passiv bleibt und nichts unternimmt, um den Tod der Natur, die zweite und unvorstellbare Sintflut, die Katastrophe der Abgase und Trockenheiten, der Hitzewellen, des globalen Flüchtens, Verhungerns und Verdurstens, abzuwehren?

Nie haben sie gelernt, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Alles mussten sie höheren Mächten überlassen. Selbstregieren war Aufstand gegen den Herrscher der Zeiten, der die Gotteslästerer mit ewigen Strafen belegte. Der Seligkeit wurde das höllische Feuer gegenübergestellt.

Amerika weiß, dass Politik Religion ist. Das wissen auch die Länder des fundamentalistischen Islams und des biblizistischen Judentums und all jener Länder, deren Ideologie nichts anderes ist als eine Heilslehre, deren Inhalt, verpackt in weltliche Begriffe, dennoch das Unfehlbare und Allmächtige ist.

Die Zeitalter der mittelalterlichen Religionskriege sind noch lange nicht vorbei. Die Besitzer der schrecklichsten Waffen, mit denen sie den homo sapiens jederzeit auslöschen können, halten sich für unersetzlich und fähig, den Wettbewerb der Völker zu entscheiden. Sie gehören zu den unersetzlichen Nationen, von denen alles abhängen soll. Eher zerstören sie sich selbst, als dass sie sich den Kräften des Bösen ergeben. Sie sind die Guten, ihre Feinde die Bösen.

Ist es nicht bizarr, dass diejenigen, die am meisten die Einteilung der Welt in Gut und Böse ablehnen, den Weltkampf der Guten gegen die Bösen am meisten unterstützen?

Humane Vernunft kennt keine Einteilung der Menschen in gute und böse, sondern nur in Menschenfreunde und irrende Menschenfeinde, bei denen man nie aufhören sollte, sie mit beispielhaftem Tun und klaren Argumenten von der Humanität zu überzeugen. Jenem solidarischen Miteinander, das die Überlebensfähigkeit der Gattung allein garantieren kann.

Die Vernunft kennt weder Gott noch Teufel, sie kennt nur menschheitsliebende und menschheitsfeindliche Erfahrungen – die, trotz aller Schwierigkeiten, jene Humanität lernen können, die der Mensch von der Natur geschenkt erhielt.

Es gibt nur eine Macht, die sich der verderblichen Macht des göttlich-Guten und teuflisch-Bösen widersetzen kann. Das ist jene, die heute am meisten verhöhnt und verlacht wird: die Macht des selbstbestimmten Denkens und der autonomen Moral.

Als der freie Mensch bemerkte, dass er durch eigene Kraft sein Verhalten bedenken und bestimmen konnte, war es um die Schicksalsmächte geschehen. Seine Moral bestimmte, wie er mit Mitmenschen und Nachbarvölkern umgehen konnte. Auf Offenbarungen und Göttersprüche konnte er verzichten.

Eben diese Selbstgewissheit ließ den Menschen die Demokratie erfinden und die Tugend der Gleichheit auf alle Menschen übertragen. Das war die Erfindung der Menschenrechte, die, nach vielen Kämpfen der Völker, zweieinhalb Jahrtausende später in der UNO zum Fundament eines weltumfassenden Friedens werden sollten.

Eine der ersten Fassungen der Gleichheit aller Menschen stammt von Antiphon. Er greift die Unterscheidung von Hellenen und Barbaren an und begründet es damit, dass wir von Natur aus in jeder Hinsicht in unserem Wesen gleich sind. „Atmen wir doch alle durch Mund und Nase in die Luft aus und essen wir doch alle mit den Händen.“

Dieser biologisch begründeten Gleichheit – dem blanken Gegenteil der späteren rassischen Diskriminierung – gesellte sich später die seelische Gleichartigkeit in Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit, Gefühls- und Willensleben, hinzu. Auch die Zweiteilung in Freie und Sklaven wurde für unberechtigt erklärt. Es sei eitel, eine vornehme Geburt als Vorteil zu preisen. Die gemeinsame Mutter Erde hätte allen Sterblichen das gleiche Aussehen gegeben. Reichtum sei etwas Ungerechtes und ein Mittel zur Verweichlichung, Armut hingegen erziehe zum Handeln entschlossene tüchtige Männer. (nach Nestle)

Gemessen an diesen heute kaum noch nachvollziehbaren Kriterien wäre die Gegenwart eine Kloake der Verkommenheit.

Eine weitere Fassung stammt von Stoikern der hellenischen Epoche:

„Nur der ist Sklave , der sich selbst zum Knecht seiner Begierden und der Außendinge macht; nur der ist frei, der sich seine innere Unabhängigkeit wahrt und dadurch imstande ist, sein Leben nach eigenem Ermessen zu führen. Von Natur aus ist kein Mensch Sklave; alle sind zur Freiheit geboren.“

Die weltweite Gemeinschaft der Menschen wurde mit dem Begriff Kosmopolitismus benannt. Die „große Polis“, also die Gemeinschaft aller Menschen, wird dem Menschen zum innersten Bedürfnis, das dem Einzelnen das volle Bewusstsein seiner Verantwortung gab. Der eigentliche Schirmherr über die Menschen aber war Eros, der alle in Eintracht und Liebe und Freiheit vereinte. (nach Pohlenz)

Nach Ende des zweiten Weltkriegs war es die Frankfurter Schule (vor allem Herbert Marcuse), die mit Hilfe eines befreiten Eros kapitalismusfreie Gesellschaften schaffen wollten. Dass die Griechen alles schon vorher bedacht hatten, diese Kleinigkeit schien ihnen entgangen. Sie beriefen sich auf Freuds Lustprinzip, das keineswegs auf Vernunft beruhte, sondern ein Triebgeschehen blieb. Nur dumm, dass der Freud‘sche Eros sich schließlich zum Thanatos verwandelte, dem Todestrieb. Das war die Heimkehr ins religiöse Sündenleben. Die Erregungswellen der Frankfurter blieben ergebnislos.

Und nun zum Artikel 1 der UNO-Deklaration:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

Unübertrefflich formuliert. Würden die Völker sich an ihre eigene Verpflichtung halten, gäbe es keine Kriege mehr, der natur- und menschenzerstörende Kapitalismus wäre längst ad acta gelegt. Zu welcher Brutalität das pekuniäre Gewinnstreben mittlerweilen erzogen hat, zeigt die jetzige Krise in Vergrößerung. Je mehr die Menschen durch den wirtschaftlich-militärischen Krieg Putins in Not geraten, je erbarmungsloser werden sie von den großen Monopolen zur Kasse gebeten. In manchen Dingen müssen sie von jetzt auf nachher fast 1000% mehr Gebühren bezahlen. Was eigentlich denken sich die Bullen des großen Geldes bei solchen Wahnsinnstaten? (Entschuldigung, Ihr Bullen auf dem Feld.)

Die Ethik der UNO wäre jene Leitlinie, die die Völker zum freien Kosmopolitismus führen könnte. Eben dies war der Grund, warum das Parlament der Völker in den letzten Dekaden ins Abseits geschoben wurde. Nicht nur von den „Bösen“, sondern auch von den „Guten“ im Westen.

Menschenrechte entstehen nicht durch Kampf mit Göttern, sondern im politischen Streit demokratischer Willensbildung. Sie sind das Ergebnis von Erfahrungen und kühnem Denken, das alle traditionellen Denkverbote aufhebt.

Warum wurden diese uralten Menschenrechte im Verlauf der folgenden Jahrhunderte so ramponiert, dass sie seit der Aufklärung mühsam wieder erarbeitet werden müssen?

Es lag nicht nur an der religiösen Spaltung der Menschheit in Erwählte und Verworfene. Es lag auch daran, dass die Vernunftmoral des humanen Denkens von intellektuellen Überfliegern abgelehnt wurde. Ihre – noch immer vorhandene – Gottesfurcht hinderte sie daran, sich zur selbstbestimmten Politmoral zu bekennen. Lieber keine Moral als eine, die dem Pöbel zum Selbstbewusstsein verhelfen könnte. Wer sich selber regieren will, wird allergisch gegen alle Schicksalsmächte, die dem Menschen zeigen, wo Bartels den Most holt.

Zu den Großsprechern der Amoral wurde Deutschlands Lieblingsphilosoph, der Schwabe Hegel. Er hasste, nicht anders als Nietzsche, vor allem Sokrates, den in Theorie und Praxis vorbildlichen Denker, vor allem sein „Moralisieren“. Doch es war nicht nur Sokrates, der von Hegel abgelehnt wurde. Sein Verdikt betraf die ganze Polis:

„Das Prinzip der Moral bei den Griechen wurde der Anfang des Verderbens.“ (Hegel)

Wenn der Prozess der Geschichtswerdung eine Angelegenheit allein des „Geistes“ sein soll, der mit Menschen nichts zu tun hat, muss jedes selbstbestimmte Tun als gotteslästerlich empfunden werden.

Auch die Marxisten, die die Proleten vom ausbeutenden Kapital befreien wollten, blieben im Dunstbereich Hegels. Die Entwicklung des Kapitalismus – der für Marx ein bewundernswerter Akt der Naturüberwältigung war – verlief nach Gesetzen, die von keinem Mensch beeinflusst werden konnten. Die Proleten konnten auf Befreiung nur hoffen. Eines unbestimmten Tages wird die Befreiung kommen und die Ausbeuter aus dem Verkehr ziehen. Bis dahin tritt das „Prinzip Hoffnung“ auf der Stelle.

Was Hegel formulierte, hätte Marx mit materialistischen Vorzeichen unterzeichnen können.

„Wir Deutschen sind passiv gegen das Bestehende, haben es ertragen. Ist es umgeworfen worden, so sind wir ebenso passiv. Die Deutschen sind Bienen … ehrliche Trödler, denen alles gut genug ist und die mit allem Schacher treiben.“ (Hegel)

Mechanische Bienen, das sind wir geblieben: außer Mammon und Autos haben wir der Welt nichts zu bieten. Unsere Politiker sind stumm wie Ameisen, tun aber, als wuselten sie fleißig durch die Weltgeschichte. Es gibt nur eine Ausnahme: im Warnen sind sie Weltmeister.

Geistige Auseinandersetzungen auf dem Marktplatz gibt es nicht. Talkshows sind Schwätzerrunden der Immergleichen. Wenn Diva Anne Will nach Monaten wieder geruht, einzufliegen, gestattet sie den Politikern großzügig, ihr Handwerk wieder aufzunehmen.

Doch endlich scheint es, als ob die Völker sich der UNO-Prinzipien erinnert hätten. Kanzler Scholz persönlich hielt eine Rede, in der er klarer und mutiger sprach als gewöhnlich.

„Olaf Scholz hat vor der Uno-Vollversammlung eine pathetische, prägnante Rede gehalten. Inhaltlich haben seine Worte eine Klarheit, ein Pathos und eine Eindringlichkeit, die man von Scholz nicht oft hört. Der Kanzler beginnt auf Englisch, drückt seine Demut aus, an diesem Pult sprechen zu dürfen. Scholz bekräftigt die Bedeutung einer regelbasierten Welt, ohne die das Recht des Stärkeren gälte. Er hält sogar demonstrativ die kleine, blaue Charta der Vereinten Nationen in die Kamera, die es hier auch überall zu kaufen gibt. »Ob in dieser Welt das Recht der Macht herrscht oder die Macht des Rechts, kann den allermeisten von uns nicht egal sein!« Als zweites Grundprinzip für eine multilaterale Welt fordert Scholz, die Staaten müssten sich messen lassen an der Einhaltung ihrer internationalen Verpflichtungen: »Verantwortung beginnt immer bei einem selbst.« Das gelte besonders für den Klimaschutz und die Menschenrechte. »Weil sich in ihnen das tiefste Bedürfnis jeder und jedes Einzelnen von uns spiegelt, frei, unversehrt und in Würde zu leben. Das ist der Kern dessen, was uns als Menschen ausmacht und verbindet – egal, wo wir herkommen; egal, woran wir glauben; egal, wen wir lieben.« Aber, und das sei das dritte Prinzip: Regeln müssten immer wieder an die Realität angepasst werden.“ (SPIEGEL.de)

Eine Rede, die die Menschenrechte einfordert, muss „demütig“ sein? Pathetisch bedeutet vor allem: übertrieben feierlich, allzu gefühlvoll. Was daran übertrieben ist, wenn ein deutscher Kanzler sich zur kosmopolitischen Weltlage kritisch äußert, bleibt das Geheimnis des SPIEGEL. Er darf sich mit dem Guten nicht gemein machen.

Dass Macht allein nicht die Geschicke der Völker bestimmen darf, ist ein elementarer Grundsatz friedlichen Zusammenlebens. Diese humanistische Ethik als „regelbasierte“ Welt zu bezeichnen ist wie das Anfertigen eines Kunstwerks als pinselbasierte Kleckserei abzutun. Beim Preschen über die Autobahn hört man nichts von regelbasierter Demut. Wenn‘s jedoch um das Überleben der Menschheit unter humanen Bedingungen geht, darf man schon mal demütig das Haupt beugen. Deutschlands geistige Substanz ähnelt immer mehr dem Austrocknen des Rheins.

Was sagen Experten über die Unfähigkeit des Menschen, angemessen auf die Krise zu reagieren?

„Wir Menschen sind unglaublich anpassungsfähig“, sagt Gerd Rosenkranz, ehemals Leiter Grundsatzfragen bei Agora Energiewende. Wir kämen mit tiefgreifenden Änderungen unseres Lebensumfelds zurecht, ohne selbst etwas an unserem Leben ändern. „Unsere erstaunliche Anpassungsfähigkeit hat uns bisher das Überleben gesichert.“ Jetzt könnte sich das umdrehen und verhindern, dass wir die Katastrophe rechtzeitig begreifen und abwehren.“ (TAZ.de)

Der westliche Mensch soll in seiner Geschichte anpassungsfähig gewesen sein – an die Natur etwa? Dann wäre die Entwicklung der westlichen Hochkultur spätestens im neolithischen Dorf stehen geblieben. Wir waren das blanke Gegenteil, haben alles gnadenlos unseren Bedürfnissen unterworfen. Dieses gewalttätige Tun haben wir bis heute weder verstanden noch beendet.

Unser Wirken als positive Anpassungsfähigkeit misszuverstehen: solche Verkehrung unsrer Rohheit in empathische Schmiegsamkeit ist einer jener vielen Gründe, warum wir unsere wirkliche Rolle im Weltgetriebe nicht verstehen. Kann es sein, dass wir sie gar nicht verstehen wollen?

Verstünden wir sie, könnten wir uns nicht länger als schuldlose Opfer bejammern. Dennoch, bleiben wir zuversichtlich. Trotz allem nähern wir uns einer Zeit zunehmend guter Nachrichten. Wie das? Dank unserer Medien. Bekanntlich sind schlechte Nachrichten für sie gute Nachrichten.

Also: Haltung annehmen und der frohen Botschaft unseres Untergangs freudig entgegen gehen. Salute!

Fortsetzung folgt.