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Welt retten! Aber subito! VII

Tagesmail vom 09.09.2022

Welt retten! Aber subito! VII,

„Ich dien“.

Welch tröstliche Aussage für Stürmer der Zukunft, die über Nacht vor dem Nichts standen.

Wie dient eine wahre Königin des Westens? Schweigend erduldet sie alles – in glanzvollen Palästen. Verwaiste Massen drängen sich vor ihren Schlössern und starren durch die Gitter.

Was sehen sie? Was immer sie sehen wollten, sie sehen nichts.

Das Unsichtbare und Geheimnisvolle ist es, das sie bei ihrer Rückkehr ins Alltägliche trösten soll.

Europas Demokraten nehmen Abschied von ihrer wahren Mutter, die durch keine nationale Kopie ersetzt werden kann und nur eine einzige Botschaft kannte: was immer ist, es ist gut – solange ich es schweigend ertrage.

Am Anfang war das Wort eines übermächtigen Mannes, am Ende wird die Stummheit der ohnmächtigen Frau sein.

Alle Revolutionen Europas waren vergeblich. Wenn es um Sein oder Nichtsein geht, kommt nichts auf den Einzelnen an, der nicht weiß, wo er steht und wohin er sich verirrt hat. Dann aber muss wieder die Vergangenheit präsentiert werden – die nie untergehen darf.

Was war der Traum Europas?

„Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger!
Alles zu werden, strömt zuhauf!“

Sind wir nicht alles geworden? Haben wir nicht alles unter Kontrolle? Sind wir nicht imstande, die letzte Krume zu zerlegen, das Andere und Fremde zum Verschwinden zu bringen und das Eigene unter unseren Füßen zu zertreten?

Kann es sein, dass die Menschheit nicht weiß, wohin sie will?
Aber genau das will sie doch: sie will es nicht wissen.

Kann es sein, dass die Menschheit sich nicht finden will?
Aber genau das will sie doch: sie will blind umher irren – und stolz auf ihr Herumtappen sein.

Kann es sein, dass die Menschheit nicht mündig werden will?
Aber genau das will sie doch: sie will mündig werden, indem sie in eigensinnigem Trotz – unmündig bleibt.

Von niemandem will sie sich einreden lassen: dass sie werden soll wie die Kinder. Keine Kinder des Himmels, sondern tanzende, fröhliche Kinder der Natur.

Sollte, was nie geschehen darf und doch immer wahrscheinlicher wird: sollte die Menschheit den Abgang machen, wird sie die Natur, die sie getragen, ernährt und getröstet hat, nie mit Bewusstsein wahrgenommen haben.

Natur? Werden sie sich im Jenseits fragen, waren wir etwa unser ganzes Leben lang in einer Natur?

Ratlos werden sie sich anschauen und verschämt zuflüstern: ich habe keine Natur gesehen. Du etwa? Ich habe nur widerspenstige, vertrocknete Äcker gesehen, die ich im Schweiße meines Angesichts bearbeiten musste – damit sie uns ein paar armselige Pflänzchen beschert.

Und ich, sagte der Andere, habe nur fauchende Raubtiere gesehen, die sich gegenseitig das Genick gebrochen haben, giftige Schlangen und ekelhaftes Gewürm.

Und ich, sagte der Dritte, fand nur ein totes Weltall, von dem ich annahm, es werde uns freudig aufnehmen. Doch nichts, das Faszinosum wurde zum finstern Loch, das kein Ende nahm.

Und der Vierte faltete die Hände und wisperte: habe ich je eine saftig blühende und freigebige Natur erlebt?

Nein, die Natur wurde von ihrem Schöpfer „der Vergänglichkeit preisgegeben. Nicht weil sie selbst schuldig wurde, sondern weil er sie in das Strafgericht über den Menschen mit einbezogen hatte. Seinen Geschöpfen aber gab er die Hoffnung, dass sie eines Tages vom Fluch der Vergänglichkeit erlöst werden. Sie sollen nicht mehr Sklaven des Todes sein, sondern am Leben der Kinder Gottes teilhaben. Wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis jetzt noch wie vor Schmerzen stöhnt wie eine Frau bei der Geburt.“

Es gibt gar keine komplette, stolze, selbstgewisse Natur. Natur ist nicht, sie ist stets im Werden. Sie gebiert sich selbst. Doch es ist ungewiss, ob sie lebend das Licht der Welt erblickt. Denn was wird, muss zuerst abgestorben sein. Leben wird nur, wer den Tod übersteht.

„Ich versichere euch: Das Weizenkorn muss in die Erde fallen und sterben, sonst bleibt es allein. Aber wenn es stirbt, bringt es viel Frucht.“

Oder, wie es ein schwäbischer Philosoph formulierte:

„Die Entwicklung des Baumes ist die Widerlegung des Keims.“ Natur ist Einheit, Entzweiung und Zerstörung. Das Leben ist die Verbindung der Entgegensetzung und Beziehung.

Leben ist keine sorglose Entfaltung, kein problemloses Werden. Es muss die Widersprüche des Seins erdulden und siegreich überwinden.

Die Geschichte der Menschheit ist ein Wettkampf um Sein oder Nichtsein. Erst, wer alle Gefährdungen und tödlichen Widersprüche übersteht, gehört zu den Siegern der Schöpfung. Nur die Erfolgreichen und Wenigen werden den Tod überstehen und ein neues Leben erfahren.

Wir erleben den letzten und ultimativen Lebenstest. Wer Massengräber und den globalen Modergeruch nicht scheut, wird in das wahre Leben eintreten. Unser jetziges Leben ist vorläufig, ein bloßer Probelauf.

Nur die Tüchtigen und Todesmutigen werden ihn überleben.

Und was erleben wir jetzt? Den wahnsinnigen Versuch, die ganze Menschheit vor dem Tode zu retten. Diese Selbstsucht der überheblichen Natur muss eingestellt werden.

Lasset die Dinge laufen, wie sie laufen. Denn der Ablauf ist vorbildlich: die Überflüssigen, die nichts anderes können, als in versteckten Ängsten zu zittern, müssen vergehen. Da hilft kein falsches Mitleid, keine Moral, die an Unwürdige verplempert wird.

Die Natur ist kein fertiges Projekt. Sie wird und wer sich an ihrem Werden nicht beteiligt, bricht sich das Genick:

„Die Erde ist unsere Wiege, aber wir können nicht ewig in dieser Wiege bleiben“, formulierte Konstantin Ziolkowski, ein Wegbereiter der Raumfahrt.

„Erst auf den Denkmälern des Scheiterns lässt sich das Neue errichten. Bislang steckten hinter utopischen Welten meist Patriarchen. Männer schwangen sich zu allmächtigen Entscheidern auf, zu Taktgebern des Alltags.“ (Selke, Wunschland)

Haben die Frauen noch nicht bemerkt, dass Aktivisten des freiwilligen Sterbens, um aufzuerstehen, vor Kraft strotzende He-manner sind, die alles riskieren, um alles zu gewinnen?

Ängstliche Frauen denken nur an die Risiken der neuen Geburt. Denn sie, die Schwangeren, müssten dran glauben, wenn immer neue Geschöpfe sich tummeln sollen.

„Entweder wir verlassen die Erde oder wir verschwinden“, prognostiziert der Physiker Michio Kaku. „Es gibt keinen andern Weg. Das ist die Geschichte des Lebens.“ (in ebenda)

„In gewisser Weise ist die Sehnsucht nach Exploration in unseren Genen, sie ist fest verdrahtet mit unserer Seele.“ (Kaku)

Freilich gibt es altmodische Wissenschaftler, die nur retten, aber nichts riskieren wollen:

„Für Kritiker wie der Wissenschaftler James Lovelock ist die Vorstellung eines Ersatzplaneten eine „perverse“ Vorstellung, solange die Menschheit den wirklichen Zustand der Erde ignoriert. „Die Hoffnung, irgendeine Oase auf dem Mars zu finden, rechtfertigt die enormen Ausgaben nicht“, kritisiert Lovelock, der mit seiner Gaia-Hypothese dafür plädiert, die Erde als eigenständige Manifestation von Leben zu verstehen.“

Gaia? „Gaia oder Ge, deutsch auch Gäa, ist in der griechischen Mythologie die personifizierte Erde und eine der ersten Gottheiten. Ihr Name ist indogermanischen Ursprungs und bedeutet möglicherweise die Gebärerin.“

Auweia. Mit solch einer esoterischen Naturmythologie geben sich bewährte Forscher ab?

Echte Forscher klingen anders:

„»Die Entwicklungsmöglichkeiten sind dabei so grenzenlos wie das Universum selbst«, behauptet die NASA.» It`s not enough!« – anhand dieser Formel werden die Zuschauer dramaturgisch durch die Menschheitsgeschichte getrieben. Sind wir allein? Wo genau beginnt das neue Leben? Wo endet unsere kosmische Wanderschaft? Jedenfalls nicht in der Tristesse der Gegenwart, sondern in einer noch unerschlossenen Welt. Die alle überwanden ihre Panik vor dem Neuen und machten sich auf ins Unbekannte.“

Verstehen wir allmählich, warum die Menschheit nicht daran denkt, jene Türen, die sich zum freien Fall öffnen, nicht zu verrammeln, sondern alles Gefährliche und Abenteuerliche zu suchen – oder zu erfinden – um der Langweile des Irdischen zu entgehen?

Der Wissenschaftsglaube (Wissen ist Macht) vor allem ist es, der uns in seiner Sucht nach dem Brisanten und Neuen daran hindert, ein natur-empathisches Leben zu führen. Das Leben auf Erden ist ein Sprungbrett, ein Vorlauf zum wahren Leben – weit draußen in den Tiefen des Alls.

Nicht nur der Mensch ist etwas, was überwunden werden muss, auch die Erde mit ihren nervtötenden, immer gleichen Zyklen müssen wir hinter uns lassen.

Samuel Beckett hat die neue Abenteuerei auf den Salto gebracht:

„Wieder versuchen, wieder scheitern, Besser scheitern.“ Das scheiternde Wesen ist das gelungene Wesen. Fortschritt ist der Rösselsprung von Scheitern zu Scheitern. Wagemutige Wissenschaft macht das Leben nicht sicher, sondern destruiert alle Sicherheiten – um tollkühne neue Lösungen zu provozieren.

Legt ab den Irrtum, Wissenschaft wolle das Bestehende retten. Sie will nichts retten, sie will weiterkommen. Gleichgültig, mit welch gefährlichen Methoden.

„Solange es träumende Menschen gibt, ist Scheitern nie endgültig. Immer gibt es Hoffnung auf ein besseres Leben. Der Begriff dafür ist Schöpfung.“

Nun ahnen wir, wozu die Lust an der Gefahr nützlich ist: sie soll das beschränkte Geschöpf zum Schöpfer machen. Die gefährlich voranschreitende Menschheit soll ihren Status als Geschöpf wegarbeiten. Sie soll Schöpfer werden.

Alles andere birgt die Gefahr, immer gleiche Kopien zu entwickeln.

„Zur Utopielust gehört ein neuer Menschentyp, keine kopierten Existenzen, Menschen, die Lust aufs ergebnisoffene Experiment mitbringen, statt sich ängstlich am Hamsterrad der Betriebsamkeit festzukrallen.“

Da lauert ein Gegenargument: wollen Zukunftsutopien nicht die Menschheit beglücken? Bergen Beglückungswünsche nicht die Gefahr, totalitär zu werden? Aber doch nicht hier:

„Utopien müssen offen bleiben. Darin unterscheiden sie sich von totalitären Visionen.“ (Thomas Macho)

Je mehr Risiken und Gefahren, je freier der Fortschritt. Wer auf Zuverlässigkeit und Sorgfalt setzt, setzt auf Zwänge.

Überraschend sympathische Ergebnisse für eine vagabundierende, alles riskierende Zukunftstheorie. Günstige Perspektiven für das vor sich hin wurstelnde Deutschland, das keine Gelegenheit auslässt, durch Systemverluderung von Musk übernommen zu werden.

Die einen wollen Natur vervollkommnen, soweit man Maschinen vervollkommnen kann. Für Adam Smith war Natur eine perfekte Uhr, die wunderbar für jene Zwecke schafft, für die sie erschaffen wurde. Laissez faire war für Smith die Pflicht, sich aus den Vorgängen der Natur – zu denen auch die Ökonomie gehörte – rauszuhalten. Wirtschaft war das perfekte Abschnurren von Naturgesetzen, die mit Ökonomie zusammenhängen.

Perfekter Kapitalismus war demütiger Gehorsam gegen bestehende Naturgesetze. Willkürliches Eingreifen in die Naturgesetze – etwa zugunsten der Armen – war Ungehorsam gegen Gottes Gesetze.

Das war ein genialer Coup zur Rechtfertigung des überproportional wachsenden Reichtums der Reichen. Die Reichen arbeiten im Sinne der Natur, die Armen sind Naturzerstörer aus Faulheit.

Dass regelmäßige Wirtschaftskrisen im Dienst der Reichen auftreten, kann nur bedeuten, dass die Reichen sich immer weiter von der perfekten Uhr der Natur entfernen. Offenbar sind sie, im Gefühl, naturtreu zu sein, von der Natur immer weiter abgekommen.

Dass Wirtschaftsgesetze vom Menschen gemachte Gesetze sind und keine Naturgesetze, diese Erkenntnis Alexander von Rüstows hat sich noch immer nicht herumgesprochen.

Der listige Mensch hat offenbar zweierlei Methoden, um die Natur zum Narren zu machen.

Einerseits mechanisiert er sie zur ewig gleich laufenden Natur, um sich hinter ihr mit seinem leichtsinnigen Tändeln zu verstecken.

Andererseits interessieren ihn die Gesetze des natürlichen Überlebens nicht die Bohne und er zerfleddert sie nach Belieben, um seinen eigenen Vorteil auf ihre Kosten zu erwirtschaften.

Stopp, von welcher Natur reden wir überhaupt? Gibt es denn in der europäischen Philosophiegeschichte eine erkennbare Natur? Immerhin beginnt mit der Neuzeit ein verbissener Streit um die Erkennbarkeit der Natur.

Betrachten wir Kant:

Bei Kant gibt es keine erkennbare Natur an sich. Natur ist etwas, was sich unserer Erkennbarkeit entzieht. Natur ist unerkennbar. Unser Erkennen ist ein Projizieren unserer eigenen Vernunftgesetze in das – Nichts. Und siehe da: es funktioniert. Das geheimnisvolle X, die Natur, funktioniert so, als ob unsere hausgemachten Vernunftgesetze die Gesetze der Natur seien.

„Die Natur an sich gibt es nicht, sondern wie wir alle seit Kant wissen, immer nur „für uns“. Die Folge: es fehlt uns ein objektives Fundament, ein sicherer Maßstab, an dem wir die Eingriffe in die Natur „natur-gerecht“ ausrichten können.“ (bei Günter Altner, Naturvergessenheit)

Könnte man hier einwenden: was soll‘s? Hauptsache, wissenschaftliche Erkenntnisse seien hieb- und stichfest, gleichgültig warum – so bleibt doch ein Stachel im Fleisch:

Wenn wir die Natur an sich nicht erkennen, wie können wir wahrnehmen, in welchem Maß wir sie bereits ruiniert haben?

Wie viele „Intellektuelle“ gibt es in Medien und Politik, die steif und fest behaupten, die Deformation der Natur sei eine zufällige und vorübergehende Erscheinung. Von einer systematischen Naturzerstörung könne keine Rede sein. Und mit diesem Brett vor dem Gehirn wandeln sie weiter ins Verderben. Schließlich können wir die Herstellung unserer genialen Autos nicht gefährden. Warum verdummt Deutschland in zunehmender Geschwindigkeit? Weil wir glauben, unser Wohlstand könne sich Dummheit noch immer leisten. Hochmut kommt vor der globalen Niederlage.

Eine weitere Frage: was hat unsere schändliche Kindervernachlässigung mit vagabundierender Naturzerstörung zu tun? Weil wir unsere visionäre Fortschrittsreise in die Tiefen des Universums nicht gefährden lassen können, müssen wir uns dieser überflüssigen Blagen so schnell wie möglich entledigen. Dazu ist nur eine systematisch-kinderfeindliche Schul- und Kitapolitik fähig:

„Man hat sich – besonders in Berlin, aber nicht nur dort – daran gewöhnt, dass bei Kindern zuerst gekürzt wird. Das war ja auch das Programm in der Coronakrise: Sobald der Handlungsdruck auf die Politik stieg, wurden Kinder und Jugendliche reglementiert, mit eingeschränktem Unterricht und Freizeitbeschäftigungen sowie widersprüchlichen und seltsamen Regeln. Und es sind ja nicht nur die Schulen und Kitas – nahezu alle Einrichtungen, in denen mit Kindern gearbeitet wird, sind von Verfall und Vernachlässigung betroffen. Schon vor der Pandemie wurde wenig Politik für Kinder gemacht, Kinderrechte wurden trotz gegenteiliger Versprechen nicht im Grundgesetz verankert, die Kinderarmut ist seit Jahren beschämend hoch, Aufstiegschancen für Kinder aus armen Haushalten existieren fast nicht. »Kinder haben keine Lobby«, sagte kürzlich ein renommierter Kinderarzt auf einem Podium, ohne Widerspruch zu ernten. Sie sind eine seit Jahren zahlenmäßig schrumpfende Gruppe, sie erfüllen gesellschaftlich auch keine Funktion, sie sind keine Konsumenten und sie sind auch keine Wähler.“ (SPIEGEL.de)

In Krisen wird den Hartz4-Familien zwar das Kindergeld erhöht – das aber im selben Moment von Hartz4-Sätzen abgezogen wird. Nur deutsche Beamte können sich solche Infamien ausdenken.

Kann sich jemand Kinder vorstellen, die ein Jahr lang mit Raumanzügen in Mars-Raketen ausharren können? Eben, drum müssen sie weg. Sie sind nur lästig geworden und müssen aus dem Weg geräumt werden. Alles, was sie können, behindert nur den Fortschritt.

Auf dem Mars werden ganz neue Wesen gezeugt werden. Von genialen Maschinen werden sie sich nicht mehr unterscheiden lassen.

Fortsetzung folgt.