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Welt retten! Aber subito! LXXV

Tagesmail vom 24.04.2023

Welt retten! Aber subito! LXXV,

Menschheit, halte noch sieben Jahre durch. Dann hast du es geschafft: du wirst unsterblich.

„Die Ideen des Zukunftsforschers zur Unsterblichkeit besagen, dass sie Ende dieses Jahrzehnts, wenn nicht schon früher Realität sein wird. Nach seiner Ansicht werden unsere technologischen und medizinischen Fortschritte bis dahin so weit sein, dass Roboter – er nennt sie „Nanobots“ (Nanoroboter) – unseren Körper auf Zellebene beeinflussen. Ihm zufolge reparieren die winzigen Roboter beschädigte Zellen und Gewebe, die sich mit dem Alter verschlechtern, und machen uns immun gegen Krankheiten wie Krebs. Aus diesem Grund hält Kurzweil es für möglich, die menschliche Lebenserwartung ab 2030 „jedes Jahr um mehr als ein Jahr“ zu verlängern. Und voilà: Unsterblichkeit.“ (Computerbild.de)

Sieben, eine heilige Zahl. Das muss doch zu machen sein. Wer unsterblich ist, der ist wie Gott. Sind alle Menschen Götter, kann uns die Klimakatastrophe gestohlen bleiben.

Ray Kurzweil, du stellst alle Genies in den Schatten, dein singuläres Licht scheint heller als die Sonne. Noch sieben Jahre – und alles menschliche Elend wird vorbei sein.

Warum gucken wir immer so mürrisch und deprimiert? Verträgt sich das mit dem Glauben an einen unendlichen Fortschritt?

„Wir »leben in der Spätphase einer kapitalistischen Hölle, während gleichzeitig eine tödliche Pandemie weiterhin tobt, die Vermögensungleichheit ein Rekordniveau erreicht, es null Kündigungsschutz und soziale Sicherheit gibt und der Klimawandel die Welt zum Kochen bringt.« Wenn man so pessismistisch auf die Welt blickt, ist Niedergeschlagenheit wahrscheinlich der angemessenste Gemütszustand. Gute Laune ist ein frivoles Gefühl, wenn die Apokalypse an die Tür klopft.“ (SPIEGEL.de)

Deutschland hat sich der Hoffnungslosigkeit verschrieben, während die Amerikaner gar nicht daran denken, sich ihren Glauben an die Zukunft vermiesen zu lassen.

Was ist das Geheimnis ihrer nationalen Zukunftszuversicht? Ihr Glauben an die Prophetien der Vergangenheit: sie glauben, dass der Herr kommen wird, zu richten alle Guten und alle Bösen.

Ray Kurzweil ist Trans- und Posthumanist.

„Posthumanismus ist eine Philosophie, die darauf ausgerichtet ist, traditionelle Konzeptionen des Menschseins zu überwinden. Das Konzept des „Posthumanen“ – eine Überwindung des gegenwärtigen menschlichen Stadiums – ist dabei eng verknüpft mit der Denkrichtung des Transhumanismus. Transhumanismus ist eine philosophische Denkrichtung, die die Grenzen menschlicher Möglichkeiten, sei es intellektuell, physisch oder psychisch, durch den Einsatz technologischer Verfahren erweitern will. Die Interessen und Werte der Menschheit werden als „Verpflichtung zum Fortschritt“ angesehen.“

Ende des Humanismus – müssen wir das wörtlich nehmen? Wäre das nicht das Ende der Menschlichkeit und der Menschheit?

Typisch deutsche Frage. Die Begriffe bedeuten den Beginn einer Menschheit, die über sich hinauswachsen wird. Kurzweil ist ein kybernetischer Nietzsche.

„Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss.“

Kurzweil hat keine Probleme, die schärfsten Widersprüche in einen Algorithmus zu bringen. Hier den unitarischen Glauben und den antichristlichen Nietzsche:

„Obwohl Kurzweils Eltern jüdisch waren, erzogen sie ihn unitarisch. Am Ende des Dokumentarfilms Transcendent Man beantwortet er seine rhetorische gestellte Frage „Does God exist?“ („Existiert Gott?“) mit „I would say, ‚Not yet'“ („Ich würde sagen, ‚Noch nicht’“) als eine Anspielung auf seine Vorhersagen für die Technologien der Zukunft, die dem Menschen dabei helfen sollen, über seine biologischen Grenzen hinauszugehen und so aus der heutigen Perspektive selbst wie eine Art Gottheit zu wirken.“ (Wiki)

Noch sieben Jahre herrscht der Glaube an den Gott im Werden, an die Überwindung des homo debilis, des degenerierten Alteuropäers.

In sieben Jahren schon wird der werdende Gott sich in den unvergänglichen und immerseienden verwandeln. Betet, dass ihr sagen könnt: und wir sind dabei gewesen. Wir waren keine passiven Zeugen eines unerhörten Geschehens, wir haben uns selbst verwandelt.

Schon seit ihrer Ankunft in Amerika fühlten sich die rechtgläubigen Immigranten als Wiedergeborene des auserwählten Volkes mit der Verheißung:

„Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen … ich mache dich sehr fruchtbar und lasse Völker aus dir entstehen; Könige werden von dir abstammen.“

Popper wurde widerlegt, die Weltgeschichte hat einen Sinn. Nein, nicht den jämmerlichen Sinn, den die Menschen ihr verpassen wollen, sondern einen Sinn von Oben.

Weltgeschichte ist Heilsgeschichte. Das Heil wird nicht von Menschen gemacht, sondern vom Herrscher aller Zeiten.

Demnächst wird die Welt Zeuge eines unfasslichen Geschehens werden: die Heilsgeschichte mündet ins prophetische Ziel und niemand mehr kann sagen: glaub ich nicht. Was ich nicht sehe, kann nur Humbug sein.

Wer einer glänzenden Zukunft entgegengeht, wie könnte der in Trübsinn versinken?

Noch eine kleine Weile muss Amerika ausharren. Doch in sieben Jahren werden alle Geduldigen mit dem belohnt, woran sie glaubten: mit der Ankunft des himmlischen Reiches auf Erden für die Erwählten und der Ankunft des höllischen Reiches für die Verdammten.

Das betrifft nicht nur die Biblizisten in Amerika, sondern auch die Ultraorthodoxen im Heiligen Land. Hier kennt man keine Angst vor dem Ende, hier herrscht ausgelassene Freude und Zuversicht: in Kürze werden wir als unsterbliche Könige die Welt regieren.

Eben deshalb ist der Widerstand der amerikanischen Superreichen gegen das Getöse der Weltenretter unüberwindlich. Die Traditionen der Heilsgeschichte sind schon derart ins Unbewusste eingedrungen, dass kein Gezeter sie mindern kann.

Kein großes Geld in Amerika ohne großen Glauben:

„Die Republikaner sehen die Lage ganz anders. Kaum war der Klima-Bericht veröffentlicht, spottete Mitch McConnell, republikanischer Minderheitsführer im Senat, über scheinheilige liberale Eliten, die den Kampf gegen den Klimawandel propagierten, aber selber einen gleichbleibend großen ökologischen Fußabdruck hinterließen. „Selbst wenn wir strengere Regeln erließen, hätte das keinen Einfluss, solange andere Staaten nicht das gleiche tun“, sagte er. Die Lobby der Öl-, Chemie- und Autoindustrie in den USA ist gut organisiert, sie wird unterstützt von Thinktanks wie die Heritage Foundation und dem Mercatus Center und von Milliardären wie Charles und David Koch, die gegen die „Klimalüge“ kämpfen. Viele der Großspender bleiben inzwischen allerdings lieber anonym, wie Robert Brulle von der Drexel University im Guardian enthüllte. Denn hinter der Klimaskepsis steckt nicht nur Big Oil, sie hat auch ideologische Gründe. Tea-Party-Anhänger und bibeltreue, konservative Christen, betrachten alles, was aus den liberalen Sündenpfuhlen New York und Kalifornien kommt mit Argwohn. Die Debatte um den Klimawandel ist für sie Teil des semireligiösen Kulturkampfes, der ihnen bereits die Schwulenehe, Führerscheine für illegale Immigranten und einen schwarzen Präsidenten beschert hat.“ (ZEIT.de)

Für solche religiösen Schwingungen des tiefgläubigen Neuen Kontinents haben deutsche Journalisten keine Antennen. Für Heilsgeschichten, die im Tausendjährigen Reich enden, sind sie taub geworden. Waren ihre Väter doch die Ersten, die solche uralten Prophetien beim Wort genommen und den Himmel auf Erden geholt hatten. In dualistischen Religionen ist der Himmel ohne Hölle nicht zu kriegen.

Der Weltuntergangsglaube ist keine Erfindung des Biblizismus. Schon im frühen Hinduismus kannte man die Vorstellung vom Weltende als Weltgerichtstag. Da musste selbst die Göttin Kali zur Zerstörerin werden:

„Der Grund für diese Verwandlung lag im sittlichen Verfall der Menschen. Sie werden gewalttätig und sündig, weil sie im weiblichen Prinzip nicht mehr die Göttin erkennen.

In den letzten Tagen wird die Gesellschaft in einen Zustand geraten, „wo Reichtum Rang verleiht, Besitz die einzige Quelle der Tugend wird, Betrug die Grundlage des Erfolgs im Leben, äußerliche Verwirrungen mit innerlichem Glauben zusammengeworfen werden.“ (Walker, Das geheime Wissen der Frauen)

Es wird „Bäume ohne Früchte und Meere ohne Fische geben. Die Gesetzgeber werden ungerechte Gesetze erlassen und falsche Urteile sprechen. Menschen werden Diebe sein, in der ganzen Welt wird es keine Werte mehr geben.“ (ebenda)

Unschwer zu erkennen, dass es bereits in Urzeiten Umweltzerstörungen gegeben haben muss – und die Menschheit konnte sich nicht anders helfen, als das Universum einstürzen zu lassen. Danach ein Neubeginn – aus Nichts.

Wie oft muss die Menschheit ihre Vergehen gegen die Natur wiederholen, bis sie kapiert, dass sie selbst an diesem Unglück schuldig ist. Doch zurückschauen darf bekanntlich niemand, weshalb der Mensch aus seinen Untaten nie klug werden kann.

Das christliche Credo an eine Schöpfung aus Nichts gab es nicht gleich am Anfang, es entwickelte sich erst in späteren Zeiten als propagandistische Überlegenheitsformel über heidnische Naturphilosophie.

„Die philosophische Gegenposition zur theologischen Annahme einer Schöpfung aus dem Nichts wird oft auf Melissos zurückgeführt. Auch kann ja die Kraft der Überzeugung niemals einräumen, es könne aus Nichtseiendem irgend etwas anderes als eben Nichtseiendes hervorgehen. Aus diesen Ideen entstand später die Formel Ex nihilo nihil fit („aus nichts entsteht nichts“).“

Aus Nichts Alles machen, solch ein Dogma war für logisch denkende Heiden ein Wunder. Erst durch Ablehnung dieses Wunderglaubens konnten in Altgriechenland die logischen Grundlagen der heutigen Naturwissenschaft gelegt werden – die erst bei Beginn der Neuzeit quantifizier- und berechenbar wurden.

Ein riesiges Durcheinander gab es in der Frage: wann wird das Ende kommen? Jesus selbst behauptete, das Jüngste Gericht werde noch zu seinen Lebzeiten kommen.

„Wahrhaftig, das sage ich euch: Von denen, die hier stehen, werden einige den Tod nicht erleiden, bis sie das Reich Gottes gesehen haben.“

Demgemäß erwarteten die ersten Christen das Ende der Welt schon so bald, dass sie keinen Sinn mehr darin sahen, zu heiraten und Kinder zu bekommen, die nicht mehr hätten heranwachsen können. Eine Mutterschaft würde den Frauen in den Erschütterungen der Letzten Tage nur Leid bringen.

„Weh den Frauen, die in jenen Tagen schwanger sind oder ein Kind stillen. Denn eine große Not wird über das Land hereinbrechen.“

Könnten die Ähnlichkeiten mit der Gegenwart noch frappanter sein? Wer wird am meisten bestraft für die Untaten der mächtigen Männer? Frauen und Kinder. Hat sich was geändert?

Und so ging es weiter mit Erwartungsterminen, quer durch die abendländische Heilsgeschichte hindurch. Auch in der Neuzeit gab es immer mal wieder eine gläubige Gemeinde, die auf den nächsten Berg pilgerte, um den wiederkehrenden Messias schon von weitem zu erblicken.

Dennoch waren 2000 Jahre abendländischer Heilsgeschichte nichts als eine Geschichte der Enttäuschungen. Theologen sprechen vom „Verzug der Parusie“.

Das dürfte der Hauptgrund sein, warum christliche Nationen kein rationales Ziel der Weltpolitik ansteuern dürfen. Lieber stürzt man sich in den Taumel eines Immerweiterso als eine Sekunde anzuhalten, um über das Erreichte oder Unerreichte nachzudenken.

Immer weiter so, keinen Augenblick der Ruhe: es gibt keine Politiker von Rang, die wüssten, wohin sie ihre Ozeandampfer steuern sollten. Gewichtig sitzen sie am Steuer ihrer Vehikel, deren Kurs längst vollautomatisch eingestellt ist. Theatralisch blasen sie die Backen auf, um zu tun als ob sie steuern würden.

„Der Mensch hat kein Ziel. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss. Nein, das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren.“ (Nietzsche)

Eins ist todsicher: die Menschheit wird nicht überleben, solange sie unfähig bleibt, sich auf ein gemeinsames Ziel zu einigen. Solche Unklarheiten haben einen einzigen Zweck, zu verhindern, dass der Kurs der Politik überprüfbar wird.

Hat es je Weltkonferenzen gegeben mit der Erörterung der Frage: was will die Menschheit? Was wollen wir? Haben wir uns einen gemeinsamen Willen verboten? Sind wir gezwungen, in individuellem Wahn ins Nichts zu steuern?

Wie irrsinnig das Ganze bereits geworden ist, zeigt die Praxis der Raketenbauer. Eine voluminöse Rakete steht startbereit auf der Rampe – und muss nach dem Start sofort gesprengt werden.

Enttäuschung in der wissenschaftsgläubigen Gemeinde? Im Gegenteil: frenetisches Klatschen auf den Zuschauerrängen. Sah man doch, dass die Menschheit zur Fertigung der Rakete fähig war. Der Probelauf genügt. Wollen tatsächlich 200 Menschen ein ganzes Jahr lang durch das Weltall düsen, um auf dem Mars eine zweite Creatio ex nihilo zu beginnen?

Das ist der Rhythmus der Zeit: atemloses Rennen in die Zukunft, plötzliches Zerschlagen des eigenen Tuns, um das jämmerliche Ende des Projekts nicht zu erleben.

Das Gesetz großspurigen Planens in die Zukunft, verkoppelt mit nervöser Zerschlagung des Vorhabens ist zum Rhythmus der Gegenwart geworden.

Die Regierung plant und plant – doch ein kurzer Blick in die Realität zeigt das Maß jahrzehntelanger Selbstzerstörung. Wie müssen wir dieses präapokalyptische Theater nennen? Suizidalen Fortschrittswahn?

Das Individuum hatte bislang kein Recht auf ein selbstbestimmtes Ende seines Lebens. Die ganze Gesellschaft hingegen wird beherrscht von Selbstzerstörungsorgien. Warum sind Nachrichten über Selbstmorde verboten? Weil man den Virus kollektiver Nachahmung befürchtet.

Fortschritt ist krankhafte Flucht vor dem Leben. Man kann nicht leben, wenn man Angst hat vor dem Sterben. Die irrsinnige Beschleunigung der Zeit folgt dem göttlichen Gebot: kaufet die Zeit aus, denn die Tage sind böse.

Böse Tage sind Bestandteile einer bösen Unheilsgeschichte.

Ruhe, Nachdenken, Selbstbesinnung, stilles Schauen, fröhliches Feiern: wären das nicht die heimischen Gefühle des Menschen in seiner irdischen Zeit?

Ach, wie nichtig, ach wie flüchtig
Ist all‘ unser Leben!
Ach, wie nichtig, ach wie flüchtig
Ist all‘ unser Prangen.
Der im Purpur hoch vermessen
Einem Gotte gleich gesessen,
Seiner wird im Tod vergessen.
Es kann Glut und Flut entstehen,
Dadurch, eh wir’s uns versehen,
Alles mag in Staub verwehen. (Michael Frank, 1652)

Genug des Heulens und Jammerns. Eilen wir in die Welt und lassen alle Trübsal fahren. Und siehe, das Unfassbare wird geschehen: das Klima heitert auf.

Fortsetzung folgt.