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Welt retten! Aber subito! VIII

Tagesmail vom 12.09.2022

Welt retten! Aber subito! VIII,

Was denkst du über unantastbare Menschenwürde? Ist dieser humane Grundsatz für dich ohne jeden Zweifel richtig?

Du nickst. Also Ja? Dann glaube ich, dass du ganz schön doktrinär bist. Genauer gesagt: das glaube ich nicht nur, sondern ich bin felsenfest davon überzeugt. Und ich prophezeie dir, mit solchen Rechthabereien schadest du jeder Demokratie.

Wie ich meine Meinung begründe? Dann hör mal zu, was ein Fachmann zu sagen hat, dem ich zustimme:

„Nicht starre Überzeugungen sind ein Zeichen von Stärke, sondern die Fähigkeit, Ambivalenzen und Widersprüche aushalten und sich in Diskussionen auch mal zu seinen Unsicherheiten bekennen zu können. Und echte Werte zeigen sich nicht darin, dass man behauptet, sie zu haben – sondern indem man nach ihnen handelt und etwa das Prinzip der allgemeinen und unverhandelbaren Menschenwürde achtet, wenn über die schwierigen Themen unserer Zeit diskutiert wird. Und die berechtigten Meinungs- und Handlungsfreiheiten anderer respektiert.“ (SPIEGEL.de)

Mal langsam, großer Meister, der du es für richtig hältst, sich in demokratischen Dingen hinter einer Autorität zu verstecken. Gegenfrage: allgemeine und unverhandelbare Menschenwürde: ist das keine starre Überzeugung – die jede andere Meinung vom Tisch wischt? Oder steht in unserem Grundgesetz: vielleicht, möglicherweise, unter bestimmten Bedingungen ist die Würde des Menschen unantastbar?

Immer noch der alte Beutelschneider! Glaub ja nicht, dass du mich mit deinen sophistischen Wortverdrehungen dazu bringen wirst, an den Fundamenten unseres Grundgesetzes zu zweifeln.

Schon zeigst du, dass hinter deinem scheinbaren Eintreten für nicht-starres Debattieren eine erhebliche Portion Starrheit steckt. Streng genommen kannst du gar nicht argumentieren. Mit keinem Wörtchen gehst du auf meine Kritik ein. Sonst hättest du auf meinen Einwand eingehen müssen: ist „unverhandelbar und allgemein“ dasselbe wie starr? Verbissen hast du meine Kritik vom Tisch gewischt. Weshalb ich den Eindruck von dir gewonnen habe: du bist ganz schön starr – obwohl du doch jede Starrheit ablehnst und so überaus flexibel sein willst. Wäre ich dein Lehrer in der Schule, müsste ich leider sagen: Setzen! Ungenügend, du künftiger Psychiater!

Szene aus dem deutschen Alltag? Niemals. In Deutschland, dem Land windelweicher Begriffe, die jedem unter der Hand dahinschmelzen, gibt es keine knallharten Dispute.

Warum?

Niemand will niemanden beleidigen, in Bedrängnis bringen, jemanden mundtot machen, damit er sein Gesicht verliere, ihn als Sprücheklopfer und Begriffsverdreher entlarven, als hochmütigen Besserwisser ertragen müssen.

Niemand will sich entlarven lassen, wenn die Gefahr besteht, dass ein Gesprächspartner seine Meinung in der Luft zerfetzen könnte.

Wir müssen uns gegenseitig schonen, auf dass wir weiterhin wirtschafts- und wohlstandsfähig funktionieren. Würden wir nämlich unsere Dogmen unter die Lupe nehmen, könnten wir unsre ganze Gesellschaft in Frage stellen – und damit ruinieren.

Wir müssen uns gegenseitig schonen, denn in Fragen der Wahrheit sind wir – ohne es zuzugeben – am ehrgeizigsten und verletzbarsten. Wenn wir uns schon von Gott verabschiedet haben, unserem bisherigen obersten Wahrheitsgaranten, wollen wir, dass unsere neue Autonomie auf keinen Fall als lächerliches Spektakel erscheine.

Wahrheit? Ist das nicht zu hoch gegriffen?

In der Tat, das ist hoch und zugleich tief gegriffen, denn Wahrheit ist – wie ein Philosoph trefflich sagte – das Umgreifende. Bevor du nicht fragst, was das ist, sag ich‘s dir: das Umgreifende ist, was wir alle lebensnotwendig nötig haben. Nicht im Sinne eines notdürftigen Überlebens, sondern eines erfüllten und freudigen Lebens, das am Ende seines Lebens sagen kann: ich danke dir Natur, dass du mir dieses beglückende Dasein geschenkt hast. Und jetzt: noch einmal – weil es so schön war.

Hallo Partner, bist du noch dabei – oder ganz woanders mit deinen Gedanken, die bei jeder Erwähnung des Wortes Philosophie zusammengezuckt sind?

Das hast du tatsächlich gesehen? Ich frag mich wirklich: was willst du ständig mit deiner Philosophie? Können wir nicht schlicht und einfach miteinander reden, quasseln, debattieren, streiten, einen „herrschaftsfreien Diskurs“ führen? Nein, letzteres streichen, jetzt bin ich selbst ins philosophische Abseits geraten.

Ja was meinst du, was wir schon die ganze Zeit tun? Philosophieren wir nicht schon längst – um unsere Probleme zu lösen?

Das ist der Hammer. Willst du ernsthaft behaupten, Philosophen seien unsere besten Problemlöser? Dann müssten unsere Politiker allesamt Philosophen sein, wenn aber nicht, müssten wir sie sofort in die Wüste schicken!

Ausnahmsweise muss ich dir Recht geben. Vor mehr als 2000 Jahren, als die Philosophie erfunden wurde, brachte sie dem Volk die Demokratie und der Menschheit die Völker- und Menschenrechte. Als die Propheten des Himmels die Herrschaft übers Abendland errangen, war‘s aus mit Demokratie und Menschenrechten. Das furchtlose eigene Denken wurde verboten, der Gottesstaat mit Beten in Furcht und Zittern eingeführt. Seitdem geht das Denken am Krückstock, weil es ständig Kompromisse aus selbstgeleitetem Denken und fremdgeleitetem Hosiannarufen machen muss.

Machen muss? Wer hat sie denn zu diesen miesen Kompromissen gezwungen?

Gratuliere, eine gute Frage. Also, geht doch. Gezwungen wurden die Denker von göttlichen Obrigkeiten, die sich für irrtumsunfähig und unfehlbar ausgaben, aber beherrscht wurden von Ängsten, in die Hölle zu fahren, wenn sie Gott Ade sagen würden. Machen wir‘s kurz: leider muss ich dir zustimmen, wenn du sagst, eine sinnvolle, menschheitslenkende Philosophie gebe es nicht mehr.

Die Neuzeit hat jede Philosophie im Dienst des irdischen Menschen zerstückelt. Sie hat sich ein eigenes Reich oberhalb der irdischen Geschicke eingerichtet, wo sie alle Anfragen der Menschheit zerschlissen hat in Dialektik, Hermeneutik, Materialismus, Idealismus, Phänomenologie, Existentialismus , Sprachphilosophie, Pragmatismus, Positivismus, Szientismus, Nihilismus, Optimismus, Messianismus und sonstige -ismen. Wer nichts mehr zu sagen hat, spricht im misstönenden Chor aller gestelzten Wissenschaftssprachen dieser Welt. Hier kann man sich nur noch die Ohren zuhalten. An einem Dialog mit dem Volk sind Wissenschaftler nicht interessiert. Eben diese abschreckende Kakophonie erfreut die Herren der Welt, die sich vor keinen denkerischen Attacken mehr fürchten müssen. Da ursprüngliches Denken die Aufgabe hat, Gedanken und Gefühle des Menschen zu durchforsten und in logische Klarheit zu bringen, darf man sich nicht wundern, wenn die heutigen Springfluten an Worten, Begriffen, Sätzen, Verlautbarungen, Mitteilungen, Warnungen und Empfehlungen eher vernichtenden Sintfluten gleichen, als erquickenden Landregen, die jede verdorrte Erde zum Leben erwecken können.

Betrachten wir spaßeshalber die Äußerungen des obigen Seelentrösters, der den FFF-Demonstranten sagen müsste: tretet nicht so starrsinnig-besserwisserisch auf. Eure Botschaft, die Welt gehe unter, wenn die Menschheit sich nicht grundlegend ändert, erschreckt die Menschen nur. Ihr redet von Dingen, die über euren Horizont hinausgehen. Ihr beruft euch auf angeblich eindeutige Erkenntnisse der Menschheit, als ob ihr nicht wüsstet, dass die Wissenschaft nicht daran denkt, mit einer Zunge zu reden. Das tut ihr ab mit der Bemerkung, wer eure Meinung nicht teilt, wird von superreichen Monopolen im Hintergrund bestochen.

„Nachdem die deutsche Gesellschaft einige Jahrzehnte Zeit hatte, sich eher theoretisch mit ihren Werten und der daraus resultierenden Beziehung zur Welt zu beschäftigen, kommt es durch die Krisen zu einer unverhofften und unerwartet heftigen Erprobung dieser Theorien an der realistischen Praxis. Dieser Erprobung sollten wir nicht mit Angst begegnen. Schon gar nicht in einem Modus dauernder gegenseitiger Kritik, der konstruktive Diskussionen unmöglich machen kann.“

An diesen Sätzen stimmt nichts. Einige Jahrzehnte hatte die deutsche Gesellschaft Zeit, sich mit ihren Werten zu beschäftigen? Erstens geht es nicht nur um die deutsche Gesellschaft, sondern um die ganze Menschheit. Zweitens ist die Lage der heutigen Menschheit vom Kampf ihrer Philosophien, Religionen und Ideologien seit ihrem Bestehen geprägt. Wir können uns nur verstehen, wenn wir unsere Geschichte verstanden haben. Vor allem die Geschichte der „Hochkulturen“, wo der Geist des Menschen seine Sprache gefunden hat.

Da die verschiedenen Kulturen sich sehr unterschiedlich entwickelten, unterschieden sie sich auch in Technik, Kunst, Wissenschaft immer mehr: ihre politische und ideologische Machtentfaltung klaffte auseinander. Das nützten die stärksten naturbeherrschenden Völker, um die schwächsten zu überfallen, zu versklaven, nicht selten auszurotten.

Die Sünden dieser „Hochkulturen“ – wie sie sich anmaßend bezeichneten – lasten noch immer auf dem Bewusstsein der „niederen und entwicklungsbedürftigen“ Kulturen. Putins Krieg will ein Beitrag sein, um die Last dieser Schuld durch Machtkorrektur zugunsten des Ostens zu verbessern. Der Westen, so Putin, sei zu inhuman und reformunfähig geworden, um dem drohenden Untergang der Menschheit etwas Sinnvolles entgegenzusetzen. Das könnte nur Moskau als Führer der geschändeten Welt in ein neues Heil.

„Dieser Erprobung sollten wir nicht mit Angst begegnen. Schon gar nicht in einem Modus dauernder gegenseitiger Kritik, der konstruktive Diskussionen unmöglich machen kann.“

Wie bitte? Wenn die Gefahr eines kollektiven Untergangs besteht, sollten wir ihr „nicht mit Angst begegnen“? Sind das die neuesten Erkenntnisse der therapeutischen Tiefenpsychologie? Menschen, verdrängt eure Ängste, hakt euch unter und geht angstfrei eurem Untergang entgegen? Und wenn ihr das nicht könnt, tut wenigstens so, als ob?

War die Botschaft Freuds bisher nicht: wo Es war, soll Ich werden? Wo Dunkelheit und Verdrängung herrschten, soll das Licht der Vernunft eindringen, um den Menschen den bestmöglichen Weg des guten Lebens zu zeigen?

Und jetzt soll gelten: ihr Angsthasen, überwindet eure Kindergefühle und geht in simulierter Angstfreiheit eurem Schicksal entgegen?

„Schon gar nicht in einem Modus dauernder gegenseitiger Kritik, der konstruktive Diskussionen unmöglich machen kann.“

Demokratie ist eine lernende Streitkultur. Sie glaubt daran, dass Debattieren auf dem Marktplatz die Wahrheit bringen kann. Die Wahrheit des Überlebens durch Einsicht in die Unwahrheit des bisherigen Amoklaufs der Menschheit. Anstatt zu analysieren, warum die Debattenkultur so chaotisch geworden ist, damit man in Dialogen die Gründe der Meinungsverschiedenheiten erforscht und – nach Möglichkeit überbrückt, , empfiehlt der Therapeut – im Endergebnis nicht anders als ein Diktator, der sein Volk zum Schweigen bringen will – das Einstellen der Debatten. Das wäre das Ende der Demokratie mit Hilfe einer desaströsen Seelenkunde.

War Freud wirklich ein demokratischer Aufklärer? In seinen jungen Jahren ja. Dann aber wurde er immer düsterer und menschheitsverachtender:

„In einem Austausch mit Albert Einstein legte der Arzt und Psychoanalytiker Sigmund Freud im Jahr 1932 seine Einschätzung dar, dass in allen Menschen der Impuls angelegt sei, sich durch Gewalt Macht und Einfluss zu sichern. »Interessenkonflikte unter den Menschen werden (…) prinzipiell durch die Anwendung von Gewalt entschieden«, schreibt Freud dort und führt weiter aus, dass sich dieses Prinzip nur einhegen lasse, indem die Gewalt überwunden werde »durch Übertragung der Macht an eine größere Einheit, die durch Gefühlsbindungen ihrer Mitglieder zusammengehalten wird«. Und zwar aus der Einsicht heraus, dass gerade den vielen Schwachen mit dieser Übertragung der Macht an eine größere Einheit, etwa den Staat mit seinen Institutionen, besser gedient ist als mit einem ständigen individuellen Machtkampf.

Das ist ein Rückfall in das totalitäre Denken eines Hobbes, der dem Einzelmenschen ebenfalls nichts zutraute und empfahl, die Macht des Staates einem einzigen Oberhaupt zu übertragen, der die Geschicke des Volkes lenken sollte. Später nannte man das ein totalitäres Regime. Luthers Verweis auf Römer 13 war nichts anderes, als die Geschicke der Menschheit bestimmten Obrigkeiten anzuvertrauen, die an Gottes Stelle absolute Macht ausüben.

Das war Freuds Abgesang an jegliche Form mündiger Einzelner, die sich argumentativ auseinandersetzen und sich über viele Kompromisse hinweg per Vernunft einigen können.

Ein moderner Seelentherapeut verbietet sich die kleinste Kritik an Freud und teilt dessen Misogynie. Gebt eure demokratische Macht der Mitbestimmung ab, eilt unter das beschützende Joch einer gottgewollten Obrigkeit.

Diese Lösung empfiehlt der Psychiater nicht nur Deutschland, sondern der ganze Welt. Mit anderen Worten: er empfiehlt eine Weltdiktatur. Wir vermuten und unterstellen: bestimmt nicht bewusst. Aber faktisch. Demokratische Lösungen jedenfalls sucht man vergeblich.

Um keine autoritäre Weltmachtattitüde aufkommen zu lassen, flüchtet der Schreiber in weltpolitische Ignoranz:

„Viel zu weit weg von all dem sitze ich in Sicherheit und weiß weder von der realen Situation vor Ort noch von den komplexen geopolitischen Hintergründen genug, um mir eine klare Meinung dazu erlauben zu können.“

Gewiss, wir alle wissen zu wenig von der Welt, auch von der Ukraine, obgleich sie zu Europa gehört. Warum wissen wir nichts? Könnte es mit unserem fabelhaften Bildungssystem zusammenhängen und mit unserer ökonomischen Überlegenheit, nichts über fremde Nationen und ihre Menschen wissen zu müssen? Es reicht, wenn wir die Lieferketten für Getreide von Kiew bis Berlin auswendig kennen? Touristisch kennen wir die ganze Welt, aber nur, um die günstigsten Liegeplätze am Strand zu erobern?

Kommt das ach so bescheidene – oder demütige? – Finale:

„Nicht starre Überzeugungen sind ein Zeichen von Stärke, sondern die Fähigkeit, Ambivalenzen und Widersprüche aushalten und sich in Diskussionen auch mal zu seinen Unsicherheiten bekennen zu können. Und echte Werte zeigen sich nicht darin, dass man behauptet, sie zu haben – sondern indem man nach ihnen handelt und etwa das Prinzip der allgemeinen und unverhandelbaren Menschenwürde achtet, wenn über die schwierigen Themen unserer Zeit diskutiert wird. Und die berechtigten Meinungs- und Handlungsfreiheiten anderer respektiert. Statt viel zu schnell und vehement zu versuchen, sich mit dem Recht des argumentativ Stärkeren gegen andere durchzusetzen.“

Schon mal von demokratischen Spielregeln gehört? Dass die Gewählten entscheiden – nachdem sie den Streit auf dem Marktplatz aufmerksam verfolgt und in ihre Parlamentsdebatten mit aufgenommen und zur Entscheidung gebracht haben?

Unsicher, kraftlos und mit mangelndem Selbstbewusstsein seine Meinung sagen – soll das des Rätsels Lösung sein? Wäre es nicht dringlicher, sich endlich einen klaren Standpunkt zu erarbeiten, um mit souveräner Überzeugung auch andere zu überzeugen? War Gandhi autoritär, indem er seinem Volk zum Vorbild wurde? War Sokrates ein Despot, indem er für seine Überzeugung starb?

Wir scheinen nur noch messianische Führer auf der einen Seite und apathische Schlappschwänze auf der anderen zu kennen!

Menschen, gestehen wir uns unsere Ängste, um sie nach Möglichkeit unter Kontrolle zu kriegen. Appellieren wir an jedes Individuum: Welt retten! Aber subito!

Wer sich weigert, macht sich an seinen Kindern und Kindeskindern ja, an der ganzen Menschheit schuldig. Ultimativ und unwiderruflich.

Fortsetzung folgt.