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Welt retten! Aber subito! LXXIV

Tagesmail vom 21.04.2023

Welt retten! Aber subito! LXXIV,

Es tut sich was in Deutschland. Noch ist das Land der Gedankenarmen und Tatenlosen nicht verloren.

Die Jugend hat den Widerstand entdeckt: den radikalen, friedfertigen und – bislang – unbeugsamen Widerstand. Und schon fallen alle über die „Spalter“ her, als wäre die Gesellschaft zuvor in vollendeter Harmonie gewesen: die Bestimmer und die Machtlosen, die Habenden und Nichtshaber, die Gelehrten und die Doofen, die Dreisten und die Schüchternen.

Bislang war die Gesellschaft ein gesunder Organismus. Alles war mit allem verbunden, ungehindert sprudelten die Lebenssäfte, niemand fühlte sich benachteiligt.

Es gab weder Reiche noch Arme, weder Mächtige noch Ohnmächtige: alles war in inniger Harmonie.

Und nun diese arroganten Spalter. Wie selbstherrlich sie mitten ins Leben greifen und einstimmig intonieren: alle Räder stehen still, solange unser Klebstoff will.

Demnächst wollen sie ganze Städte umzingeln und lahm legen. Spätestens dann müsste Schluss sein mit falschen pädagogischen Rücksichten. Wer die Lieferketten der Nation zerschneidet, der zerstört auch die völkische Einheit.

Wie mühsam hatten die Altvorderen die ruinierte Nachkriegs-Gesellschaft aufgebaut, dem Land der Täter in aller Welt wieder Respekt verschafft. Und nun käme eine verwöhnte Generation und würde im Handumdrehen den Ruf wieder ruinieren? Ausgeschlossen.

Ja, die Schamlosen sind dreist genug, sich auf den Buchstaben des Gesetzes zu berufen:

„In Artikel 20 Absatz 4 der Verfassung heißt es: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Gibt es jemanden, der unsere Grundordnung zu beseitigen sucht? Das sei ferne von uns allen. Es gibt nur solche, die zuschauen, wie die Ordnung unaufhörlich zerstört und untergraben wird durch außermenschliche Kräfte – durch das Klima.

Was können wir gegen das Klima unternehmen? Ist es nicht so, dass das Klima sich ohnehin ständig verändert?

Ein gipfelstürmender Titan, einst ein Grüner, ist voller Zorn über diejenigen, die sich anmaßen, das Klima regulieren zu wollen.

„Man kann das Klima nicht schützen. Es ist seit Millionen Jahren immer im Wandel. Es geht aufwärts und wieder abwärts.« Messner zweifelt aber an der Sinnhaftigkeit vieler Maßnahmen. Er sehe Gletscher schmelzen, veränderten Golfstrom. Messner: »Da können wir nichts daran tun.«“ (BILD.de)

Muss dieser Heros der Berge – der als Erster die jungfräulichen Gipfel deflorierte und endlosen Massen die Wege nach ganz Oben ebnete – nicht zwangsläufig ein Freund der Ex-Kanzlerin sein, die das Klimageschehen regungslos an sich abprallen ließ? Möglicherweise sogar ein Freund Mathias Döpfners, der ohnehin ein wärmeres Klima bevorzugt – weil der Fortschritt dann hitziger voranschreitet?

Nein, Klima ist ein Gottesgeschenk, daran darf nicht gerüttelt werden. Sich an der Natur vergreifen darf nur, wer den Fortschritt beschleunigen will, um sich die Erde endgültig untertan zu machen.

Der Springer-Verlag hat noch subtilere Argumente, um die Kleber an die Wand zu nageln:

Der romantische Rückfall der Rebellen „zeigt sich im Hang, die Vertreter der repräsentativen Demokratie als Heuchler darzustellen, sowie in dem Wahn, zu glauben, als einzige die wahren Zusammenhänge der Klimakatastrophe zu durchschauen und deshalb die Menschheit mit allen Mitteln vor dem Abgrund bewahren zu sollen.“ (WELT.de)

Als Newton, Galilei oder Einstein als Erste und bis dahin Einzige behaupteten, ein grundlegendes Gesetz der Natur erkannt zu haben, so galten sie – vorausgesetzt, die Welt lässt sich danach von ihnen überzeugen – als einsame Genies.

Wenn fast die gesamte Naturwissenschaft den menschengemachten Klimawandel konstatiert und Klimaschützer sich auf sie berufen, bleiben sie bei ihren medialen Gegnern immer nur die eitlen Aufschneider.

Die Verteidiger der Besitzstände hingegen brauchen nicht das geringste Argument, um diese Angeber zu entwaffnen. Diese seien im Wahn, „zu glauben, als einzige die wahren Zusammenhänge der Klimakatastrophe zu durchschauen und deshalb die Menschheit mit allen Mitteln vor dem Abgrund bewahren zu sollen.“

Gegenargumente? Keine. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Hugh, sie haben gesprochen.

Ohnehin ist ihre Lieblingssentenz: „Schluss mit …“ Schluss mit allem, was ihnen auf den Wecker fällt. Debatte – überflüssig, Dialog – was ist denn das?

Nicht nur Scholz & Co haben keine Begriffe, es sind auch die Medien, die es nicht nötig haben, den umherschwirrenden Begriffsmüll zu sortieren, um die demokratischen Gedankengerüste zu stabilisieren.

Wie kann man auch auf die Idee kommen, „die Menschheit mit allen Mitteln vor dem Abgrund bewahren zu sollen.“? Sind das nicht Erlöserattitüden?

Wären wir wirklich in einer solchen Grenzsituation angekommen – welche Sterblichen dürften sich anmaßen, die Menschheit retten zu wollen? Hier könnten nur Unsichtbare Hände helfen, bestimmt kein Getue von Menschen.

Wenn’s um Leben und Tod, Sein oder Nichtsein geht, müssen Unsterbliche ran. Sterbliche würden sich da lächerlich machen, wenn sie sich für zuständig hielten.

Solange Gott nicht persönlich eingreift, fühlen sich seine Erwählten in Sicherheit.

Aktiv ins Politgeschehen eingreifen, dürften ohnehin nur jene, die sich zur Wahl stellen. Alle anderen haben sich rauszuhalten. Nur Gewählte haben das Recht, das Geschick einer Polis mitzugestalten.

Deutsche verfügen nicht über elementare Polis-Kenntnisse. Die athenische Urdemokratie entstand als direkte Demokratie. In riesigen Volksmassen hätte nie eine Demokratie entstehen können.

In einer Volksversammlung musste sich das ganze wahlberechtige Stadtvolk an einem übersichtlichen Ort versammeln können, sodass jeder seine Meinung allen Beteiligten mitteilen konnte.

Eine direkte Demokratie war der Ursprung der heutigen indirekten Demokratie, in der nur eine kleine Schar Gewählter das Sagen haben kann.

Gleichwohl ist es abwegig, dass nur Gewählte sich in der Polis aktiv beteiligen dürften. Das Wählen von Abgeordneten ist ein Notbehelf, um eine riesige Population als verkleinertes Abbild in ein Parlament senden zu können – um dort stellvertretend für alle ins politische Geschehen einzugreifen.

Jeder Demokrat ist berufen, als normaler Bürger sich ins Geschehen einzumischen. Was bedeutet, er muss keineswegs ein Gewählter sein. Demokrat sein heißt, seine Meinung sagen und sich einmischen zu dürfen.

Wer sich nicht durch aktives Engagement beteiligt, ist hingegen ein miserabler Demokrat. Er muss sich den Vorwurf gefallen lassen, sich politisch bedienen und entmündigen zu lassen. Klimaaktivisten sind vorbildliche Demokraten, die ihren Beitrag leisten, um die Polis am Leben zu erhalten.

Ziviler Ungehorsam ist unvermeidlich, wenn Gehorsam blind in den Abgrund fährt. Mag sein, dass ein untergeordnetes Gesetz verletzt werden muss, um die ganze Polis zu bewahren.

„Der stellvertretende FDP-Chef Wolfgang Kubicki hat heute mal wieder seine besonders raue Stimme erhoben – und Klimaaktivisten dazu aufgefordert, Störaktionen im Rahmen des Bundesparteitags der Liberalen bleiben zu lassen. »Wer sich festklebt, um andere bei ihrer demokratischen Willensbildung zu behindern, versündigt sich an unserer Demokratie, sagte Kubicki. Er forderte harte Strafen für die Aktivisten. »Auch andere Gruppen könnten sich anmaßen, das, was sie für richtig halten, selbst durchzusetzen.«“ (SPIEGEL.de)

Schrecklicher geht’s nimmer, selbst, wenn wir das Sündigen den Sündern überlassen. In einer Demokratie geht’s nicht um Verletzung göttlicher Gesetze, sondern um den Streit der Demokraten über die besten Gesetze. Und das sind nicht die Gesetze Gottes, sondern der Vernunft.

Gesetze können sich nicht selbst beurteilen, sie sind auch nicht die höchste Instanz, um sich zu beurteilen. In Theokratien ist die höchste Instanz ein Gott, in Demokratien die Vernunft des Menschen.

Da gibt es ein merkwürdiges Wort, das fast identisch klingt – und dennoch Widersprüchliches bedeutet.

In seiner Verteidigungsrede rechtfertigt Sokrates sein – für das Volk nicht akzeptables – Verhalten mit den Worten:

„Meine Mitbürger, eure Güte und Freundlichkeit weiß ich sehr zu schätzen, gehorchen aber werde ich mehr dem Gotte als euch, und solange ich noch Atem und Kraft habe, werde ich nicht aufhören, der Wahrheit nachzuforschen und euch zu mahnen und aufzuklären und jedem von euch, mit dem der Zufall mich zusammenführt, in meiner gewohnten Weise ins Gewissen zu reden: Wie, mein Bester, du, ein Athener, Bürger der größten und durch Geistesbildung und Macht hervorragendsten Stadt, schämst dich nicht, für möglichste Füllung deines Geldbeutels zu sorgen und auf Ruhm und Ehre zu sinnen, aber um Einsicht, Wahrheit und möglichste Besserung deiner Seele kümmerst du dich nicht und machst dir darüber keine Sorge? So nämlich befielt es der Gott, dessen könnt ihr gewiss sein:“
(Apologie 29 B)

Nun der zweite, ähnlich klingende Satz:

„Und die Apostel sprachen: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.“

Der erste Satz ist wesentlich älter und war den Begründern des Urchristentums bekannt. Die beiden Sätze klingen ähnlich und meinen doch Grundverschiedenes. Der Gott des Sokrates ist die menschliche Vernunft, der Gott der Christen ihr Schöpfer Himmels und der Erden.

Menschliche Vernunft muss ununterbrochen um Wahrheit ringen, göttliche Wahrheit ist zeitlos unfehlbar.

Die Erfindung der Demokratie war die logische Schlussfolgerung einer durch Dialog zu erkämpfenden Wahrheit. Nur wenn viele Menschen sich zusammentun, um die wichtigste Aufgabe miteinander durchzuführen: die humanste Wahrheit für die Menschen zu suchen, kann sich Demokratie als beste aller Staatsformen bewähren.

Alle anderen Staatsformen, in denen die Wenigen, Reichen oder Vornehmen das Sagen haben, verfehlen die Suche nach der größten Wahrheit: keine menschliche Vernunft ist perfekt, doch die dialogische Auseinandersetzung ist die beste Art der Vernunft, ihren Fehlern und Unvollkommenheiten auf die Schliche zu kommen.

Nun schauen wir uns an, mit welchen Worten eine Richterin einen „störrischen“ Klimakleber hart verurteilte:

„Mit der Aktion hätten die Aktivisten ihren Unmut über das vorhergegangene Urteil medial wirksam zum Ausdruck bringen wollen, sagte die Staatsanwältin. »Eine schnellere Rückfallgeschwindigkeit kann es nicht geben.« Die Angeklagten seien »völlig unbelehrbar«. Darauf ging auch die Richterin in ihrer Urteilsbegründung ein. »Sie haben das erste Urteil nicht zum Anlass genommen, ihr Verhalten zu hinterfragen«, sagte sie. Weil drei der vier Angeklagten in der Verhandlung betont hätten, weiter Straßen blockieren zu wollen, habe sie die Freiheitsstrafen verhängen müssen. »Sie haben zum Ausdruck gebracht, dass Sie nichts anderes beeindruckt«, sagte sie in Richtung der Angeklagten. Die Aktivisten sahen das anders und betonten im Prozess, sie hätten mit der Protestaktion auf die aus ihrer Sicht mangelhaften Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels aufmerksam machen wollen. »Ich möchte später zu den Menschen gehören, die sagen können: Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um den Klimawandel aufzuhalten«, sagte einer der Angeklagten. Ein anderer betonte, er sehe zurzeit keine anderen wirksamen Protestformen als die Straßenblockaden. Man sei absolut friedlich, zerstöre nichts und drohe niemandem Gewalt an, sagte die Angeklagte.“ (SPIEGEL.de)

Ging es in dem Verfahren um einen öffentlichen Disput über die Frage: Stimmt es, dass die Menschheit in größter Gefahr ist? Nein. Die Juristen haben nicht im Geringsten verstanden, dass die Aktivisten ein untergeordnetes Gesetz missachten, um ein umfassendes Seinsproblem zu lösen.

Wäre es nicht die Pflicht jedes Menschen, die überlebensgefährdenden Tätigkeiten einer Menschheit mit allen Mitteln zu blockieren, um ihre Überlebenschance in letzter Minute zu ermöglichen?

Wurde die Berliner Regierung von Karlsruhe nicht dazu verurteilt, alles zu tun, um die Überlebenschancen der Gesellschaft zu garantieren? Wäre es nicht die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Verkehrsrichterin gewesen, die Kleber in aller Ehre zu entlassen, um die wirklich Schuldigen mit den schärfsten Worten zu attackieren?

Hätte das Gericht dem Herrn Kubicki nicht zurufen müssen:

„Wer sich nicht festklebt, um andere bei ihrer menschenfeindlichen Willensbildung zu behindern, versündigt sich der nicht an unserer Demokratie“?

Ein demokratischer Paragraph ist kein unfehlbares religiöses Gebot. Wer dieses verletzt, ist des Todes, wer jenes verletzt, um einen besseren Paragraphen zu suchen, ist ein scharfsinniger Demokrat.

Gerade in Demokratien gilt der Grundsatz: kein einzelnes Gesetz ist unfehlbar. Jedes kann angezweifelt werden. Oberste Prüfinstanz aber muss die Vernunft bleiben, die jeder Mensch in sich hat und auf der Agora um Wahrheit ringen muss.

Etwas Höheres als Vernunft und Demokratie mit freien und gleichen Menschen kennen wir nicht. Aber auch diese Instanzen sind nicht perfekt. Es ist die edelste Pflicht des Menschen, auch das Höchste und Beste ständig zu verbessern und zu humanisieren.

„Ich werde Gott mehr gehorchen als euch“, hatte Sokrates in seiner Verteidigungsrede dem Volk entgegengeschleudert. Die Urchristen kannten diesen Satz und übertrugen ihn auf ihren Erlöser, um ihn über Sokrates zu stellen.

Auch die athenische Demokratie war nicht perfekt, sonst hätte sie den Weisesten der Weisen nicht zum Tode verurteilt. Was keineswegs bedeutet, dass Sokrates ein Feind der Demokratie gewesen sein muss.

Ganz im Gegenteil, gerade weil er ein leidenschaftlicher Demokrat war, starb er als Märtyrer der Wahrheit, um zukünftigen Demokratien ein Vorbild zu sein. Manchmal muss man persönliche Opfer auf sich nehmen, um der Vernunft und der Demokratie die höchste Reverenz zu erweisen.

Es gibt nicht nur christliche Märtyrer. Die FFF, die Klimakleber und andere radikale Ermahner zur Umkehr in Klimafragen sind die bislang authentischsten Vorbilder in demokratischer Humanität.

Anstatt sie schändlich an den Pranger zu stellen, sollte man sie mit den höchsten Verdienstorden der Republik auszeichnen. Vermutlich werden sie diese dubiose Auszeichnung ablehnen. Denn sie werden sich fragen: wer ist es, der uns hier auszeichnen will?

Ist er dieser Auszeichnung selbst würdig?

Fortsetzung folgt.