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Welt retten! Aber subito! VI

Tagesmail vom 05.09.2022

Welt retten! Aber subito! VI,

der notwendige Kampf gegen Antisemitismus verflacht immer mehr zu polizeilichen Maßnahmen gegen vermutete Judenhasser, wobei Vermutungen allein ausreichen, um das unerbittliche Urteil zu rechtfertigen. Wer sich gegen das Urteil wehrt, gilt erst recht als antisemitischer Täter – denn er zeigt keine Reue.

Strenge Verfahren zur Überprüfung der Vorwürfe gibt es ebenso wenig wie öffentliche Streitgespräche, in denen Ankläger und Verdächtige ihre Sicht der Dinge darlegen können. Die Ankläger halten sich zumeist für unfehlbar, die Angeklagten fürchten, sich durch Rechtfertigen noch mehr zu belasten.

Nach Ursachen des vermuteten Antisemitismus wird nicht mehr gefragt. Das Ganze hat nicht mal das Niveau des normalen Kampfes gegen Kriminelle: Verdacht, Indizien, Gerichtsverfahren, Verurteilung, Strafe und Knast.

Warum brüten deutsche Gefängnisse mehr kriminelle Giftschwaden aus als das normale Leben in der Gesellschaft? Weil die Inhaftierten kaum Gelegenheit zur therapeutischen Selbstprüfung erhalten.

Ihr Hass gegen ihre – zumeist unschuldig oder ungerecht empfundene – Strafe lässt die Rachebereitschaft der Bestraften eher steigen, als dass sie eine Chance zur heilsamen Selbsterkenntnis wahrnehmen könnten.

Gefängnisse dienen dem Recht, aber nicht der Gerechtigkeit, die auch für Verurteilte da sein müsste: als Chance zur gereiften Rückkehr und gleichwertigen Teilnahme an der Gesellschaft.

Gefängnisse sind die gefährlichsten Brutstätten des Bösen in der Gesellschaft – mit Ausnahme jener Übeltaten, die von den Granden selbst produziert werden. Diese allerdings haben das Kunststück fertig gebracht, ihr eigenes Unrecht – das zumeist mit Wirtschaft zusammenhängt – als ehernen Bestandteil der Gesellschaft zu verankern – und damit zu exkulpieren. Nicht umsonst werden ökonomische Gesetze als Naturgesetze abgesichert, obgleich sie Erfindungen des Menschen sind.

Gehören zu den Granden doch auch die Rechtsgelehrten, Richter und Ankläger, die das Unrecht der Gesellschaft dort zu suchen pflegen, wo sie selbst nicht sind.

Die verhängten Strafen dienen vor allem dem Sicherheits- und Rachebedürfnis der Gesellschaft, nicht der psychischen Genesung der Inhaftierten.

Die Frage: wie kommt Böses zustande, wird in einer ehrenwerten Gesellschaft wie der unsrigen nicht mehr erhoben. Das wissen die Granden dieser Gesellschaft. Für sie ist der Mensch von Natur aus böse, nur durch strenge Erziehung oder Gewalt kann er vor der Entfaltung seiner niederträchtigen Anlagen bewahrt werden.

Vielleicht. Nicht mit Sicherheit. Zweierlei Gründe für das Böse gibt es für die zwiegespaltene Gesellschaft:

Für Gläubige ist das Böse seit dem Sündenfall angeboren und vererbt sich allen folgenden Generationen bis – bis die Frevler sich durch Glauben und tätige Reue von der himmlischen Gnade retten lassen. Autonome Rettung ausgeschlossen. Den Uneinsichtigen und Reuelosen drohen höllische Strafen.

Für Atheisten gilt das Urteil des englischen Philosophen Hobbes:

„Das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz.“

Dieser Missgunst der Natur kann der Mensch nichts entgegensetzen. Weder durch Selbsterkenntnis noch durch strenge Strafen. Nur eine autoritäre oder totalitäre Obrigkeit ist fähig, das Tohuwabohu mit Gewalt einzuschränken. Von Heilung kann keine Rede sein.

Das deutsche Recht ist die übliche abendländische Mischung aus schwachem Erlösungslauben und noch schwächerem Glauben an die menschliche Vernunft. Die Mischung hört sich etwa so an: eigentlich sollte man den „Bösen“ eine Chance zur Rückkehr in die Gesellschaft geben, denn von Natur aus gibt es keine Bösen. Denn alles Böse hat externe Ursachen und wird durch Erziehung den Heranwachsenden eingebläut und ver-innerlicht.

Wenn‘s hoch kommt, erkennen psychiatrische Experten die ver-innerlichten Ursachen, sind aber nicht bereit, diese in den Umständen der Gesellschaft zu suchen. Die Schuld muss immer beim Einzelnen, die christliche Gesellschaft hingegen schuldlos bleiben.

Versteht sich, dass eine bösen-geile Gesellschaft ihr Rechtssystem vor allem dazu benutzt, die ungeliebten Schichten der Gesellschaft – die Schwachen, Armen, die Flüchtlinge, die Versager, die Überflüssigen und Störenfriede – legal aus dem Verkehr zu ziehen. Sie also anzuklagen und einzusperren. Hinter Gittern sieht man sie nicht mehr, dort können sie nicht stören.

Das Rechtssystem der BRD ist unsichtbar geworden. Der Kampf gegen Antisemitismus hat sich im Lauf der Jahre diesem System angenähert, wenngleich es leichtsinnigerweise auf strenge Rechtsverfahren verzichtet.

Für die Angeklagten und Schuldiggesprochenen birgt das erhebliche Nachteile. Es gibt keine Methoden, mit denen man seinen lädierten Ruf wieder herstellen kann. Die Schuldigen bleiben fast lebenslang gestraft.

Öffentliche Listen der vermeintlich Schuldigen – wie die Antisemitismus -Liste des Wiesenthal-Zentrums – „verewigen“ geradezu die Übeltäter in der ganzen Welt. Einmal schuldig, immer schuldig.

Auf der Antisemitismus -Liste des Zentrums stand auch mal Jakob Augstein, über den Dieter Graumann, damaliger Präsident des Zentralrats der Juden, schrieb: „… Dieter Graumann, kritisierte, dass „die anderen auf der Liste, auch die widerlichen Naziparteien in unseren europäischen Partnerländern Ungarn und Griechenland, damit unzulässig verharmlost werden“. Augstein schüre aber fahrlässig antiisraelische Ressentiments, vermittle ein undifferenziertes und verfälschtes Israelbild und schreibe ohne Empathie und ohne Verständnis für Israels Existenzängste.“ (Wikipedia.org)

Hier erkennen wir schon deutlich, dass der „klassisch-religiöse oder rassische“ Antisemitismus längst sein Image verändert hat. In Wirklichkeit geht der Streit um den Staat Israel und seine Menschenrechtsverletzungen, die nicht mehr kritisiert werden dürfen.

Wenn „antiisraelische Ressentiments geschürt werden, ein differenziertes und verfälschtes Israelbild ohne Empathie und ohne Verständnis für Israels Existenzängste“ geschildert wird – dann kann es nur noch um versteckte Kritik an Israel gehen.

Gab es vor kurzem noch eine Zeit, in der man den Anklägern das Recht auf politische Kritik zugestand, die nicht als Antisemitismus gewertet wurde, so ist diese Zeit vorüber.

Schon lange behaupteten israelkritische Juden wie Avraham Burg, der erkenntnislose Feldzug gegen Antisemiten sei nur eine indirekte Verteidigung der inhumanen Regierung in Jerusalem. Das hat sich längst bewahrheitet.

Die Deutschen sind unfähig, befreundete Regierungen wie Amerika oder Israel distanziert zu sehen und offen zu kritisieren. Das gilt für Amerika, jene Weltmacht, die sie einst von den Nationalsozialisten erlöst hat – und für Israel, jenen Staat, in dem ihre überlebenden Opfer Zuflucht fanden.

Im Falle Amerikas verstecken sie ihre Kritiklosigkeit hinter ihrer geschuldeten Dankbarkeit, im Falle Israels hinter einer „bedingungslosen Loyalität“ und der Pflicht, ihre schreckliche Vergangenheit radikal aufzuarbeiten.

Doch Dankbarkeit und Kritik schließen sich nicht aus, genauso wenig, wie Loyalität die Pflicht ausschließt, die Politik Israels nicht anders zu bewerten als bei anderen menschenrechtsfeindlichen Nationen.

Menschenrechte sind Universalrechte und gelten für alle Menschen und Völker. Auch Israel muss sich an diesem Maßstab messen lassen.

Omri Boehm hat ein lesenswertes Buch zu diesem Thema geschrieben mit dem Titel: „Radikaler Universalismus, jenseits von Identität“:
„Die liberale Demokratie steckt bereits seit Jahren in der Krise. Die einschlägigen Angriffe auf ihre geistigen und moralischen Grundlagen – Aufklärung, Universalismus, Vernunft – verfangen jenseits hochtrabender intellektueller Debatten und abgehobener Philosophie-Fachbereiche zunehmend auch in politischen Kreisen. Der universelle Humanismus gilt keiner der Seiten mehr als Grundlage, um ungerechte Gesetze und diskriminierende Machtstrukturen zu kritisieren. Für all jene, die immer noch hoffen, den Universalismus verteidigen zu können, bleibt Kant der unverzichtbare Denker.“

Was man im ganzen Streit um Antisemitismus nicht erlebt, bei Boehm kann man es ausführlich nachlesen: es geht um universelle Rechte für alle. Kein Land – und sei es noch so auserwählt – hat das Recht, diese Rechte zu verletzen. Israels langjährige Landbesetzung palästinensischer Gebiete – die kein Ende nehmen will – ist nicht weniger kritikwürdig als Putins Krimbesetzung.

Die Springerpresse hält es für ihr Markenzeichen, Übeltäter wie Putin (noch vor seinem Krieg) moralisch zu versenken, Israels „Peanuts“ aber ohne Wenn und Aber zu verteidigen.

Der Hass gegen die Palästinenser ist in BILD zur religiösen Haltung geworden. Jede Racheaktion der Besetzten wird zum Terrorakt dämonisiert, jede völkerrechtswidrige Gewalttat Israels hingegen wird verteidigt.

Zu welch unhaltbaren Ereignissen diese doktrinäre Bigotterie führt – etwa in der Schule, zeigt der folgende Bericht:

„Ein Drittklässler wurde von einem Mitschüler mit palästinensischem Background mehrfach antisemitisch angegangen. Zusammen mit der Schulleitung und den Eltern wurde vereinbart, beide zu trennen. Dennoch sahen sich die Eltern letztendlich gezwungen, das Kind von der Schule zu nehmen, denn der Schulhort war nicht bereit, diese Vereinbarung ebenfalls umzusetzen. Wenn dann die Lehrer über einen Schüler sagen, er könne nicht anders, weil er Muslim sei, wird zusätzlich Rassismus transportiert und gleichzeitig Antisemitismus externalisiert.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Das komplette Versagen der Lehrer und Schulbehörden führt dazu, dass ein Drittklässler mit palästinensischen Wurzeln zukünftig mit dem Makel herumlaufen muss, ein böser Antisemit zu sein – und ein jüdischer Klassenkamerad sich als Jude beleidigen lassen muss.

Die Autoritäten müssen gewusst haben, dass es in der Klasse einen jüdischen und einen palästinensischen Schüler gibt und daher bestimmte Gefahren drohen würden. Anstatt mit den beiden (und der ganzen Klasse) die Probleme zwischen Israel und Palästina zu besprechen, nach Möglichkeit einen Modus vivendi zu finden, um jeder Beleidigung, jedem Gewaltakt zuvorzukommen, lässt man beide Kinder allein.

Dass der palästinensische Knabe von seinen Eltern vermutlich oft genug gehört haben muss, welchen Hass ihr Volk gegen Israel hegt, der Knabe also – ehrlich, wie Kinder sein wollen – einen Beitrag zur Rache gegen die Bösen leisten wollte, indem er den jüdischen Knaben antisemitisch beleidigte, hätte für jeden empathischen Pädagogen absehbar sein müssen.

Doch nichts geschah, beide Kinder mussten in ihr Elend rennen. Der eine wird verunglimpft und musste vorsichtshalber die Schule verlassen, der andere zum frühen Übeltäter gestempelt. Ein pädagogisches Gesamtversagen der Schule auf Kosten unschuldiger Kinder.

Aggressionen gegen Besetzer der eigenen Heimat sind kein Antisemiten, sondern ein für jeden Menschen nachvollziehbarer Hass. Nicht jeder Hass gegen Juden ist Antisemitismus, für den die Juden im Dritten Reich ein furchtbares Schicksal erlitten.

Allerdings: wenn ein solch nachvollziehbarer Hass von aller Welt wie Antisemitismus verurteilt wird, kann er aus Wut zum Terrorakt ausarten. Schon Uri Avnery wies darauf hin, dass die Abwehr der Unterlegenen gegen Stärkere durchaus zum „Terror“ führen kann – der genau genommen gar keiner ist, sondern ein Gegenschlag gegen die Gewalt der Besatzer.

Solche Kleinigkeiten werden hierzulande wie Müll vom Tisch gewischt. Bei uns gilt die hartstirnige Regel: wer es wagt, sich mit Israel anzulegen unter der durchsichtigen Begründung, das Ganze habe mit Antisemitismus nichts zu tun, der ist ein besonders hinterhältiger Antisemit. Die langjährige Kampagne der israelischen Regierung, jede Kritik an ihren Verletzungen des Völkerrechts sei Antisemitismus und somit verboten: diese Kampagne hat sich auf der ganzen Linie durchgesetzt.

Deutschland und Israel: beide Staaten haben versagt im Bemühen, dem Gedenken des Holocaust gerecht zu werden. Wie es eine Niederlage für Israel ist, den Kampf um die Erinnerung an die Shoa als Instrument zu benutzen, um jede Kritik an der Unrechtspolitik gegen die Palästinenser zu eliminieren, so ist es auch eine beschämende Niederlage für die deutsche Erinnerungspolitik, sich in religiöse Stummheit und Denkfaulheit zu flüchten, anstatt selbstkritisch mit seinen Schuldgefühlen umzugehen und Israel nicht mit blinder Loyalität allein zu lassen.

Deutschland müsste heute – in Erinnerung an seine NS-Massaker – sich zu einem Neuanfang durchringen, um Israel kritische Freundschaft anzubieten. Was hieße: das Land auf seine Verfehlungen hinzuweisen, damit es einen neuen humanen Kurs einschlagen könnte.

Doch was geschieht stattdessen? Absolute Feigheit, blinde Kritiklosigkeit und unwürdige Flucht in verlogene Parolen.

Zu sehen am beschämenden Verhalten des ersten Aufklärers der Republik, an Jürgen Habermas. Kein Deutscher kennt die Stellungnahme des Gelehrten; Boehm berichtete darüber in seinem früheren Buch: „Israel – eine Utopie“ :

„In einem ausführlichen Interview, das Jürgen Habermas im Dezember 2012, als er die erste jährliche Martin-Buber-Vorlesung in Jerusalem hielt, der israelischen Tageszeitung HAARETZ gab, wurde er auch nach seiner Meinung zur israelischen Politik befragt. Er antwortete, dass zwar „die gegenwärtige Lage und die Grundsätze der israelischen Regierung eine „politische Bewertung“ erforderten, diese aber nicht „Sache eines privaten deutschen Bürgers meiner Generation“ sei.

Eine unfassliche Antwort. Gibt es eine einzige Generation in Deutschland, die von einer Bewertung der israelischen Politik entbunden wäre?

Überhaupt, gibt es in Demokratien Menschen, die sich von ihren politischen Pflichten befreien dürfen? Tatsächlich, die gibt es, die Athener nannten sie „ Idioten“. Hat Habermas, der Durchdenker der Demokratie, von dieser Pflicht keine Ahnung? Oder hat er zwar eine theoretische Ahnung, fühlt sich aber so privilegiert, dass er von dieser Pflicht befreit ist?

Boehm fährt fort:

„Ganz offensichtlich steht Habermas` Schweigen für das zahlloser anderer deutscher Intellektueller, darunter auch Angehörige jüngerer Generationen. Wenn sich der öffentliche Intellektuelle schlechthin in die Privatsphäre flüchtet, wenn sich der Begründer einer Philosophie namens Diskursethik weigert, etwas zu sagen, dann hat das theoretische und praktische Konsequenzen. Schweigen ist hier selbst ein Sprechakt, und zwar ein höchst öffentlicher. Ein Deutscher, der in Bezug auf die israelische Politik Selbstzensur übt – der also den privaten Verpflichtungen treu bleibt , die sich aus der deutschen Vergangenheit ergeben –, weigert sich, den Standpunkt der Aufklärung einzunehmen, sobald er sich mit jüdischen Angelegenheiten beschäftigt. Er weigert sich buchstäblich, selbst zu denken.“

Zu Recht attackiert Boehm die deutsche Aufarbeitung des Holocaust und die daraus resultierende Beschäftigung mit der Politik Israels als komplettes Desaster.

Der hiesige Kampf gegen Antisemitismus ist zur unerträglichen Farce verkommen. Die Beziehungen beider Staaten wurden zum skandalösen Bigotterietheater.

„Genau aus diesem Grund aber sollten wir uns der Tendenz widersetzen, Israel als einen gleichsam der Kritik enthobenen Staat zu behandeln, der nicht auf herkömmlicher, legitim zu hinterfragender und zu diskutierender Politik beruht, sondern auf einem quasi sakralisierten Holocaust-Gedenken.“

Solch glasklaren Töne sind im Land der Täter fremd. Was folgt daraus? Etwas, was in jeder Demokratie selbstverständlich sein müsste, aber in einem Land mit schweigsamen Landesmüttern und einer stummen Machtelite undenkbar ist:

„Äußert eure Kritik, sagt, was ihr denkt, kritisiert und lasst euch kritisieren. Lasst das Licht der öffentlichen Debatte dazu beitragen, ein rationales Urteil über den jüdischen Staat zu fällen. Nur eine vernünftige Perspektive auf den jüdischen Staat … kann den Antisemitismus überwinden.“ (Boehm)

Was für Israel gilt, gilt auch für das Land der Täter. Vom Verständnis unserer Vergangenheit sind wir noch weltenweit entfernt.

Fortsetzung folgt.