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Welt retten! Aber subito! V

Tagesmail vom 02.09.2022

Welt retten! Aber subito! V,

wenige Tage wird der Tote in den höchsten Tönen gerühmt, danach in den Annalen versenkt.

In der östlichen Welt wird er verflucht, weil er das Sowjetreich zerstörte, in der westlichen für immer verschwiegen und begraben, weil er die Ideale – des Westens ernst nahm, die in der kapitalistischen Welt längst zur Doppelmoral verkommen waren.

Was Ihr predigt, aber auf keinen Fall tut, das tue ich – denn ich glaube an die Einheit von Wort und Tat.

Er taugte nicht zum Vorbild eines verkommenen Westens, denn von der Macht der moralischen Vernunft war er überzeugt.

Noch weniger taugte er als Heros des Ostens, denn er verstand nichts von kapitalistischen Gesetzen, mit denen man den Westen überholen kann.

Er plädierte für Zusammenarbeit aller Völker, für weltweite Abrüstung und für ökologische Erneuerung.

„Die neue, von Michail Gorbatschow eingeleitete Perestroika richtete sich von Anfang an gegen die ideologischen Grundlagen des Stalinismus, vor allem gegen Uniformität, Zwangskollektivierung und die Unterordnung des Lebens unter die Wahrheit. Aus diesem Grunde hatten die Umgestaltungen Gorbatschows den Charakter einer moralischen Revolution, eine fundamentale Neuordnung in Wertfragen. Es war ein Protest gegen die Wurzeln unserer moralischen Sklaverei, gegen den Widerwillen, die Vergangenheit kennenzulernen, über sie nachzudenken und von ihr zu lernen. Nun wissen wir, dass der verführerische Satz „Lasst das Vergangene ruhen“ von denen geäußert wird, die unsere Gedanken kontrollieren und die Menschen des Rechtes berauben, aus ihrer Geschichte zu lernen. Wir begannen unsere Krankheit zu heilen, indem wir Millionen Menschen veranlassen, über das nachzudenken, was in den letzten siebzig Jahren mit uns geschehen ist, was Russland durchgemacht, was es erreicht und was es verloren hat. Nur durch Gespräche, durch die unabhängige Beurteilung der eigenen Person, der Zeit und der Welt gelangen wir zur Wahrheit. Der Ausgangspunkt unserer Perestroika und unserer moralischen Revolution war die Scham, die viele über ihre Kriecherei und Duldung von Ereignissen empfanden, die sie hätten verdammen müssen. Die Philosophie der Zukunft muss Respekt vor der Wahrheit zeigen. Sonst können wir keine Rettung erhoffen. Im Gegensatz zu Stalins Abenteurertum verspricht unser neues soziales Denken keine Wunder. Vielmehr hat es die undankbare Aufgabe übernommen, die Menschen Vernunft zu lehren. Wir haben große Fortschritte auf dem Weg der Gleichheit gemacht. Jetzt müssen wir uns noch komplizierteren Problemen zuwenden: der Bedrohung durch Umweltkatastrophen, dem Lebensmittelproblem und dem Aufkommen nationaler Faschismen. (Alexander Zipko, Die Philosophie der Perestroika, 1990)

Gorbatschows neue Politik war ein Faustschlag in das Gesicht des Westens, das von Gier verwüstet, von Macht verzerrt und von religiöser Arroganz entstellt war.

Gewiss, im ersten Augenblick waren die Russen keineswegs von Gorbatschows Revolution enttäuscht. Im Gegenteil, gebannt verfolgten sie die Wirkung seines Tuns auf den erstaunten Westen, der das Ende des Kalten Kriegs, die Freiheit der Satellitenstaaten, den Abriss der Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands innerhalb kürzester Zeit erlebte. Ein gewaltiger geschichtlicher Moment.

Erst, als die Überraschung vorbei war und der Alltag zurückkehrte, wurden die Russen misstrauisch. Die alten Eliten fürchteten um ihre Macht und begannen, gegen den Erneuerer zu intrigieren.

Sein Kairos ging vorüber. Er verlor die Macht und wurde von Nachfolgern abgelöst, die zurückkehrten in die Fußstapfen uralter russischer Machtpolitik. Putins Kriegsmassaker in der Ukraine folgen Stalins Spuren.

Die Bewunderung der Deutschen hat keineswegs die Absicht, für Gorbatschows politische Grundsätze zu werben. Im Gegenteil: Deutsche loben, ohne es nötig zu haben, selbst dem Gelobten zu folgen. Ihre momentane Geistesverfassung ist eine komplette Verwerfung der philosophischen Prinzipien der Perestroika:

Wahrheit? Wird hier verhöhnt.

Moralische Wertfragen? Werden hier verlacht.

Erforschung des Vergangenen – um Gegenwart zu verstehen und Zukunft zu gestalten? Wird hier verworfen, um blind in die Zukunft zu starren.

In Gesprächen miteinander denken lernen? Heute wird nur noch in rasendem Tempo palavert, zum Nachdenken ist keine Zeit. Wer Muße hat, sich und seine Mitmenschen zu erforschen, wird gefährlich für die Putins, Trumps & Co.

Denkende Menschen sind die größte Gefahr für Befehlshaber, Geldmagnaten und Fortschrittsmaschinisten. Das deutsche Bildungssystem hat den primären Zweck, seine Lernenden durch ständige Pisa-Test-Drohungen vom wirklichen Lernen – dem eigenständigen Denken – abzuhalten.

Perestroika versprach keine Wunder. Das kümmert Joschka Fischer nicht, er hält Gorbatschow für ein Wunder:

„Er hat Neues, unerhört Neues, gewagt und ist dabei gescheitert, wurde deswegen verfemt von den – Anhängern der alten Ordnung und alter sowjetischer Größe. Wann passieren schon Wunder in der Politik? Michail Sergejewitsch Gorbatschow war eben ein solches!“ (SPIEGEL.de)

Wunder sind Taten Gottes oder des Zufalls, von Menschen nicht machbar. Eben deshalb muss Gorbis Tun zum Wunder gemacht werden, um die Frage an Fischer zu unterlaufen: und wo ist dein Wunder geblieben, lieber Joschka?

Wunder sind Gaben von oben, im normalen Politbetrieb undenkbar. Damit sind die Deutschen aus dem Schneider. Sie ziehen den Karren, solange der Karren es will. Mehr ist nicht drin.

Hat er Neues gewagt, gar unerhört Neues? Nein, er hat das bewährte Alte wiederbelebt, das die Moderne ramponiert hat: die Tugenden einer denkenden Polis. Das Neue ist die trügerische Verheißung einer messianischen Religion. Davon kann hier keine Rede sein. Wissen heutige Politiker nicht mehr, was demokratische Leitlinien sind?

Fast alle westlichen Politiker sind voll des Lobes für den Verstorbenen.

„UNO-Generalsekretär António Guterres nannte Gorbatschow einen »einzigartigen Staatsmann«, der den Lauf der Geschichte verändert habe. »Er hat mehr als jeder andere dazu beigetragen, den Kalten Krieg friedlich zu beenden.“ (SPIEGEL.de)

Hat der Bauernsproß fast im Alleingang den Kalten Krieg beendet? Woher hatte er, der ganz von unten kam und im Elend stalinistischer Kolchosen aufwuchs, die Fähigkeiten zu einer solch phänomenalen Tat?

Muss er dann kein Messias gewesen sein: er kam von ganz unten, hatte phänomenale Fähigkeiten, um nach Moskau zu kommen, um dort seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen?

Mit messianischen Wundermännern können selbst die besten Demokraten nicht mithalten. Gorbatschow wird ins Heilige und Einmalige abgeschoben, damit Normalsterbliche sich nicht angesprochen fühlen müssen. Sie sind aus dem Schneider. Das Reich des Bösen ist der wahre Kontrast zur Geburtsgeschichte des kleinen Michail, in der Krippe liegend und voll des Heiligen Geistes.

Die Elogen westlicher Politiker entlarven ihre Rechtfertigungserzählungen: sie sind nun mal durchschnittliche Demokraten. Mit der Fähigkeit, die Welt durch Wunder zu erlösen: damit können sie nicht dienen. Womit das Vorbild Michail G. elegant aus dem Verkehr gezogen wäre. Wir kehren zurück ins normale Demokratiegeschäft: sie bleibt ein unerreichbares Ideal. Weiterhin sind wir gezwungen, Kompromisse zu schließen. Oft Kompromisse, die das Gegenteil dessen tun, was eine funktionierende Demokratie eigentlich gebietet.

Die Dekadenz des Westens ist gerettet. Macht nur so weiter in eurem Schlendrian, nur ein Gott kann euch noch helfen.

Der christliche Westen – das verrät er hier – darf das göttliche Gebot nicht verletzen, wonach er nicht befugt ist, sich aus eigener Kraft zu erlösen. Seine rastlose Hatz hat nur den einen Zweck, vorbildhaft zu scheitern, um auf Knien um Hilfe zu rufen.

Hilf Herr, wir brauchen dringlich deine rettende Hand von Oben, damit wir deine Schöpfung bewahren können. Aus eigener Kraft schaffen wir es nicht.

Es gibt noch andere Methoden, um Gorbatschows Vorbildlichkeit zu unterlaufen:

„Gorbatschow war bei allem Pragmatismus vor allem ein politischer Romantiker. Schon als sowjetischer Partei- und Staatschef träumte er davon, dass »allgemeine Menschheitsinteressen« zu harmonischen Beziehungen der Staaten und Völker führen könnten. Es blieb bei Träumen, die sich nie erfüllten.“ (SPIEGEL.de)

War er ein Träumer, ein Romantiker, der mit der Realität kollidieren und scheitern musste?

Deutsche Romantiker suchten nach der Blauen Blume. Was war diese geheimnisvolle Blume? Bei Novalis finden wir eine Beschreibung:

„Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die […] ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstliche Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stängel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte.“

Die Blaue Blume war ein märchenhaftes Symbol, jenseits aller Naturgesetze, ein Mittelding zwischen Pflanze und der ersehnten Geliebten. Nichts Reales, nichts Machbares, nichts Politisches. Keine irdische Utopie, sondern ein Gebilde, von dem wir träumen – plötzlich aber werden wir aus unseren Träumen gerissen von der Stimme der Mutter.

Und solch ein Träumer soll Gorbatschow gewesen sein, der wie ein Schlafwandler nach einem Unerfüllbaren strebte? Wie hätte er dann die politische Weltlage erschüttern können? Wie hätte er fast alle Westpolitiker ins Staunen bringen können, wenn er ein träumender Phantast war?

Seine Vorstellung von einer friedlichen Menschheit war kein irrealer Traum. Es war ein knallhartes Ideal. Freilich, die Deutschen halten Ideal für eine kränkliche Vision, die man von einem Seelenklempner kurieren lassen sollte.

Da jede Veränderung als Streben nach einem Ideal gedeutet werden kann, gibt es in Deutschland keine Reformbewegung, um die anstehenden Weltkrisen zu lösen.

Die Deutschen sind Romantiker. Sie lassen alles beim Alten, in der Hoffnung, durch Hilflosigkeit Wunder des Himmels zu provozieren.

Die Kanzlerin war eine romantische Träumerin, die schlafwandelnd ihren eingefahrenen Kurs weiterzog, im kindlichen Glauben, immer dem gewohnten, rechten Weg zu folgen.

Jetzt, im Ruhestand, müsste sie – plötzlich erwachend – erkennen, dass sie das Gegenteil einer Realistin tat. Sie war im Rausch, dem Immergleichen zu folgen, weil es angeblich den Kurs des Himmels darstellte. Doch jetzt kommt die allseitige Ernüchterung – oder sollte kommen:

„Der Westen ist in einer Krise, schon seit längerem, aber nun spitzt sie sich zu. Diese Krise hat eine innen- und eine außenpolitische Dimension, was sie besonders gefährlich macht. Wie konnte es sein, dass sich westliche Länder und allen voran Deutschland in so eine Abhängigkeit von Russland bei der Energieversorgung begeben konnten, obwohl offensichtlich war, welche aggressive Politik Putin betrieb. Der Grund war neben dem Wunsch nach preiswerter Energie der Glaube, dass unser Gesellschaftssystem so attraktiv ist, dass alle anderen danach streben, so zu werden wie wir. Wir sind von China in der Wirtschaft noch viel abhängiger als von Russland. Man hätte schon längst die Risiken verteilen müssen, aber darauf hat man verzichtet. Auch im Hinblick auf die Entwicklung Chinas hat man sich Illusionen hingegeben und geglaubt, dass das eigene System irgendwann zwangsläufig siegen müsse. Eine freiheitliche Ordnung kann nicht durch Zwang und Militärgewalt von außen implementiert werden, dafür müssen sich Menschen selbstständig entscheiden können. Es war ein Irrglaube, dass die Afghanen die Strukturen übernehmen würden, die der Westen dort aufgebaut hat. Sie haben sie sich nicht zu eigen gemacht.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Die Trance des Westens oder Merkels bestand darin, den Westen für so überlegen zu halten, dass der Rest der Welt seinem Ressourcenhunger nicht widerstehen konnte.

Die Christen erkannten nicht, dass die von ihnen kolonisierten und ausgebeuteten Völker schon lange darauf warteten, um sich an ihren ehemaligen Unterdrückern rächen zu können.

Dieses passiert jetzt, indem Putin sich zum Rädelsführer der Entwicklungsländer aufschwingt, um die Ukraine – als Vorposten des Westens – stellvertretend zu bestrafen.

Hätte der Westen den Kurs Gorbatschows energischer unterstützt, um ihm die Chance des Rädelsführers zu verschaffen, wäre ein Kurswechsel der gesamten Weltpolitik eher möglich gewesen.

Jetzt aber droht wieder die Spaltung in zwei Welthälften; auf der einen Seite – unter der Führung Amerikas der gesamte Westen, auf der anderen – unter Führung Chinas, Russlands, vielleicht sogar Indiens – der gesamte Osten.

Obwohl diese Spaltung schon seit Jahren jedem pragmatischen Politiker klar sein müsste, hat die Gier nach globaler ökonomischer Überlegenheit alle vorsichtigen Zukunftsmaßnahmen eliminiert.

Sein blindwütiges Habenwollen hat den Westen in die Sackgasse geführt. Die globale Ökonomie hielt er für so perfekt, dass sie alle Probleme mit linker Hand lösen würde. Noch heute gibt es die Einschätzung, der Kapitalismus ist kein Problem, sondern die Lösung desselben.

Natürlich hatte Gorbatschow Fehler. Bei Deutschen gibt es immer ein Aufatmen, wenn sie bei vorbildlichen Menschen Fehler entdecken. Heißt das doch bei ihnen: was sollen wir von diesem Versager lernen, der uns mit idealen Projektionen in die Irre führen will?

Mit seinen Fehlern kann dann das ganze Vorbild ad acta gelegt werden – und wir dürfen weiterwurschteln wie gewohnt.

Kein Mensch ist ein Messias. Große Vorbilder sollte man besonders kritisch unter die Lupe nehmen – um das, was man für hieb- und stichfest hält, besonders intensiv in die Tat umzusetzen.

Lieber mühen wir uns mit Rüpeln wie Trump ab, als positive Ausnahmeerscheinungen zu unseren Leitbildern zu wählen.

In der jetzigen Gewaltphase Putins lehnen die Russen Gorbatschow ab. Sollten sie aber nach Putin wieder in die Weltgemeinschaft zurückkehren, werden sie stolz sein auf diesen eindrucksvollen Menschenfreund, der ihr Landsmann ist.

„Die russische Bevölkerung hat ihrem einstigen Führer den Untergang der Sowjetunion nicht verziehen. Aber künftige Generationen werden in Michail Gorbatschow einen Helden sehen, Putins Sieg über ihn ist nur vorübergehend.“ (SPIEGEL.de)

Nein, kein Mensch ist perfekt. Dennoch sind Politiker wie Gorbatschow unverhoffte Geschenke der Zeit, für die wir dankbar sein könnten.

Fortsetzung folgt.