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Welt retten! Aber subito! III

Tagesmail vom 26.08.2022

Welt retten! Aber subito! III,

Europa im Abstieg …,

… einer der wesentlichen Gründe für Putin, den Verfall durch kriegerisches Eingreifen zu beschleunigen. Der Verwesungsgestank des alten Europa war unerträglich geworden.

Nun schlägt die Stunde Eurasiens – unter der Führung Russlands. Der alte russische Eurasianismus hatte von den Tiefen Asiens unter der Herrschaft Moskaus geträumt. In hohem Maß ging der Traum in Erfüllung: Russland wurde zum größten Land der Weltgeschichte.

Als das christliche Europa den Westen eroberte, zogen die orthodoxen Russen in die entgegengesetzte Richtung. Russland wollte zur dritten Kraft zwischen Europa und Asien werden.

Als die messianischen Deutschen als Nachzügler ihren Anteil an der Weltbeherrschung einforderten, wurden sie vom Ost-West-Bündnis in die Zange genommen und vernichtet.

Der kalte Krieg begann: zur atomaren Entscheidungsschlacht kam es – dank des Verdienstes sowjetischer Offiziere – nicht. Doch der Stachel löckt noch immer: welches Land ist dominium terrae, das Siegesterrain der Welt?

Das ist die Frage der Geschichte – gleichbedeutend mit der Heilsgeschichte –, um die sich alles dreht. Säkularisation war kein Abschied von der Heilsgeschichte, sondern ihre Verwirklichung mit Instrumenten der Macht – gewonnen aus Erkenntnissen unermüdlich voranschreitender Wissenschaft.

Die Fundamente dieser Entwicklung wurden vom Urchristentum gelegt, als es sich in allen Völkern zu verbreiten begann, um sie, unter dem Zeichen des Kreuzes, zu missionieren und zu beherrschen.

„Als Gott den Menschen schuf, gleichsam als Abbild Gottes und Krone des göttlichen Schöpfungswerkes, da hauchte er ihm allein die Weisheit ein, damit er alles seiner Herrschaft und Botmäßigkeit unterwerfe und alle Annehmlichkeiten der Welt genieße.“ (Kirchenvater Laktanz)

Descartes übernahm das Motto, die Welt zu regieren und ernannte den Menschen zum „Herrscher und Besitzer der Natur“. Francis Bacon konkretisierte den Auftrag durch naturwissenschaftliches Wissen, das er nicht um des Erkennens willen anstrebte, sondern allein um der Macht willen: Wissen ist Macht.

Griechisches Erkennen wurde von Bacon zweckentfremdet und zur Machtgier verfälscht.

Insofern waren die beiden Weltkriege die ersten globalen Versuche, die wahren Herren unter den westlichen Völkern auf den Schlachtfeldern auszumachen.

Nach dem Kriegsende holten jene Völker auf, die früher noch kein Mitspracherecht hatten: Indien, Japan, die arabischen Staaten, vor allem China. Der nächste Weltkrieg, auf den die Völker schlafwandelnd zusteuern, soll die Entscheidungsschlacht liefern.

Schlafwandelnd? Sie tun, als ob, doch so ist es nicht. Jedes mächtige Land fiebert nach der Entscheidung. Sollte es jedoch zum ultimativen Debakel kommen, will niemand dran schuldig gewesen sein.

Der ständige Wettbewerb um die vorderen Plätze in allen Kategorien lässt der Evolution keine andere Wahl, als die Sucht nach den Besten, Tüchtigsten und Genialsten mit einem Donnerschlag zu stoppen.

Man könnte sagen: die Moderne will nicht leben, sie will das Leben gewinnen. Ohne Sieg kein sinnvolles Leben. Ankommen ist nichts, sie will ewig vagabundieren. In Ruhe das Leben feiern: welch grässlicher Alptraum.

In der Nachkriegszeit schien es, als hätten die Völker ihre Lektion gelernt. Sie versammelten sich unter der Maxime des universellen Menschenrechts: alle Menschen sind gleichwertig und haben den Auftrag, Frieden untereinander für immer zu schließen.

Doch kaum hatten sich die schlimmsten Wunden des Krieges vordergründig geschlossen, kam das Fieber zurück: keine Erfüllung auf Erden, keine Ruhe, kein Ziel des unruhigen Werdens und Wanderns.

Es musste gesiegt werden, damit der wiederkehrende Herr der Zeiten einen finalen Sieger küren und auf den Thron setzen konnte. Das religiöse Ziel der Geschichte ist die endgültige Scheidung der Völker in wenige Sieger und viele Verlierer, in Selige und Verdammte, in Weizen und Spreu.

Der Prophezeiung nach soll der Messias im Heiligen Land zurückkehren. Zuvor aber, so der Glaube amerikanischer Fundamentalisten, müssten die Juden sich zum Christentum bekehren. Was aber, wenn sie sich nicht bekehren?

Dann werden die bislang israeltreuen Christen sich über Nacht in unversöhnliche Feinde der Juden verwandeln – ein neuer Judenhass wird die bisherige Bündnistreue zwischen Amerikanern und Juden ins Gegenteil verkehren. Ein neuer, schrecklicher Antisemitismus wird die Weltgeschichte in einen Vorhof der Hölle verwandeln.

Über diese Schreckensvisionen wird in Deutschland nicht gesprochen. Das christliche Land hat seinen Glauben von allen dogmatischen Apokalypse-Mythen gereinigt. Ihr Glaube ist identisch mit der Vernunft.

Kant und die Aufklärung kannten kein Armageddon. Im Land der allmächtigen Dialektik steht alles unter dem Zwang finaler Versöhnung. Eben dies ist die Botschaft der deutschen Politik an ihr Volk: alles gut: unser Wohlstandszug braust ungefährdet ins Gewisse und Sichere.

Ganz anders in Amerika. „Warum erbittet sich ein Christ wie Jerry Falwell das Ende der Welt? Müssen wir diese Welt völlig zerstören, um zu einem „neuen Himmel und einer neuen Erde zu gelangen“? Falwell und andere wiedergeborene Fundamentalisten in den USA erklärten, sie glaubten, dass es Gottes Wille sei, wenn Israel sich daran mache, sein Herrschaftsgebiet im Nahen Osten auszuweiten. Dies würde die Welt näher an den biblischen „Tag des Jüngsten Gerichts“ heranbringen, an dem die Erwählten in mystischer Verzückung gerettet und in den Himmel heimgeholt werden, während die Verdammten in der Endschlacht bei Armageddon untergehen. Diesen Endkampf werden die Juden gegen die Moslems auszutragen haben. Die amerikanischen Gläubigen haben erkannt, dass wir uns auf eine entscheidende Zeit in der Geschichte der Erde zubewegen, und sie dabei mitwirken sollen, die Prophezeiungen zu erfüllen und damit das Kommen des Messias beschleunigen.“ (alle Zitate in Engdahl, Apokalypse jetzt)

Hier finden wir die Antworten, warum Europa und Amerika sich in absehbarer Zukunft voneinander entfernen werden. Europa erwartet – bewusst – keine Apokalypse, Amerika fiebert dem Ende entgegen – weshalb dem Land ein irrationaler Trump wichtiger ist als kalte Vernünftler.

Trumps Willkür, die alles auf den Kopf stellt, ist heilsgeschichtlich wichtiger als coole Rechner, die glauben, das Ende der Welt sei kindischer Unfug.

Da die Amerikaner ungeduldig das Ende erwarten, haben sie keine Probleme mit den überhand nehmenden Krisen der Welt. Im Gegenteil. Je mehr Unheil geschieht und die Elemente der Natur durcheinander wirbelt, umso besser.

Christen vom Bible Belt hassen die europäischen, besonders die deutschen, Ökologen. Diese maßten sich an, den festgelegten Verlauf der Heilsgeschichte nach eigenem Willen zu verändern.

Ein Dialog zwischen den Kontinenten ist ausgeschlossen, denn die Europäer verachten die Frommen wie die Frommen die Atheisten aus Europa. Solange Amerika seine religiös-autonome Spaltung nicht lösen kann und Europa tut, als ob es die Synthese aus Jesus und Voltaire gefunden hätte, werden die Kontinente weiter auseinanderdriften und die nordatlantische Scheinehe zerbrechen.

Diesen Machtverlust durch Zwietracht wittern die eurasischen Länder. Putin hatte vergeblich versucht, sich dem Westen zu nähern und sich als gleichberechtigtes Mitglied zu integrieren.

Seinen berühmten Landsleuten, Schriftstellern und Philosophen war es kaum anders ergangen. Jahrelang konnten sie sich in Europa getummelt haben, am Ende blieb die westeuropäisch-slawische Entfremdung.

Das betrifft selbst den Marxismus, der seit Lenin das Geschick Russlands bestimmen sollte. Stalin selbst sorgte dafür, dass ein Teil der Marx‘schen Gesamtwerke aus dem Gesamtkanon ausgeschlossen wurde:

„Das betraf etwa die gegen den Panslawismus gerichteten, von Verschwörungsvorstellungen getriebenen, teilweise genuin slawophoben und russophoben Artikel aus den 1850er Jahren. In ihnen war das lebenslange Leitmotiv des Kampfs auf Leben und Tod gegen die „halborientalische Despotie“ des Zarentums bis in recht absurde Extreme getrieben worden. Noch heikler waren aber Marx‘ späte Stellungnahmen in den 1870er Jahren zu den Streitigkeiten zwischen den russischen Narodniki (dt. Volkstümlern) und Marxisten – in denen er sich latent auf die Seite der Ersteren und gegen die Letzteren stellte.“

Das muss man sich lebhaft vorstellen: ausgerechnet die heiligen Marxschriften enthielten Passagen gegen jenes Volk, das als erstes die Doktrinen des materialistischen Messias realisieren wollte.

Auch die Deutschen, große Verehrer von Tolstoi, Dostojewski & Co, scheuten sich nicht, ihre Ablehnungsgefühle gegen die unergründlichen Slawen mit heftiger Ablehnung zu artikulieren.

Mit dieser alteuropäischen Kohäsion war nichts mehr anzufangen. Was Neues musste her: „Der Neoeurasianismus ist in den 1990er Jahren entstanden und mittlerweilen von einer kulturellen Erscheinung zu einer politischen Kraft geworden. Auch Alexander Dugin, ein großer Anreger des putinschen Denkens, bezog seine Anregungen nicht aus dem Grasland von Transbaikalien, sondern von den Faschisten in Frankreich, Belgien und Italien. Über die gegenwärtige russische Regierung lässt sich ohne Übertreibung sagen: Sie sind jetzt alle Eurasianer, die sich bemühen, Amerika und den Westen als Gegner darzustellen.“ (Laqueur, Putinismus)

Die Abwendung vom Westen war nur eine Abwendung vom aufgeklärten Westen. Dugins Übernahme westlicher Propheten etwa war eine „Heimkehr“ in die Romantik – in der es heftige Sehnsucht mancher Deutscher nach den Tiefen Asiens gegeben hatte.

„In Asien ist das Licht des Geistes und damit die Weltgeschichte aufgegangen. Asien ist das Weltteil des Aufgangs überhaupt.“ (Hegel)

Gleichwohl geht der Gang des Geistes von Ost nach West. Im Osten beginnt alles, erst im Westen kommt der Geist zu sich. In den Zeiten der Romantik gab es auch viele Deutsche, die es in die Tiefen Asiens zog. Das waren die späteren Russlanddeutschen, die sich im vermeintlichen Ursprung aller Dinge, weitab von der westlichen Hetze nach Mammon und Reichtum, wie im göttlichen Schoß aller Dinge fühlten.

Putins Abkehr von Gorbatschow war eine Abkehr von dessen „westlichen Nachäffereien“. Sein Sprung in den Westen war zu weit gewesen für die erdnahen Russen.

Ob der asiatische Raum Russland als das neue Zentrum der künftigen Weltpolitik betrachten wird, bleibt abzuwarten. Angesichts des chinesischen Konkurrenten ist es nicht sehr wahrscheinlich.

In seinen Kämpfen mit dem Westen war der Osten stets davon überzeugt, „Kinder des Lichts“ zu sein, Europäer die „Kinder der Finsternis“.

Die Eurasianer waren davon überzeugt, dass die Ursprünge des russischen Staats zum großen Teil nicht in Europa, sondern in Asien lagen, dass Russland vor allem durch Begegnung mit Mongolen und Tataren geprägt war. Dass es, vom Westen zurückgewiesen, seine Zukunft in Asien suchen sollte. „Das war sozusagen eine Heirat von Anna Karenina mit Dschingis Khan.“

Merkel und ihre außenpolitischen Experten hielten es für richtig, über all diese Dinge nie zu reden. Von der Altkanzlerin ist der Spruch bekannt, dass Putin aus einem ganz anderen Universum komme. Aus welchem? Wer glaubt, dass Politiker ein waches Sensorium haben sollten, um sich ein sicheres Urteil zu bilden, sieht sich auch hier getäuscht.

Physiker kennen die Gesetze der Natur, präzise Wahrnehmungen der menschlichen Psyche gehört nicht in ihr Repertoire. Die deutschen Medien aber waren angetan von der sachlichen Naturwissenschaftlerin, die Gespräche über Philosophien von Anfang an mit einem Grinsen ablehnte. Was Positivisten nicht berechnen können, halten sie für Schwätzereien.

Obwohl Merkel glaubte, Putin zu durchschauen, hielt sie nichts davon ab, Deutschland in seinem Energiebedarf vollständig von ihm abhängig zu machen. Warum? Glaubte sie, ihn durch blindes Vertrauen am meisten manipulieren zu können? Ich muss mich nur demütig und schwach geben – und schon habe ich den Starken in der Hand?

Merkels Psychologie stammt nicht von Freud, schon gar nicht von Fromm, sie stammt aus dem Evangelium, das alle vernünftige Menschenkenntnis auf den Kopf stellt: die Letzten werden die Ersten sein, wer unter euch der Erste sein will, sei euer Letzter, Gott ist in den Schwachen mächtig.

So gelang es ihr, als Pastorentochter die mächtigste Frau der Welt zu werden – in den Gazetten. Sie hatte das Glück, dass während ihrer Amtszeit globale Rüpel an die Macht kamen, verglichen mit denen sie keine Probleme hatte, immer gut abzuschneiden.

Das ändert nichts daran, dass sie das Land schweigend verkommen ließ. Ihr fehlte die Kompetenz, durch klare Analysen zu erklären, was überhaupt in der Welt vorgeht.

Welchen Eindruck hatte sie beispielsweise von ihren Untertanen, den Deutschen, die sie auf Händen trugen? Warum versank das Land in Schlamperei und Durchwurschteln? Weil es von der besten aller Mütter nie aufklärend angesprochen, ermahnt und ermutigt wurde.

So ergab sich das Lebensgefühl von selbst: lasst alles, wie es ist und läuft: es wird schon in Ordnung gehen. Die „hart arbeitenden“ Deutschen erhielten das Lebensgefühl: wenn wir es Muttern recht machen, kann es nicht falsch sein. Nicht wenige fühlten sich bereits im Paradies. Wo sollte dieses Land gelernt haben, seine Situation wahrzunehmen, um seine Schlussfolgerungen unbestechlich zu ziehen?

Als Frau aus der DDR hatte sie zudem das Gefühl, mit dem Osten besonders vertraut zu sein. Den Westlern traute sie nicht zu, den Osten tiefgründig zu verstehen.

Ein Experte schrieb über die herrschende Klasse in Russland: „In Moskau gibt es eine Kriegspartei, nach deren Ansicht jetzt der richtige Zeitpunkt sei, um dem Westen den Zusammenbruch der Sowjetunion heimzuzahlen und einen großen Teil des alten Einflusses zurückzugewinnen. Diese Kriegslüsternen halten „Brüssel für das Zentrum des Weltfaschismus“.

Der Hass der führenden Klassen gegen die Überlegenheit des Westens ist enorm. Verständlich, dass hohe KGB-Offiziere an die Existenz allgegenwärtiger Feinde glauben. Selbstkritik ist in Russland schon lange außer Mode. „Läuft etwas schief, sind aus russischer Sicht immer Ausländer dran schuld. Das Gefühl, in einer belagerten Festung zu leben, ist in Russland tief verwurzelt.“

Hätte Merkel diese tiefen Blicke in das russische Reich gehabt, hätte sie anders mit Putin umgehen müssen. Aber nie hatte man das Gefühl, dass sie das Bedürfnis hatte, die Psyche eines Landes und seiner Einwohner tiefer verstehen zu lernen.

Hat Merkel Putin ein einziges Mal nach Dugin gefragt? Oder welcher Denker bei ihm den höchsten Eindruck vermittelt habe?

Die folgende Szenerie wäre in Berlin unvorstellbar:

„2013 ließ Putin an alle Gouverneure und hohen Politiker drei Bücher als Weihnachtslektüre verteilen: Berdjajews „Philosofie der Ungleichheiten“, Iljins „Unsere Aufgaben“ und Solowjows „Die Rechtfertigung des Guten“. (Laqueur)

Hat Merkel Putin je danach gefragt, was er mit diesen Büchern bezweckte? Welche Gedanken er für wichtig hielt, um sie in politische Realität zu verwandeln?

Welche Bücher hätte sie verteilt, wenn sie überhaupt auf eine solche Idee gekommen wäre?

Merkels Philosophie war eine religiöse Variante des Marx‘schen Geschichtsdeterminismus: das Sein bestimmt das Bewusstsein.

In Merkels Diktion: nicht der Mensch ist Herr seines Schicksals, sondern Gott. Dem Willen des Allmächtigen hat er sich stets zu beugen.

Fortsetzung folgt.