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Welt retten! Aber subito! XCVII

Tagesmail vom 14.07.2023

Welt retten! Aber subito! XCVII,

„Die Erde erhitzt sich, die Wetterextreme nehmen zu. Doch die Ampel scheint zu akzeptieren, dass ihre Politik die Klimaziele nicht erfüllt. Damit gibt sie sich als Koalition auf.“ Schreibt Jonas Schaible in SPIEGEL.de.

Randnotiz zu einem Epochenknick, zu einem Weltereignis.

Es geht nicht nur um die deutsche Regierung, es ist die Selbstaufgabe der Menschheit – im Kampf gegen die Klimakrise. Die Naturverwüstung können wir nicht mehr zurückdrehen – in jenen Zustand, da die Menschheit begann, die Natur zu erkennen, um sie in Fesseln zu legen. Wir können nur noch Dämme bauen gegen Überflutungen und Fenster schließen gegen Hitzewellen.

Verkehrte Welt: die erfolgreichsten, fortgeschrittensten Nationen scheinen die schuldigsten. Nun zeigt sich, dass ihr Streben ins Unendliche die Ursache zum Streben ins Nichts ist.

Zu den obigen Nationen gehört Deutschland, das seine bewunderten Fähigkeiten als Ursachen seines Gangs ins Nichts entlarven müsste.

Das Unendliche mitten im Endlichen, das Göttliche mitten im Menschlichen?

Ist das nicht Religion? Ja, die Erfindung der Religion als dem absolut Anderen ist die Einnistung des Ganz Anderen in die Niederungen des Seins.

Der endliche Mensch hört in den Niederungen des Seins den Ruf des Unendlichen, um sich erneut zu komplettieren.

„Dieser Sinn steht im äußersten Gegensatz zu dem ebensowohl griechischen als lateinischen Sinn für Maß, Form, Gestalt; Grenze, Geschlossenheit der Formen“. Dilthey sagte schon vorbildlich angesichts der Germanen des Tacitus:
„Ihr Handeln ist nicht durch eine rationale Zwecksetzung bestimmt und begrenzt; ein Übermaß von Energie; das über den Zweck hinausgeht, ist in ihrem Tun.“ (Max Scheler; Die Ursachen des Deutschenhasses)

Die Deutschen wollen dem Maß des Menschlichen entfliehen. Das Menschliche ist nicht länger das Maß des Menschen, der mehr sein will als eine irdische Missgeburt.

Zu diesem Zweck wurde das Unendliche erfunden als Übersetzung des mehr als sein wollenden Urwesens.

Als endliches Sein, das mehr sein wollte als das, was es ist, wurde der Mensch eingeführt als ein dem höchsten Sein angehörigen Wesen.

Als die Philosophen der Moderne den Gott der Naturvernunft fanden und dennoch mehr sein wollten als diese, brauchten sie eine Verbindung ihrer Endlichkeit mit dem Unendlichen.

Leibniz entwickelte eine Verbindung zwischen Oben und Unten: es war die Bewegung der individuellen Vervollkommnung, die sich gleichwohl damit begnügte, das Streben nach Vervollkommnung, nicht die Vollkommenheit selbst, zu erleben.

Ist es nicht beeindruckend, die Deutschen pendeln zu sehen zwischen der Sehnsucht, was sie nicht sind und dem, was sie in Demut annahmen: irdische Wesen?

Nach Leibniz kam Lessing, der die vom Vater angebotene Wahrheit in die Hände des Vaters zurückgeben will, auf dass er „ewig nach ihr streben“ dürfe.

Goethes Spruch in Faust: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“, hätte nicht deutlicher das Zwischenreich des Menschen ausmessen können.

Über Kants „unendlicher Pflicht“, die das Moment des Unendlichen im Endlichen einbürgern wollte, kam Fichte. Natur wird für ihn „Material unendlicher Pflicht“. Natur als Feld der Pflicht muss vom Menschen erst hergestellt werden. Sie ist kein Ding an sich, sondern ein vom fast göttlichen Menschen produziertes.

Für Hegel ist Natur ein durch Kampf und Widerspruch sich darlegendes unendliches Sichbewusstwerden der göttlichen Idee.

Für Nietzsche ist sie der zum dionysisch bejahten Willen zu end- und grenzenloser Macht.

Was soll das ganze Geflunker um Sein oder Werden, um nimmermüdes Streben nach dem Unerreichbaren?

Antwort von Max Scheler: „Diese Idee ist die Voraussetzung der erhabensten Tugenden wie der schwersten Fehler unseres Volkes. Sie ist die Geburtshelferin der Deutschen, die das Menschsein überwunden, aber am Gottsein verzweifeln sollten. In den ersten Zeiten warf sich dieses grenzenlose Streben auf Denken, Dichten, Nachleben, Nachfühlen alles Menschlichen in allen Zonen und Zeiten. Es war wie ein Amoklauf gegen den Himmel.“

Hier musste geschehen, was viele Christen fühlten, wozu aber nur die Deutschen sich befähigt fühlten. Sie fühlten sich allein berechtigt, Gottes Lieblingsvolk auszulöschen, um sich an deren Stelle zu setzen. Nicht Gott, sondern sie waren es, die Gottes Lieblinge vernichten konnten, um selbst seine Lieblinge zu werden.

Nur wer zur höchsten Blasphemie fähig war, der konnte versuchen, Gottes Schöpfung in gleicher Weise zunichte zu machen. Die Deutschen fühlten sich gottgleich genug, um seine Urentschlüsse zu revidieren, so gottgleich aber nun auch wieder nicht, dass sie das Unendliche einfach aus dem Wege räumen konnten.

Das war die Doppelbedeutung des unendlichen Strebens. Nicht existieren können wie andere endliche Wesen, dennoch nicht auf der Stufe des Göttlichen ankommen. Zwischendrin irgendwas, weder das Eine, noch das Andere.

Den Angriff gegen die Natur kann nur der durchführen, der sich mehr fühlt als das Endliche, aber weniger als das Unendliche. Er muss streben nach dem, von dem er ahnt: das wird er nie erreichen. Gerade deshalb muss er es versuchen.

Am deutschen Wesen wird die Welt genesen. Sind Amerikaner nicht deutscher geworden als diese je waren? Ihr Streben nach dem Unendlichen wird zur Sucht, den Tod zu überwinden und ewig zu leben.

Auch der Amerikaner ahnt, das wird er nie erreichen – und dennoch muss er es erproben, den amerikanischen Traum, ohne den es keine Zukunft geben wird. Das Spiel mit dem Tod, das Spiel mit der Unendlichkeit: das ist das heutige Streben nach Unendlichkeit.

Das Spiel mit dem Risiko, dem Alles oder Nichts. Geht es im Drama der Menschwerdung des Menschen nur um läppische irdische Macht? Muss es nicht um weitaus mehr gehen, damit die Menschheit nicht aus dem Staunen herauskommt, was die amerikanische Weltraumpolitik betrifft? Es geht um Alles, damit es um Nichts gehen kann, wenn das Alles fehlschlägt.

Die Deutschen haben es probiert und sind gescheitert. Ihr Streben nach dem Unendlichen war eine höchst riskante Gottwerdung, die fehlschlug, weil sie mangels Gott fehlschlagen musste.

Nun die Amerikaner. Sie schwankten von Anfang an zwischen Demokratie und der Sehnsucht nach Gottes Drittem Reich am Ende aller Tage. Bemerkte bislang irgendjemand, dass es diese Ähnlichkeit zwischen deutscher Sehnsucht nach dem Unendlichen und der derselben amerikanischen gab und immer noch gibt? Von solchen theologischen Finessen will man in Deutschland nichts mehr wissen. Angeblich hat man sie überwunden.

Und in Amerika? Werden sie von zwei Seiten in glühendem Glauben festgehalten:

a) Von der Seite des technischen Fortschritts, der die Menschheit vom Traum überzeugen will, die Schwäche des Menschen durch die Genialität der eigenen KI-Geschöpfe zu überwinden.

b) Und von der Seite des Urglaubens: Religion ist nichts anderes als der amerikanische Traum von früher, die Welt mit Hilfe des Strebens nach Unendlichkeit in ein Reich Gottes zu transformieren.

c) Heute werden beide Träume von denen, die sie träumen und technisch realisieren, zusammengebracht, um die Welt von der Wahrheit des Glaubens zu überzeugen. Glauben heißt, Streben nach dem Unendlichen, sei es in frommer Sehnsucht, sei es in kühler Betätigung des eigenen Kopfes.

Wenn Technik und Glauben zusammenkommen, wird das Wunder geschehen: das ist der Glaube der Amerikaner, der momentan in Erfüllung zu gehen scheint. Das wird die neue Schöpfung sein, wenn alle menschlichen Fähigkeiten zueinander finden und ein Gesamtkunstwerk vollbringen.

Technik muss Flügel erhalten und Glauben muss irdische Werke zustande bringen. Soll Gott ein luftleerer Ästhet bleiben – oder ein glaubensloser Handwerker?

Nein, er ist alles in allem. Und das wird er der Menschheit anjetzo beweisen. Woran amerikanische Genies schon immer geglaubt haben, das werden sie jetzt demonstrieren. In kindlicher Exaltiertheit, im Entzücken der letzten Tage. Der Herr wird zurückkehren, wenn der Mensch nach vorne prescht und beweist, dass der Mensch endlich zur Einheit wird: die Einheit aus Fühlen und Denken, aus bewusstem Wollen und unbewusstem Ahnen, aus Beten und Rechnen.

Der Mensch muss wieder zur Einheit werden. Das wird das amerikanische Streben nach dem Unendlichen sein: die Einheit aus Bibel und KI. Diese Welten können nicht ewig verfeindet bleiben.

Einen Traum haben die Amerikaner schon erfüllt: die Einheit von Glauben und Kapitalismus, von Beten und Verdienen:

„Zu denen, die ihr Kapital angehäuft und sogar verdoppelt hatten, zu denen sagte der Herr: „Wohlgetan, du guter und getreuer Knecht, du hast über weniges treu gewaltet, ich will dich über vieles setzen: nimm teil an der Freude des Herrn.“ (A. Carnegie, Das Evangelium des Reichtums)

Gab es das wirklich, die Vorstellung, dass Amerika zum gläubig-rationalen Land werden könnte, in dem die Fehler des europäischen Kapitalismus vermieden werden würden?

Ja, kurz nach dem Ersten Weltkrieg gab es bedeutende Namen, die ihr Land weder dem östlichen Marxismus noch dem westlichen Schlendrian einer grenzenlosen Geldgier ausliefern wollten. Sie wollten eine reformierte „Wirtschaftsdemokratie“, die für alle Menschen da sein sollte.

Da war ein bemerkenswerter Jurist namens Brandeis, der Sätze aussprechen konnte, die heute niemand Amerika zutrauen dürfte:

„Die industrielle Lohnarbeit hielt Brandeis für eine der Sklaverei gleichende Form von Abhängigkeit. Arbeiter in der Stahlindustrie würden ein so unmenschliches Leben führen, dass unsere frühere Sklaverei unbedingt vorzuziehen wäre. Der frühere Herr war Eigentümer des Sklaven und versuchte, sein Eigentum in einem Zustand zu halten, in dem es für seine Interessen arbeiten konnte. Der Stahltrust von heute hingegen sieht seine Sklaven als etwas an, das abgenutzt und weggeworfen wird. Das führe zu physischer und moralischer Degeneration und dem Verfall amerikanischer Bürgerschaft.“ (zit. in M. Sandel, Das Unbehagen in der Demokratie)

Und weiter der unglaubliche Text aus dem angeblich geld- und machtgierigen Amerika:

„»Brandeis hielt an seiner Überzeugung fest, dass Arbeit, die freiwillig im Tausch gegen Lohn erbracht wird, keine freie Arbeit sei.c Kann ein Mann frei sein, der ständig in Gefahr ist, dass er um des bloßen Lebensunterhalts von jemandem und etwas Anderem abhängt als von seinem eigenen Einsatz und Verhalten? Der Widerspruch zwischen unserer großartigen politischen Freiheit und dieser industriellen Sklaverei konnte auf Dauer nicht bestehen bleiben. »Entweder die politische Freiheit wird ausgelöscht oder die wirtschaftliche Freiheit muss wieder errichtet werden«.“ (ebenda)

Deutschland imitiert Amerika fast in allen Dingen, nur nicht in den wichtigsten: in den politischen. Bei uns darf niemand träumen; in Amerika gibt’s keine großen Männer, wenn sie nicht versuchen, ihre jugendlichen Träume durch technisches Genie mit dem Glauben an die eigenen Fähigkeiten zu vereinen.

Deutschland träumt davon, amerikanischer zu werden als die Amerikaner, doch wehe, sie glauben tatsächlich an Biblisches – wie diese infantilen american boys.

Glaubt man tatsächlich, dass der folgende Satz aus Amerika kommen kann:

„Brandeis bevorzugte die Wirtschaftsdemokratie – nicht, um das Einkommen der Arbeiter zu verbessern, – so wünschenswert das auch sein mochte –, sondern um ihre demokratischen Fähigkeiten zu verbessern. Denn wir sollten nicht vergessen: die Vereinigten Staaten sind eine Demokratie in der wir eins haben müssen: die Möglichkeit, Mensch zu sein.“ (Sandel)

Und was geschah? Plötzlich erschienen die Chicago-Boys mit Milton Friedman und ein hochgebildeter Herr aus dem untergegangenen k.u.k.-Österreich namens Hayek und warfen das kleine Wunder über den Haufen. Darauf – der Zweite Weltkrieg.

Und warum? Es gab zu wenige Menschen, die daran glaubten, dass der Mensch Mensch werden könne.

Fortsetzung folgt.