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Welt retten! Aber subito! IV

Tagesmail vom 29.08.2022

Welt retten! Aber subito! IV,

„Die erste Ankündigung fiel noch sehr laut aus, dann wurde es immer leiser. Bevor das groß auffallen konnte, folgte die nächste Ankündigung.“ (SPIEGEL.de)

Von wem ist die Rede? Von Merkel? Von Scholz?

Von der gesamten Politikerbrigade. Siegreich schmetternde Anführer des Volkes an der Spitze des Zuges, danach – das endlose Lazarett der Verwundeten und Toten. Versprechen, Geloben, die Zeitenwende verkündigen – dann nichts außer Jammern und Weheklagen.

Es ist das Muster der deutschen Politik, nein, aller Völker, die modern sein wollen. Zukunft, Fortschritt, endloses Wachstum, alle Probleme werden mit links gelöst.

Natürlich nicht von der Politik, sondern von der Technik, von Maschinen , die die Genialsten unter den Menschen in den Schatten stellen werden.

Was der Mensch nicht kann, kann er indirekt; er erfindet Stellvertreter, die seine Fähigkeiten weit überragen, mit rasender Intelligenz und bald auch mit Einfühlung und Empathie. Gott musste einen Sohn erfinden, der einen Heiligen Geist, damit das Gesetz der steigenden Evolution nicht ramponiert werde.

Ob das unberechenbare Böse zur Grundausstattung der Sohn- und Geistmaschinen gehören wird? Da sind die Erfinder noch uneins.

Unheilsprophetien hingegen werden grundsätzlich verbannt. Wer an die Zukunft des Menschen glaubt, hat das Elend seiner trüben Anfänge überwunden. Er kann auf endlose Innovationen vertrauen. Freilich:

„Innovationen aber kommen meist überraschend, sie lassen sich nicht planen.“ (WELT.de)

Nein, Zukunft kann nicht geplant werden. Wer alles plant, ist ein Kleingeist. Nur wer sich offen auf die wilde See traut, der wird terra nova finden. Der Physiker vertraut dem Faktor Zufall. Soll das noch Wissenschaft sein – oder ist das esoterischer Glaube?

Hui, jetzt müssen wir aber umdenken und Abbitte leisten: unsere planlosen Politiker, die stets versprechen und nichts halten: sie sind die wahren Gewährsleute der Zukunft – sagt ein kabarettistischer Zukunftsprophet:

„Ja, bei der deutschen Energiewende wird alles vorbestimmt: Wie wir wohnen sollen, die Art der Mobilität, Ernährung, die Art der Energieversorgung. Das Motto: So schnell wie möglich alles abschalten oder verbieten, was CO2 ausstößt, bis hin zu der radikalen Forderung, „Burn Capitalism, not Coal!“ – ohne zu bedenken, dass die größten Umweltsünden ja gerade in antikapitalistischen Gesellschaften auftreten. Je wirtschaftlich unfreier ein Land ist, desto schlechter sind dessen Umweltwerte. Aus ökologischer Sicht ist der Kapitalismus also anscheinend nicht das Problem, sondern eher die Lösung.“

Mal kurz einhalten und Atem holen: war das jetzt ein Späßli – oder meint das der Kabarettist todernst?

Wo gibt es noch antikapitalistische Gesellschaften auf Gottes weiter Erde – außer bei jenen Urvölkern im Kongo, im Amazonas, auf bestimmten Südseeinseln, die bald von Tsunamis weggeschwemmt werden?

Seit sie existieren, haben sie ihre Umwelt so erhalten, wie sie sie von Anfang an vorgefunden haben. Wenn es Völker gibt, die das Geheimnis der Symbiose mit der Natur gefunden haben, dann – diese Primitivos, die ohne Autobahnen auskommen wollen. Wann immer sie in die Welt hinausmüssen, um für ihre Existenzrechte zu kämpfen, kehren sie wieder erleichtert in ihre vertraute Umwelt zurück.

Das Wort „primitiv“ leitet sich von „ursprünglich“ ab. Alles Ursprüngliche wird von den Modernen verachtet, die nur das jeweils Neue als begehrenswert betrachten. Die christliche Verachtung des Alten ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen.

Wie diese Ursprünglichen mit der Natur umgehen, hat Völkerkundler Werner Müller in seiner Broschüre „Geliebte Erde“ beschrieben:

„Man darf, so erklären die Angehörigen der Präriestämme, der Wiesenmaus nicht alle Bohnen wegnehmen: es sei Bosheit, das schwache und wehrlose Tier seiner sämtlichen Vorräte zu berauben. Niemals dürfe das Gefühl für die Anerkennung der Rechte aller lebenden Dinge, Pflanzen und Tiere, verloren gehen. Man müsse Sinn haben für die gegenseitige Abhängigkeit alles Lebendigen, für die Verpflichtung des Menschen gegenüber der ganzen Natur und allen geheimnisvollen Mächten. Der Indianer nähert sich also den Vorräten des Tiers nicht als Räuber, sondern mit der Bitte, einen Teil der Vorräte abzugeben. Bei sämtlichen Präriestämmen gebe es ein starkes Gefühl der Zuneigung für das kleine Tier. Der Indianer begreift das Universum als eine lebendige, einige Gemeinschaft. In ihr haben alle Lebewesen, Pflanzen, Tiere und Menschen, vom kleinsten und unscheinbarsten bis zum größten und bedeutendsten ihren festen Platz. Der Mensch als eine der vielen Formen des Lebens in dieser universalen Gemeinschaft steht in vitaler Wechselwirkung mit allen andern. Hier wird der Kern des indianischen Heidentums erfasst, und diese Botschaft klingt anders als Genesis 1, 26, wonach die Menschen herrschen sollen über die Fische im Meer und über die Vögel am Himmel und über das Vieh und über alle wilden Tiere und über alles Gewürm, das auf der Erde herumkriecht. Dieser Freibrief für die zivilisatorische Herrschsucht und das indianische Verwandtschaftsgefühl bis zu den Grenzen des Universums stehen meilenweit auseinander.
Sind alle Welterscheinungen Geschwister, dann darf keine im Ring der Weltfamilie fehlen. Fällt auch nur eine einzige aus, verkrüppelt die Verwandtschaft, denn sie verliert ihre vollständige Gestalt. Eben deshalb brechen Prärieindianer keine Blüten, um sich damit zu schmücken, sie bewundern die Blumen in ihrem Naturzustand, aber sie pflücken sie niemals.“

Ureinwohner glauben an die Unverletzlichkeit der Erde und ihrer Geschöpfe. „Sie halten die Erde für einen lebendigen, bewussten Organismus.“ Immer wieder beschwören sie die Pachamama, die allgemeine Mutter als lebendige Persönlichkeit:

„Die Erde liebt uns.
Sie freut sich, wenn sie uns singen hört.“

Musik, Tanz, die gesamte Kultur des Menschen ist nichts als Danksagung an die Natur. Können kaltherzige Naturwissenschaftler solche Verbundenheitsgefühle des Menschen mit der Natur nachvollziehen?

„Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich! Sie sollen walten über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen. Siehe, ich gebe euch alles Gewächs, das Samen bildet auf der ganzen Erde, und alle Bäume, die Früchte tragen mit Samen darin. Euch sollen sie zur Nahrung dienen.“

Ökologie ist das Gegenprogramm zur göttlichen Lizenz an den Menschen, die Erde für seine egoistischen Zwecke auszubeuten und zu vernichten. Wen wundert es, dass sofort der Vorwurf im Raume stand: Ökologie ist antisemitisch.

„WELT: Charakteristisch für diese Bewegung ist auch eine starke Abneigung gegen Juden: „Umweltschützer zu sein, heißt auch Antizionist zu sein“, sagen Sie.“ (WELT.de)

Ist der Vorwurf des Antisemitismus gegen Naturschützer berechtigt? Den Semiten, den Juden gibt es nicht. Es gibt – nicht anders als im Christentum – mindestens zwei Arten des Judentums: die Anhänger der Aufklärung und Demokratie – und die orthodoxen Wort-für-Wort-Gläubigen und die Theokraten, die in Israel gerade dabei sind, die heidnische Demokratie zurückzudrängen und die Herrschaft der Theokraten einzuführen.

Die expansive Ausdehnung des Vorwurfs in sekundären, tertiären Antisemitismus wird immer unglaubwürdiger und unterminiert den notwendigen Kampf gegen bedrohlichen Judenhass.

Hier sieht man, dass der heutige Rummel um Antisemitismus, etwa in der Documenta, seinen Ursprung verloren hat. Er ist verkommen zu einer hintergründigen Immunisierung der theokratischen Regierungen in Jerusalem. Es geht nicht mehr um Grundsätzliches und Religiöses, es geht um die Rechtfertigung einer Politik, die glaubt, alle Menschen- und Völkerrechte der Palästinenser missachten zu dürfen.

„Vergangenen Donnerstag hat die israelische Armee Razzien in den Büros von sieben palästinensischen Menschenrechtsorganisationen im Westjordanland durchgeführt. Dabei haben die Soldaten Dokumente, Drucker und Computer konfisziert und dann die Büros geschlossen. Sechs dieser sieben Organisationen hat Israel vergangenen Oktober auf eine Terrorliste gesetzt. Europäische Regierungen, einschließlich der deutschen, sind nach eingehender Prüfung zum Schluss gekommen, dass der Vorwurf haltlos ist. Auch die amerikanische CIA kann dem britischen »Guardian« zufolge den Terrorvorwurf nicht stützen.“ (SPIEGEL.de)

Wer solche skandalösen Verstöße Israels gegen die UN-Charta – ausgerechnet bei Menschenrechtsvereinen – nicht anprangert, macht sich unglaubwürdig, wenn er mit „Entsetzensrufen“ nach Antisemiten Ausschau hält. Humane Rechte gelten für alle Menschen, nicht nur für Privilegierte und Auserwählte.

Religionskritik ist eine Aufforderung zur politischen Debatte und kein Hass auf Gläubige. Umgekehrt: wer jede Kritik an seiner Religion a priori abweist, will durch Unfehlbarkeit herrschen.

Die französische Philosophin Levet wirft den grünen Ökologen vor, Feinde der französischen Kultur zu sein:

„Die Angriffe zeugen von einer wahren Abscheu gegenüber der französischen Lebensart. Diese Aktivisten verhöhnen die Treue und die Verbundenheit der Völker mit ihren Sitten, Traditionen und Landschaften. Sie treten als oberste Richter auf und bestimmen, was nach dem Prinzip der Cancel Culture ausgelöscht werden muss. Sie verhalten sich wie Elefanten im Porzellanladen. Ich werde die Umweltschützer erst dann ernst nehmen, wenn sie aufhören, sich als Herren und Besitzer der Kultur aufzuspielen.“

Der Kampf der Ökologen wendet sich nicht direkt gegen die französische oder sonstige Kultur. Allerdings bekämpfen sie, wenn sie ernsthaft sein wollen, alle naturwidrigen und naturschädigenden Produkte der modernen Kulturen. Alles was der Natur schadet, muss abgebaut werden, damit sie sich wieder erholen kann.

Das wird, in der Tat, kein Zuckerlecken. Denn die seit tausenden von Jahren praktizierte Naturfeindschaft hat elementare Wunden in die Natur geschlagen. Wir müssen an jenen Punkt zurück, den die obigen Primitivos klar dargestellt haben: der Mensch muss genauso viel an die Natur zurückgeben, als er von ihr nimmt. Alles hingegen, was die Natur irreversibel schädigt, beschädigt à la longue auch die Überlebenschancen des Menschen.

Das wäre in der Tat eine gewaltige Cäsur der Geschichte, die die Menschheit  erbringen müsste. Sollte sie aber vor diesem Schritt zurückweichen, wär‘s um sie geschehen.

Es ist blanker Unsinn der Philosophin und der WELT, den Grünen ökodiktatorische Gelüste vorzuwerfen und zeugt von vollständiger Ignoranz des Problems.

Es ist die beschädigte Natur selbst, die von uns therapeutische Maßnahmen zur Heilung der kosmischen Patientin einfordert. Es sind jene Wunden, die der Mensch seit erdenklichen Zeiten selbst in Pachamama geschlagen hat. Der Mensch muss jene Wunden der Natur heilen, die er selbst verursacht hat.

Levet weigert sich zu erkennen, dass der überwiegende Teil aller Kulturen uralte Räuberhöhlen des Menschen sind, in denen er alles hortet, was die Fortschrittlichen der Natur geraubt haben.

Die folgende Erkenntnis Levets aber trifft zu:

„Die Ökologie, die ich anprangere, ist eine Ökologie, wie sie heute bei uns in Europa von den Grünen vertreten wird. Der Sieg der Linken ist ein Pyrrhussieg, eine Niederlage für diejenigen, die sich wirklich um Natur und Mensch sorgen. Und ja, mein Buch ist eine Hymne an die Zivilisation. Für die heutigen Umweltschützer aber ist der Mensch der große Schuldige. Dabei stellen sie nicht die Zivilisation im Allgemeinen infrage, sondern die westliche Zivilisation, in der sie nur Dominanz und Raubbau sehen. Die Schlussfolgerung ist eindeutig: Sie wollen die Entwestlichung der Welt.“

Die naturfeindliche Religion des Westens war schuldig an der Deformation der Natur, ergo muss gefordert werden, dass diese religiösen Werte als Unwerte beseitigt werden, so gut es geht.

Warum es, nicht nur den Deutschen, sondern der gesamten „hochentwickelten Kultur“, so schwer fällt, rigorose Gegenmaßnahmen gegen die Naturverwüstung zu ergreifen, liegt daran, dass die Menschheit ahnt, wie tiefgreifend die Umwälzung sein müsste, mit der wir zu gesunden Verhältnissen zurückkehren können.

Einem grünen Staat den Vorwurf der Übergriffigkeit zu machen, wie die WELT überschnappt, ist abwegig.

„Die Idee des übergriffigen Staates funktioniert nur, wenn dieser durch die Hingabe der Bürger/Gläubigen und die Autorität der Politiker/Priester legitimiert ist. Das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche hilft dabei.“ (WELT.de)

Argumente der Politiker sind keine Predigten, Naturkundige keine Priester; die WELT kann Vernunft nicht unterscheiden vom Heiligen.

Seit Jahrzehnten wird in Deutschland Demokratie durch Staat ersetzt. Doch keine lebendige Polis hat etwas mit einem deutschen Obrigkeitsstaat zu tun. Staat ist für Deutsche noch immer etwas furchterregend Imposantes, dem man Gehorsam leisten muss.

Eine Polis hingegen ist ein Gemeinschaftswerk gleichwertiger Personen, die – wenn sie gewählt werden – eine gewisse Zeit lang mehr Macht ausüben können. Ansonsten sind sie kein Deut mächtiger als ihre Nachbarn.

Durch ein lebendiges Volksparlament überdies ist jeder befugt, seine Meinungen in die allgemeine Debatte einzubringen. Weshalb eine Volksregierung per definitionem nicht übergriffig sein kann. Eine übergriffige Regierung wäre ein Rückfall in einen absolutistischen, monarchischen oder sonstwie autoritären Staat.

Alles, was nach Staat riecht, müsste in einer lebendigen Polis ohne Umschweife ausradiert werden. Das gelänge nur durch mutige BürgerInnen, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließen.

Die WELT kennt keine Demokratie, sondern nur einen übergriffigen Staat. Die Wirtschaft hingegen, die sich inzwischen fast die ganze Staatsmacht unter den Nagel gerissen hat, wird mit keinem Wort erwähnt. Wirtschaft, das ist längst die globale Übermacht der Superreichen.

In der Dreistigkeit, mit der die FDP, die Handlanger der Superreichen, alle ökologischen Rettungsmaßnahmen torpediert, zeigt sich der vollständige Triumph der österreichischen Adels-Ökonomen derer von Hayek und von Mises.

„Das Klima-»Sofortprogramm« des Bundesverkehrsministers Volker Wissing ist ein Affront. Gegen die Koalitionspartner, die Bevölkerung, den Rest der Welt. Die FDP hat das Nichtstun zum politischen Programm erhoben. Die FDP versucht derzeit, die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass sich in Deutschland eigentlich nichts ändern muss. All das scheint vor allem nach dem Willen Lindners zu laufen, der hier der eigentliche ideologische Treiber zu sein scheint. Immer den Porsche- und nun auch VW-Chef Blume im Ohr: Schnellfahren, große Autos, große Verbrennungsmotoren, Autobahn, Dienstwagen, huiiiiii!“ (SPIEGEL.de)

Auch der Satiriker scheint noch nie ein einziges kapitalismuskritisches Büchlein gelesen zu haben. Kapitalismus wird bei ihm zu einem – göttlichen – Allheilmittel. Dabei begann der natur- und menschenschädigende Prozess des Kapitalismus schon am Beginn der Neuzeit:

„In der sich herausbildenden kapitalistischen Marktwirtschaft war ein unerbittlich sich beschleunigendes Moment der Expansion und Akkumulation eingebaut, das langfristig zu Lasten der Umwelt und der Dorfgemeinschaft ging – der Grundlagen der natürlichen und menschlichen Ressourcen.“ (Merchant, Der Tod der Natur)

Wo stehen wir?

Die Reichen und ihre Parteikraken scheinen längst immunisiert gegen die anschwellende Klimagefahr. Mit ihren gelenkigen Medienorganen – vor allem aus dem Springerverlag – verhöhnen sie die Rettungsversuche der Naturschützer. Sie kennen keine Natur, die zu retten wäre. Sie kennen nur die hohe Kultur der Privilegierten, die im anarchischen Freiheitswahn die Welt zugrunde richten.

Echte Freiheit ist ein demokratisches Gemeinschaftsprodukt und muss von allen ausgehandelt werden.

Und wenn sie wüssten, dass morgen die Welt zugrunde ginge, würden sie noch heute französisch schlemmen und über die deutsche Autobahn brettern – bis ihnen das Herz stehen bliebe.

Was bleibt uns? Diese Gaiavernichter so effektiv und schnell wie möglich aus dem Verkehr zu ziehen.

Fortsetzung folgt.