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Welt retten! Aber subito! XCVI

Tagesmail vom 10.07.2023

Welt retten! Aber subito! XCVI,

Okay, wie wärs mit einer tour d’horizon über die Gattung Mensch?

Nehmen wir an, es gäbe zwei Zwillings-Erden mit derselben Menschengattung, sonst aber kontradiktorisch verschieden:

a) die eine wie die unsere: technischer Fortschritt, Verwüstung der Natur, um immer reicher zu werden und über jene hinwegzutrampeln, die nicht mitkommen, „Erkennen“ als Vorwand zum despotischen Tun, der Mensch als ein ewig Unzufriedener, der Gott werden will, um ins Endlose zu streben …

b) die zweite das strikte Gegenteil: das Leben am Busen der Natur ist vollkommen und kann durch keine Technik übertroffen werden, kein Fortschritt, der sich als Schädigung der Natur und des Menschen herausstellt, Erkenntnis dient nicht der Beschädigung der Natur, sondern allein der Frage: was ist das beste Leben auf Erden …?

Welche würdet ihr wählen, liebe Mitmenschen? Die vorwärtsrasende, sich progressiv nach Oben entwickelnde, nie ankommende, kein Risiko vermeidende Erde – oder die in jedem Augenblick in sich ruhende, keine Vergangenheit leugnende, keine Zukunft suchende Erde, die gänzlich anders wäre als die gegenwärtige?

Die erste Welt kennt jeder Erdenbewohner, der seine Sinne und seinen Kopf nutzen kann. Kennt er sie wirklich?

„Zum ersten Mal in ihrer Geschichte genießt die Menschheit einen Überfluss an Gütern, der Planet bricht schier unter seinen Schätzen zusammen. Die verfügbaren Güter übertreffen um ein Vieltausendfaches die nicht einschränkbaren Bedürfnisse der Menschen.“

Ist das nicht herrlich? Müsste die Menschheit nicht komplett zufrieden sein und jeden weiteren Fortschritt einstellen? Wie lautet die Antwort?

„Die Leichenberge wachsen. Die vier apokalyptischen Reiter heißen Hunger, Durst, Seuche und Krieg. Sie zerstören jedes Jahr mehr Männer, Frauen und Kinder, als das Gemetzel des Zweiten Weltkriegs in sechs Jahren getan hat. Für die Menschen der Dritten Welt ist der „Dritte Weltkrieg“ in vollem Gange. Alle sieben Sekunden verhungert auf der Erde ein Kind unter zehn Jahren. Die ganze Dimension menschlichen Leids fehlt noch in diesem Bild: die erstickende, unerträgliche Angst, die jeden Hungernden peinigt, sobald er erwacht.“ (alle Zitate in Jean Ziegler, Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher)

Wer hat das Sagen auf der Welt? Wer bestimmt über Leben und Tod der Milliarden von Menschen, Tieren, Pflanzen und allem, was zur Natur gehört?

„Das Recht über Leben und Tod dieser Milliarden von Menschen üben die Herren des globalisierten Kapitals aus. Durch ihre wirtschaftlichen Strategien, ihre Geldspekulationen, ihre politischen Bündnisse, die sie eingehen, entscheiden sie Tag für Tag darüber, wer das Recht hat, auf diesem Planeten zu leben – und wer dazu verurteilt ist, zu sterben.“

Um endlos reich zu werden, sind Menschen gezwungen, über riesige Menschenmassen hinwegzutrampeln – nur um reich und immer reicher zu werden?

Kann es sein, dass diese Superreichen gar nicht wissen, was sie tun? Müsste man sie nicht aufklären, damit sie ihr unfassbares Tun einstellen könnten?

Doch, sie wissen genau, was sie tun. Sie halten sich gar für die Wohltäter der Menschheit:

„Der Kampf um mehr ist völlig frei vom Makel der Selbstsucht oder des Ehrgeizes und wird ein edler Beruf. Er arbeitet dann nicht für sich, sondern für andere. Je mehr erwirbt, desto mehr empfängt die Allgemeinheit.“ (Andrew Carnegie, Das Evangelium des Reichtums, 1907)

Das war noch im Frühstadium des amerikanischen Kapitalismus, heute könnte kein reicher Amerikaner so schreiben. Die Hüllen des Kapitalismus sind gefallen, heute weiß man, was er wirklich will. Was will er?

„Die schrankenlose Gier unserer Reichen, verbunden mit der Korruption der Eliten in den so genannten entwickelnden Ländern bildet ein gigantisches Mordkomplott. Überall auf der Welt und Tag für Tag wiederholt sich der Kindermord von Bethlehem. Wie gelingt es den neuen Herrschern, sich an der Macht zu halten, wo doch die Unmoral, die sie leitet, und der Zynismus, der sie erfüllt, für niemanden zweifelhaft sind? Wie kann es sein, dass auf einem mit Reichtümern gesegneten Planeten Jahr für Jahr Hunderte von Millionen Opfer von äußerster Armut, gewaltsamem Tod und Verzweiflung werden?“ (Ziegler aaO)

Hier täuschte sich der Schweizer Ziegler über den Charakter der Deutschen. Sie verpönen die Moral, halten sie für das Allerletzte und können keine Woche vorübergehen lassen, ohne die „Moralisierung“ der Wirtschaft und Politik als unsachlich vom Tisch zu wischen.

Nicht nur Politiker jeden Lagers, besonders die Medien unterlassen es nicht, ihre Verhöhnungen der Moral vom Stapel zu lassen. Offensichtlich kann es für sie nichts Schlimmeres geben als moralisch-kleinbürgerliche Moralbewertung der Geldprozesse. Besonders der SPRINGER-Verlag mit dicken Beziehungen zu Geldbaronen in Amerika zeigt sich hier forsch. Christian Stöcker:

„»Energiesouveränität« ist eine verrückte Prepperfantasie, die die Realität globaler Abhängigkeiten von fossilen und nuklearen Brennstoffen, die Realität des deutschen Energiemarktes, man könnte auch sagen: die Realität an sich einfach ausblendet. »Bild« gibt die Desinformations-Talking-Points vor, und alle machen mit. Nicht vergessen: Der Springer-Verlag gehört fast zur Hälfte Investoren, die gewaltige Summen in fossile Brennstoffe investiert haben. Weitere knapp 22 Prozent gehören Mathias Döpfner, der seinen SMS zufolge »sehr für den Klimawandel« ist. Es geht beim Thema Energieversorgung um Geld. Sehr viel Geld.“ (SPIEGEL.de)

Offene Lügen von auflagenstarken Gazetten, die kaum einen Hehl aus ihren maroden Hintergrund-Geschäften machen. Das wird von wem gelesen und für gut gehalten? Doch nicht von AfD-Sympathisanten?

Es sind vor allem Zeitungen, die nach Ursachen des anwachsenden Rechtsrucks Ausschau halten? Sie weisen auf andere, um von sich abzulenken.

Dabei ist die Antwort einfach: jeder, der sich vom gesunden demokratischen Weg verabschiedet, rutscht nach rechts in den Abgrund. Kann es denn etwas Gesundes und Normales in Gesellschaften mit diametralen Lebensentwürfen geben?

Adam Smith, der als Begründer des modernen Kapitalismus gilt, war kein Feind der Moral. Sein Wirtschaftssystem war für ihn das moralischste, das er kannte.

„Wie die Physiokraten, so erhoffte auch Smith von der Herstellung des „einfachen und klaren Systems der natürlichen Freiheit“: Gerechtigkeit, Fortschritt, Reichtum und Glück für alle. Die Harmonie der Interessen aller wird von selbst erstehen, da jeder den natürlichen Preis seiner Arbeit in einer Gesellschaft finden muss, in der keine Privilegien den einen bevorzugen und den anderen schädigen. Es ist ein großer, ehrlicher Optimismus, der die Gedanken von Adam Smith trägt. Die Auffassung, dass ihre Lehre allen, die arbeiten wollen, und können, den Weg zum Glück erschließt, verbindet Smith mit den französischen Physiokraten viel enger als mit den späteren Vertretern der liberalen Schule, die jene Hoffnungen als unerfüllbar hinzustellen sich bemühen.“

Smith war ein Revolutionär der Moral, der sie aus den Fesseln des Christentums befreien wollte. Die Aufklärer jener Zeit hatten vom Christentum die Nase voll. Gelang ihm die Befreiung?

Wait a little moment. Alles, was mit Christentum zusammenhängt, könnte schwierig werden. Christliche Moral besteht aus mehreren Stufen. Die unterste Stufe ist die Gleichstellung mit der Goldenen Regel der Heiden:

Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.

Das war das geringste Niveau, denn zu diesem Ethos waren auch Nichtgläubige in der Lage. Wie man selbst behandelt werden will, so behandele man andere.

Zu diesem niederen Zweck soll der Heiland sich ans Kreuz nageln lassen? Kann nicht sein. Das Niveau der Jesusjünger muss weitaus höher sein als die Kunst der Heiden.

„Euch, die ihr mir zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln. Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd. Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück. Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder. Und wenn ihr nur denen etwas leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern in der Hoffnung, alles zurückzubekommen. Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Luk 6)

Machen wir’s kurz: Christentum will alles Gute der Welt überbieten. Wozu sonst wäre das Erscheinen des Erlösers notwendig gewesen? Was ist besser als das menschlich Gute – welches auf Ausgleich erpicht ist? Das göttlich Bessere, das die natürliche Ethik übertrifft.

In der normalen Regel gilt: wie du mir, so ich dir. Das führt zum Ausgleich oder zum Patt, zum Gleichgewicht beider Parteien: niemand hat am Schluss verloren, niemand gewonnen.

Die Welt ist wieder hergestellt, wie sie vor der Unrechtstat gewesen war. Nach einer guten Tat mit der Goldenen Regel beginnt alles wie vorne. Niemand wurde geschädigt – denn es wurde ausgeglichen, als ob nichts geschehen wäre. Niemand wurde belohnt, alles ist wieder, wie es vorher war.

Anders in der eigentlich christlichen Liebesethik: hier überbietet der Christ die Wiederherstellung des Guten durch Opferung seiner Persönlichkeit. Vor der Welt verliert er, vor Gott aber gewinnt er, denn er überbietet das Gute der heidnischen Vernunft.

In einem Geldstreit würde der Christ freiwillig auf seinen Teil verzichten, auch wenn er glaubte, er sei im Recht gewesen. Doch jetzt kommt der Clou: und doch ist Gottes Liebling der Bessere. Warum? Weil er – im Himmel belohnt wird durch seinen göttlichen Vater. Können Ungläubige so etwas verstehen?

Das ethische Spielfeld des Christen bezieht sich nicht nur auf die Welt, sondern hat seinen Mittelpunkt im Jenseits. Streng genommen ist die Erlöserreligion gar keine irdische Moral. Sie entzieht sich jedem sinnvollen Vergleich mit anderen Moralen.

„Denn das Reich, in dem wir Bürger sind, ist in den Himmeln.“

Streng genommen kann es keinen Wettbewerb geben zwischen Frommen und Weltlichen, denn jeder hat ein anderes Bezugssystem. Der Ungläubige wird von der Welt, der Gläubige von Gott bewertet.

Zudem schwankt der Rang von Reichtum und Armut. Einmal werden die Reichen – vorausgesetzt, sie sind mildtätig – gelobt, ein ander Mal werden sie in die Hölle geschickt.

Was macht Smith aus dem Kauderwelsch? Er entzieht sich dem Ganzen und flüchtet – in die Stoa. Jedenfalls in die Stoa, die er für richtig hält. Seine Formel:

Wer für sich selbst am besten da ist, ist auch am besten für alle da.

Nüchterne Erfolgsgier paart sich mit sozialer Verantwortlichkeit. Sind die Kapitalisten seinem Rat gefolgt? Natürlich nicht, denn er hat sich so oft widersprochen, dass niemand bis zum heutigen Tage weiß, was die Quintessenz seiner stoischen Lehre sein soll. Viele gute Ratschläge sind betäubt worden von anderen Ratschlägen, die eher rational-egoistisch schienen als sozial-uneigennützig.

Hinzu kam ein entscheidender Punkt: waren wirtschaftliche Gesetze überhaupt moralische, von Menschen bestimmte Gesetze? Eben nicht mehr.

Die neuen Wissenschaftler wie Newton und Galilei hatten nicht nur den Ehrgeiz, Gesetze der Natur zu finden, sondern sie als eigentliche Gesetze des menschlichen Zusammenlebens der Welt zu verkündigen.

Weil die Moral des christlichen Abendlands verworren war wie ein Labyrinth und jede neue Glaubensgemeinschaft eine andere aus der Tasche zog, wollten die weltberühmten Wissenschaftler diesen Streit aus dem Wege räumen und das Beurteilen der Werte den Menschen gänzlich entziehen. Ökonomie wurde aus dem Kanon der Geisteswissenschaften hinausgeworfen und dem Bereich der strengen, quantitativen Naturwissenschaften zugesprochen.

Anfänglich widersprachen die Deutschen heftig diesem quantitativ- wissenschaftlichen Zug und verteidigten in vielen „idealistischen“ Begriffen, was „deutscher Sozialismus“ sein sollte. Im Werturteilsstreit schloss Max Weber sich den knallharten Österreichern an, deren Positivismus alles vertrug, nur keinen Streit um wachsweise Begriffe.

Der ökonomische Sieg der Angelsachsen über die Deutschen war der Sieg eines wissenschaftlich-nachprüfbaren Rechnens über die sozialen Verschwommenheiten der Deutschen. Als Wissenschaftstheoretiker Popper seinen alten Wiener Freund Hayek mit seinem Falsifikationssystem unterstützte, war es um die deutsche Historikerschule endgültig geschehen.

In der Nachkriegszeit kam die 68er-Bewegung mit dem Streit Pro und Contra Marx hoch. Erst nachdem dieser Angriff der Studenten gegen die deutsche Gesellschaft sich in alle Richtungen auflöste, brach der Neoliberalismus des F. von Hayek in die Wirtschaft des Westens ein.

Kein Mensch verstand etwas. Die Deutschen wollten vor allem das neue Weltniveau gewinnen und zeigen, dass sie jedem Zeitgeist beliebig folgen konnten.

Seitdem weiß niemand mehr, wer was ist. Die Medien, unfähig, den notwendigen Grundsatzstreit zwischen „Wien“ und „Preussen“ zu durchstreiten, um Deutschland nicht in die Irre gehen zu lassen, liessen alles passieren und bewerfen sich seitdem mit den neuesten Schmähworten.

Eins ist klar: Hayek, der den Deutschen im Dritten Reich vorwarf, mit einer totalitären Wirtschaft ihren Totalitarismus aufgebaut zu haben, kann selbst mit seinem Neoliberalismus kein astreiner Demokrat sein. Zum Schluss zwei Zitate von ihm:

„So edel und lobenswert die Gefühle sind, die in Begriffen wie Menschenwürde ihren Ausdruck finden, für sie ist in einem Versuch zu rationaler Überzeugung kein Platz.“ (In: Illusion Menschenwürde von F. J. Weltz)

„Die altruistische Maxime „Liebe deinen Nächsten“ spiegelt für ihn lediglich eine Stammes-Moral wider und kann sich sinnvollerweise nur auf Menschen beziehen, zu denen eine nachbarschaftliche oder verwandtschaftliche Beziehung besteht. Als moralische Grundregel für die Großgesellschaft und abstrakte Ordnung ist dieses zentrale Gebot schlichtweg ungeeignet.“ ( In Hennecke, F. A. von Hayek)

Wie kann ein Verächter der Menschenwürde – dem Herzstück der Polis – ein Freund der Demokratie sein? Wie kann der als einer der besten Ökonomen des Westens gelten?

Und nun die Schlussabstimmung. Für wen stimmst du ab, oh Freund des Menschen und der Natur: für a) oder b)?

Fortsetzung folgt.