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Welt retten! Aber subito! LXX

Tagesmail vom 03.04.2023

Welt retten! Aber subito! LXX,

die Welt muss ärmer werden. Synchron. Die reichen Länder mehr als die armen: Überfluss und Luxus sind Totengräber der Natur.

Länder im Elend hingegen müssen wohlständiger werden, um mit gleichen Chancen an der Zukunft der Menschheit teilzuhaben.

Kein Land ist in der Lage, die Klimakatastrophe im Alleingang zu überwinden. Nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen: – die Natur ist eine Einheit, in der alle Teile mit allen zusammenhängen – sondern aus Gleichheits- und Gerechtigkeitsgründen; Gründe, die heute nicht mehr gelten, weshalb die Überlebenschancen der Menschheit in rasendem Tempo schwinden.

Es ist die Natur, die das Maß der globalen Genügsamkeit bestimmt. Inwieweit ist sie noch in der Lage, Milliarden Menschen zu ernähren und sorgenfrei am Leben zu erhalten?

Die Menschheit muss in gleichmäßiger Geschwindigkeit abrüsten. Nicht nur militärisch, sondern in selbstmörderischer Technik und alles vernichtendem Fortschritt.

Fortschritt, der das Leben des Menschen immer mehr behindert, ist keiner, sondern sein Gegenteil. Dies gilt selbst dann, wenn der Fortschritt der Menschheit gelegentliche Vorteile bringt.

Solange die Summe der Vorteile die Summe der Nachteile überragt, solange sind Technik und Wirtschaftswachstum eine Bedrohung der Menschheit.

Propagandareden der Fortschrittsfreunde beriefen sich bislang noch immer auf einen noch nicht bewiesenen Glauben. Den Glauben, dass Zukunft die Überlegenheit des Neuen über das Alte zweifelsfrei beweisen wird.

Dieser Glaube funktionierte solange als Gewissheit, solange a) die geduldige Natur die Nachteile des Fortschritts ausglich, b) die reiche Welt die Nachteile auf dem Rücken der armen Länder austragen konnte.

Die armen Länder waren nicht nur Opfer kolonialer Unterdrückung, sondern eines einseitig den Machthabern nützenden Fortschritts.

Wohlstandsmehrung und Machtzuwachs standen unter der frommen Parole: Wer hat, dem wird gegeben, wer nichts hat, dem wird noch genommen, was er hat.

Fortschritt ist weder ein Naturereignis, noch eine historischen Notwendigkeit. Er ist von Menschen erfunden, von Menschen gewollt und muss von Menschen verantwortet werden.

Nur Menschen sind in der Lage, ihn zu fördern, zu bremsen und ihn auf jenes Maß zu reduzieren, welches das Überleben des Menschen garantieren könnte.

Die Menschheit muss sich einigen, welches Maß an Fortschritt sie noch nützlich und verträglich findet und welches als suizidale Selbstgefährdung.

Sie muss ihre Geschichte in die eigenen Hände nehmen und Schluss machen mit jahrtausendealten Bücklingen unter sogenannte Geschichts- oder Naturgesetze.

„Fortschritt zu verbieten, hat immer etwas Hilfloses. Doch als eine italienische Behörde am Freitag den Zugang zu einer künstlichen Intelligenz verbot, warf sie weitgehendere Fragen auf zum Umgang mit einer Technologie, die bald in ihrer ganzen Wucht über uns hineinbrechen wird. Es geht um ChatGPT, einen Chatbot, der wohl jeden beeindruckt oder ängstigt, der schon mit ihm zu tun hatte. Wie kann und soll die Menschheit damit umgehen, dass gerade eine Technologie das Licht der Welt erblickt, die unser aller Leben schon bald massiv verändern dürfte – und zwar in einer Weise, die wir selbst noch nicht verstehen? Die Auswirkungen auf unsere Gesellschaften könnten gewaltig sein, Arbeitsplätze schon in wenigen Jahren von künstlichen Intelligenzen überflüssig gemacht werden. Die meisten Menschen trifft das unvorbereitet. »Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden«, heißt es in Friedrich Dürrenmatts »Die Physiker«. Der Satz bezieht sich dort auf die Atombombe, aber sie gilt genauso für KI. Hilft es überhaupt etwas, sie zu verbieten, irgendwo einen Forschungsstopp zu verhängen oder in einem Land der Welt strenge Regularien einzuführen, wenn die Entwicklung unausweichlich ist? Erstaunlich ist jedenfalls, wie wenig in Gesellschaft und Politik bisher über die Algorithmen debattiert wird, die schon bald unsere Welt massiv verändern werden.“ (SPIEGEL.de)

Wann wurde Fortschritt je verboten? Kritiker des Fortschritts gelten hierzulande als gehirnamputiert – obgleich es eine autonome Leistung wäre, sich keinem fremdgesteuerten Schicksal zu beugen.

Woraus wir folgern, dass die fortschrittsgläubige Moderne in einer wichtigen Disziplin hinter die Aufklärung zurückgefallen ist. Sie glaubt an eine Macht, der man nicht widerstehen kann, nicht widerstehen darf.

Diese Macht war der persönliche Gott der Christen, die materiellen Verhältnisse von Marx, das anonyme Sein der Existentialisten, die magische Zukunft der Amerikaner – oder wie die historischen Determinismen sonst noch genannt wurden.

Die Nachkriegszeit machte einen mächtigen Ruck in Richtung auf eine humane Weltpolitik unter dem Schirm Amerikas und der UNO – zu einer selbstgesteuerten Politik aber brachte es die Menschheit nicht. Überall regierten anonyme Mächte, gegen die aufzulehnen vergeblich war.

Der neue Gott, dem sie sich alle unterwarfen, war der Glaube an einen endlosen Fortschritt, der eine unvergleichlich brillante und mächtige Zukunft bringen würde.

Besonders in Amerika galt man nur als Nachwuchstalent, wenn man mit schmachtenden Augen formulieren konnte: ich habe einen Traum. Nur selten war das ein politischer Traum, denn alles Kollektive war die Ursünde des feindlichen Sozialismus. Es waren Träume von Ich-Genies, die die Welt mit Maschinen beherrschen wollten. So entstand Silicon Valley.

Im Westen herrschte das grenzenlos freie Individuum, das sich in sozialer Solidarität niemandem unterwerfen wollte. Egoismus und Altruismus, die alten Begriffe für Eigensucht und Selbstaufgabe, waren verschwunden.

Wie schon Adam Smith den Egoismus des Einzelnen nicht als Eigensucht definieren wollte, so definierte der moderne Kapitalismus die skrupellose und unerbittliche Ausbeutung als das Beste für die Gesellschaft.

Dieser altruistische Egoismus wurde zum innersten Motor einer erfolgreichen nationalen Wirtschaft ernannt, nicht aber der globalen Wirtschaft, in welcher der Wettbewerb alle Konkurrenten beschädigen musste.

In der Technik wurde jede geniale Erfindung zum Motor einer unendlich wachsenden Naturüberwältigung. Die Naturwissenschaft verstand sich exzellent auf die Kunst, ihre Erfindungen und Entdeckungen als Sensationen engelgleicher Übermenschen zu präsentieren.

Wer reich wurde oder wem eine Erfindung gelang: beide galten als Erwählte des Herrn. Das hat sich bis heute verselbständigt. Wer, in einem Schwarzen Loch im hintersten Universum, die geringste Unregelmäßigkeit entdeckt, der kommt ohne Nobelpreis nicht davon.

Nicht nur der Kapitalismus, die ganze Moderne brachte das Kunststück fertig, die traditionelle Moral auf den Kopf zu stellen – und dennoch den Eindruck zu erwecken, als habe sich moralisch nichts verändert.

Die Moderne würde nur bewahrheiten, was die Alten „prophezeit“ hätten: Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.

„Recht so, du guter und treuer Knecht, du bist über weniges treu gewesen, ich will dich über vieles setzen; geh ein zum Freudenfest deines Herrn.“

„Der Herr wird dir sein reiches Schatzhaus, den Himmel, auftun … so wirst du vielen Völkern leihen können, selbst aber nicht entlehnen müssen. Dein Herr, der Gott, wird dich erhöhen über alle Völker der Erde.“

Das klingt noch Ich-bezogen und Du-feindlich. Wer dem Herrn dient, wird belohnt. Im Hier und Jetzt oder im Drüben. Die Bergpredigt hingegen gilt als ethische Wunderleistung, die von niemandem übertroffen werden könnte.

„Denn wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, was habt ihr für einen Lohn?“

Klingt wie perfekter Altruismus, wenn nicht …, wenn nicht der Lohn eine herausragende Rolle spielen würde. Wer uneigennützig zu agieren scheint, tut es noch lange nicht – denn er spekuliert auf himmlischen Lohn.

Gewiss, vom Hilfsbedürftigen selbst erwartet der Gebende nichts. Von außen sieht das Almosengeben altruistisch aus. Sieht man aber genauer hin, erkennt man unschwer: der „Uneigennützige“ rechnet sehr wohl mit Lohn. Nicht unbedingt mit irdischem, bestimmt aber mit Gottes Lohn. Eines Tages wird der Gebende im Himmel belohnt werden – wenn er auf Erden nicht schon als großer Mensch gerühmt wird.

Der Fromme ist nicht uneigennützig. Seine Geschäfte freilich münden nicht im Endlichen, sondern haben ihr Ziel im Jenseits. Wenn der Erlöser behauptet: mein Reich ist nicht von dieser Welt, will er sagen: der Sinn eurer Tätigkeiten zeigt sich nicht im Irdischen, sondern nur im Überirdischen. Ihr seid Bürger zweier Reiche. Was ihr auf Erden tut, offenbart sich mit Sicherheit erst nach dem Tod – vielleicht schon ansatzweise auf Erden.

Die Ausdehnung des menschlichen Tuns über die Erde hinaus gilt auch für das Bedürfnis der Rache. Bei den Heiden gilt: „Auge um Auge … Ich aber sage euch, wer euch auf den rechten Backen schlägt, dem biete auch den andern an …“

Im deutschen Streit um Pazifismus schwirrten all diese „Uneigennützlichkeiten“ im Raume umher. Wenn die Russen kommen: lasst deutsche Panzer auffahren, um ihnen eine Lektion zu erteilen. Nein, öffnet ihnen die Grenzen und heißt sie willkommen. Klingt das nicht geradezu übermenschlich?

Bleibt allerdings die Frage: ist dieser Pazifismus wirklich das Gegenteil eines rachebedürftigem Egoismus?

„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Haltet euch nicht selbst für klug. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.«

Das muss Nächstenliebe sein, seinem Nächsten glühende Kohlen aufs Haupt zu verpassen.

Auch hier endet die Tat nicht im Irdischen, sondern kommt erst im Jenseits ans Ziel. Warum sollst du dich nicht rächen? Weil Gott dich rächen wird. Gott handelt stellvertretend für seine Erwählten.

Wer wirklich an einen Gott glaubt, überlässt ihm den finalen Sinn seines Tuns. Sein Handeln wird von Gott fremdgesteuert. Der Sinn dieses Tuns offenbart sich nicht im Irdischen, sondern erst im Jenseits. Der Christ lebt nur vorläufig auf Erden. In Wirklichkeit ist er Bürger zweier Welten und steht mit einem Bein schon im Drüben. Dort erst wird sich endgültig zeigen, was er für ein Mensch war.

Da kommt ein Verdacht auf: Kapitalismus ist nichts anderes als ein in Geld konkretisiertes Christentum. Obgleich Adam Smith als Stoiker galt, dachte er wie ein Christ. Auch wenn der Egoist scheinbar nur an sich selbst denkt, handelt er – ob er’s weiß oder nicht – als uneigennütziger Christ. Sein Egoismus nützt auf Umwegen der Gesellschaft am meisten.

„Dagegen ist der Mensch fast immer auf Hilfe angewiesen, wobei er jedoch kaum erwarten kann, daß er sie allein durch das Wohlwollen der Mitmenschen erhalten wird. Er wird sein Ziel wahrscheinlich viel eher erreichen, wenn er deren Eigenliebe zu seinen Gunsten zu nutzen versteht, indem er ihnen zeigt, daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, das für ihn zu tun, was er von ihnen wünscht. Jeder, der einem anderen irgendeinen Tausch anbietet, schlägt vor: Gib mir, was ich wünsche, und du bekommst, was du benötigst. Das ist stets der Sinn eines solchen Angebotes, und auf diese Weise erhalten wir nahezu alle guten Dienste, auf die wir angewiesen sind. Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.“ (Wohlstand der Nationen)

Hier schüttelt das vom Christentum gebeutelte Europa die Altlasten der Kanzelprediger ab. Da man die autonome Moral der Griechen verdrängt hat, bleibt nur noch: das Christliche auf den Kopf stellen und so tun, als habe man es überwunden. Hatte die Geschichte des Abendlands denn nicht bewiesen, dass christliche Werte nichts als Heucheleien waren?

Also stellten sie die Bergpredigt auf den Kopf und erhielten – unsere vielgerühmten Interessen. Das sind sie also, die „rationalen Nachfolger“ irrationaler Liebesmakulatur. Wirkliche und wahre Menschenliebe ist nicht dämliche Selbstausbeutung, sondern berechnender Egoismus. Die moderne Gesellschaft ist so klug und weise, dass sie selbst die strengste Eigensucht in das Wohl der Gesellschaft verwandelt.

„Wenn daher jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch dieses so lenkt, daß ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten läßt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, daß das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird. Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewußt das Allgemeinwohl, noch weiß er wie hoch der eigene Beitrag ist. Wenn er es vorzieht, die eigene nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er nur an die eigene Sicherheit, und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, daß ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, der keineswegs in seiner Absicht lag. Es ist auch nicht immer das Schlechteste für die Gesellschaft, dass dieser nicht beabsichtigt gewesen ist. Indem er seine eigenen Interessen verfolgt, fördert er oft diejenigen der Gesellschaft auf wirksamere Weise, als wenn er tatsächlich beabsichtigt, sie zu fördern.“ (Smith)

Was war geschehen? Im Urchristentum war der Gläubige Bürger zweier Welten. Die wahre Welt war die jenseitige. In der Moderne ist die jenseitige Welt herabgekommen und hat sich mit der irdischen verkoppelt.

Die eine Welt ist das Ich, die andere ist die Gesellschaft. Beide näherten sich einander, wurden aber nicht identisch. Nur mit paradoxer Intervention wurden sie miteinander verflochten.. Auch wenn ich nur an mein eigenes Wohl denke, arbeite ich – ob ich es weiß oder nicht – am Wohl der ganzen Gesellschaft.

Adam Smith ist kein Hobbes mehr, der an das Böse im Menschen glaubte. Nur scheinbar ist der Mensch grenzenlos egoistisch. In Wirklichkeit ist er – ob er will oder nicht – so moralisch und effizient zugleich, dass er gar nicht anders kann, als mit seinem Egoismus dem Ganzen zu dienen.

Fazit: Zu Unrecht hat der Kapitalismus den Schein des Amoralischen erhalten. Seine Amoral ist die effizienteste Art der Moral.

Hier stehen die deutschen Amoralisten und applaudieren. Wussten sie es nicht schon immer: Amoral ist die edelste Ausgabe der Moral?

Hier offenbart sich das Geheimnis der Superreichen: sie bringen die Menschheit am wirksamsten voran, wenn sie scheinbar moralfrei den wirtschaftlichen und technischen Fortschritt der Gesellschaften vorantreiben.

Was ist das Fazit unserer historischen Rekapitulation?

In der Antike war der Christ eine gespaltene Persönlichkeit, ein Bürger zweier Welten. Transparent wurde sein Tun erst, wenn man Lohn und Strafe seiner Werke im Drüben mitbedachte.

In der Moderne senkte sich das Jenseits hernieder und verband sich – in paradoxen Umleitungen – mit seiner Innerlichkeit. Das war der Fortschritt der Aufklärung, der den Glauben realistischer werden ließ. Im Manchester-Kapitalismus waren Denken und Glauben, Mammon und Gebet keine Gegensätze.

Gleichwohl gilt für die Gegenwart noch immer: das heilige Paar Kapitalismus & Fortschritt wütet ungebremst gegen Natur und menschliche Solidarität.

Sind die Esso-Superreichen die wahren Beschützer der Menschheit und der Natur, weil sie mit Dreistigkeit die Menschheit belügen und die Natur ihrem Profit opfern? Oder etwa das blanke Gegenteil?

Die Antwort erhalten wir nur, wenn wir uns nicht länger als Herren der Erde aufspielen. Mensch und Natur, Mensch und Mensch können nur als Symbiose überleben. Also sollten sie eine werden.

Fortsetzung folgt.