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Welt retten! Aber subito! IC

Tagesmail vom 21.07.2023

Welt retten! Aber subito! IC,

plötzlich erstarrten die Massen an den Stränden der Urlaubsländer, als sie mit inneren Ohren eine nie gehörte Stimme hörten und – zu Menschen wurden:

„Da leben Menschen, leben schlecht und schwer,
in tiefen Zimmern, bange von Gebärde,
geängsteter denn eine Erstlingsherde;
und draußen wacht und atmet deine Erde,
sie aber sind und wissen es nicht mehr.“
(Aus dem Stundenbuch von Rilke)

„Worauf der Fortschritt stolz ist, sind bloße Erfolge, Machtzuwachs der Menschheit, die er mit Wertzuwachs verwechselt. Macht allein ist blind gegen alle Werte, blind gegen Wahrheit und Recht, blind gegen Schönheit und Leben. Zerrissen und vernichtet für Jahrhunderte, wenn nicht für immer, ist der Zusammenhang zwischen Menschenschöpfung und Erde, vernichtet für Jahrhunderte, wenn nicht für immer, das Urlied der Landschaft.

Unter dem Vorwand von „Nutzen“, „wirtschaftlicher Entwicklung“ oder „Kultur“ geht Fortschritt in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus.

Natur kennt keinen Kampf ums Dasein, sondern nur den aus Fürsorge für das Leben.

Mit Menschheitsgestaltung oder „Humanität“ verschleiert das Christentum, was es eigentlich meint: dass alles übrige Leben wertlos sei.

Der Kapitalismus samt seinem Wegbereiter, der Wissenschaft, ist in Wirklichkeit eine Erfüllung des Christentums, die Kirche gleich ihm nur ein Interessenverband, keine Lehre bringt uns zurück, was einmal verloren wurde. Zur Umkehr hülfe allein die innere Lebenswende.

Die alten Völker hatten kein Interesse, die Natur in Maschinen hineinzuknechten, jetzt fügen wir hinzu, sie hätten es als Verruchtheit verabscheut.“ (Ludwig Klages, 1913)

„Meister Liä Dsi hörte es und sprach lächelnd: Wer behauptet, dass Himmel und Erde untergehen, ist im Irrtum; wer behauptet, dass sie nicht untergehen, ist ebenfalls im Irrtum. Ob sie untergehen oder nicht, ist etwas, das wir nicht wissen können. Die Zukunft versteht die Vergangenheit nicht und die Vergangenheit nicht die Zukunft. Himmel und Erde werden vergehen, zusammen mit uns vergehen. Ob es dann ganz zu Ende ist? Wir wissen es nicht.“ (Liä Dsi, etwa 450 v Chr)

„Flüsse werden ohne Wasserzufuhr bleiben, das fruchtbare Erdreich wird keine schwellenden Triebe mehr hervor bringen, Felder werden nicht mehr prangen im Schmuck des wogenden Getreides. Alle Tiere werden sterben, dass sie nicht mehr frisches Gras zum Äsen finden werden. Auch den Menschen wird schließlich nichts anderes übrigbleiben, als das Leben aufzugeben – und das Menschengeschlecht wird aussterben. Auf solche Weise wird die Erde alsbald wüst und öde werden. Wahrlich, es hat den Anschein, als wolle die Natur das Menschengeschlecht ausrotten, wie etwas Unnützes auf der Welt, das alles Geschaffene nur vernichtet.“ (Leonardo da Vinci)

„Die Menschheit hat an der Erkenntnis ein schönes Mittel zum Untergang. Unsere Wissenschaft geht auf den Untergang, im Ziel der Erkenntnis, hin.“ (F. Nietzsche)

„Geschichte ist zur Farce geworden, zum Selbstmord der Welt.“ (R. Schneider)

Könnte es sein, dass diese prophetischen Stimmen Recht haben? Dass wissenschaftliches Erkennen zum Opium des Untergangs geworden ist?

Die Lärmtrompeten der Gegenwart, die Wirtschaftler, warnen bereits vor dem Absinken der Ökonomie und drohen mit Abgang in ferne Länder. Sie beherrschen die Politik und kennen nichts anderes als das Wachstum der Profite.

Da gab es schon ganz andere Stimmen.

„Es könnte in naher Zukunft der Zeitpunkt kommen, zu dem eine Abnahme der Warenmenge dem Wohl der Menschheit dienlicher wäre als die Zunahme und zu dem man sorgfältig wird unterscheiden müssen zwischen den Waren, die unbedingt notwendig sind und den anderen, die man gut entbehren kann. Man muss hoffen, dass gegenüber dem materiellen Wohlstand andere Werte wieder in den Vordergrund treten.“ (Heisenberg)

„Glücklicherweise gibt es schon viele Anzeichen, dass sich eine neue kulturelle Umwandlung vorbereitet: dass der Machtkomplex durch seine eigenen Exzesse und Übertreibungen machtlos geworden ist. Der Augenblick wird kommen, dass Macht durch Fülle, Zwangsrituale durch Selbstdisziplin, Entpersönlichkeit durch Persönlichkeitsbildung, Automation durch Autonomie ersetzt wird. Wir werden sehen, dass die notwendige Änderung unter der Oberfläche schon seit Hunderten von Jahren im Gange ist und dass die vergrabene Saat einer reicheren menschlichen Kultur nun reif ist, Wurzeln zu schlagen und sprießen, sobald das Eis aufbricht und die Sonne sie wärmt.“ (Mumford, Mythos der Maschine)

„Nur dadurch, dass eine neue Gesinnung im Staate waltet, kann es im Innern zum Frieden kommen; nur dadurch, dass eine neue Gesinnung zwischen den Staaten entsteht, kommen sie zur Verständigung und hören auf, einer dem anderen Verderben zu bringen. Der moderne Staat befindet sich in einer beispiellosen materiellen und geistigen Verelendung. Unter Schulden zusammenbrechend, von wirtschaftlichen und politischen Kämpfen zerrissen, aller moralischen Autorität bar geworden, kaum noch die reale Autorität aufrecht erhaltend, so hat er in immer neuen Nöten um seine Existenz zu ringen. Woher soll er die Kraft nehmen, sich bei dem allem zum wahren Kulturstaat zu entwickeln? Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgendetwas Lebendigem Schaden zu tun. Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.“ (Albert Schweitzer)

Wo sind heute Menschen, die sich solche Worte zu eigen machen? Im Lärm der Presse gibt es heute nur Stimmen, die das Gegenteil hören wollen – um gut unterhalten zu werden.

Das Gesamtrisiko, dem die gelangweilte Menschheit entgegengeht, ist nicht ethisch, sondern gefährlich. Die Kunst, einst in völliger Freiheit zum Aufspüren des Anrüchigen, Verbotenen und Unmenschlichen abgestellt, hat den Umfang des Bösen längst festgestellt.

Es gibt nichts Verwerflicheres als das, was die westliche Menschheit sich in den letzten 500 Jahren erlaubt hat. Es gibt nur noch eine Steigerungsmöglichkeit: die Selbstvernichtung der gesamten Gattung. Dahin steuern wir.

Wo steht Deutschland? Seit der Steigerung des Deutschen ins absolut Verwerfliche und seinem Untergang auf den Schlachtfeldern des zweiten Weltkrieges gibt es kein Deutschland mehr.

Seitdem ist Deutschland zum Musterschüler der Sieger geworden. Es sitzt auf der Bank ganz vorne und winkt wild mit der Hand: Herr Lehrer, ich weiß es. Doch was weiß er? Nur das, was die Vettern aus den USA immer wieder betonen.

Die braven Deutschen haben alles verinnerlicht, was sie gierig zwischen der Ost- und Westküste eingesaugt haben. Oder: sie kennen nur noch Wirtschaft – garniert mit den standardisierten, apokalyptischen Spukgestalten aus Hollywood, der Verkörperung ihrer biblizistischen Alpträume.

Endlose Profite sind die Oblaten ihrer gemeinsamen Geldreligion. Die Schandtaten ihrer Väter kennen sie auswendig, deren Psyche aber ist ihnen bis heute unbekannt.

Immer wieder werden die „großen Gestalten“ der deutschen Denker- und Dichtertradition als Helden der Geschichte hervorgehoben, sei es Hegel oder sonstige Anbeter der göttlich-nationalen Tradition.

Noch immer sind sie Nachahmer, früher des englischen Kapitalismus und der französischen Revolution oder der Machtträume per Technik und Fortschritt. Ihr Fortschritt vollzog sich im Geist:

„Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit.“ (Hegel)

Heute ist geistige Freiheit gestrichen, übrig geblieben sind Rekorde im Export und in der touristischen Eroberung der Welt, die immer mehr zur Auswanderung gerät. Kein deutscher TV-Film ohne die Episode: gehst du mit mir? Im Spätjahr geh ich nach Sumatra, wir beginnen dort ein neues Leben.

Ein neues Leben: das ist der Traum der Deutschen, die ihre Zweithäuser schon überall an der Mittelmeer-Küste verstreut haben.

Ein neues Leben: das war auch der Traum der Deutschen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, damals zuerst als philosophischer Traum.

„Man redet so viel von der Wiedergeburt des deutschen Volkes, und es ist wahr: Wiedergeburt ist das Gesetz der Geschichte. Aber es gibt keine Wiedergeburt ohne Tod. Was sich erneuern soll, muss zunächst sterben.“ (Lütgert, Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende)

Wahrlich, wahrlich, das muss erstmal verstanden worden sein. Deutschland war bereit zum primären Untergang, bevor das immer noch heilige Volk das Dritte Reich aus dem Boden stampfen konnte.

Immer noch im Geist des Gekreuzigten musste das Land seinen primären Niedergang einkalkulieren, um aus den Reserven des Geistes seinen Weltruf zu erneuern.

„Denn im Evangelium liegt ein Trieb, der nach vorwärts drängt, hinaus über jedes bisher erreichte Ziel. Unser Weg führt uns unter allen Umständen vorwärts, auch dann, wenn er uns abwärts führt.“

Wie konnte das deutsche Volk seine beschämende Niederlage nach Verdun verkraften, wenn es keine überirdischen Kraftreservoirs hätte nutzen können, um wieder mit den Muskeln zu spielen?

Jetzt ging es ans Eingemachte. Bloßes Nachäffen des Westens: das brachte es nicht mehr. Was war denn das Ursprüngliche des deutschen Wesens, an dem die Welt genesen sollte?

Es war die Freiheit, aber nicht die Freiheit der politisch Abgenabelten, sondern die lutherische Freiheit eines Christenmenschen – auf kollektiver Basis. Deutschland sollte sich wieder besinnen auf das Beste seiner Tradition – und das war religiös.

Die Freiheit eines Christenmenschen, war das tatsächlich etwas Politisches oder doch nur Religiöses, welches fälschlicherweise zur Politik ernannt wurde? Hätten sie die Franzosen nicht schon längst übertrumpfen müssen, um ihre Freiheit der ganzen Welt zu demonstrieren?

Denn „Luther ist der einzige deutsche Mann der Neuzeit, dessen geschichtliche Wirkung über die Grenzen des deutschen Volkes hinausreicht, d. h., der weltgeschichtliche Bedeutung gewonnen hat.“ (Alle Zitate in Lütgert)

Diese Freiheit war „rein innerlich“. Sie war, trotz aller Radikalität, vereinbar mit der äußersten Fügsamkeit. Ein seltsames Gebilde: innerlich nur Gott verantwortlich, äußerlich jeder beliebigen Obrigkeit.

Diese Freiheit war beliebig verwendbar und insofern jeder bloß kapitalistischen wie der englischen und jeder bloß politischen wie der französischen haushoch überlegen – obgleich die Welt nichts von ihr bemerkte.

Deutschland durfte sich der ganzen Welt überlegen fühlen, aber die Welt musste es nicht bemerken. Sie durften die Hinterwäldler jenseits des Rheins spielen, aber was sie im Sandkasten ihrer Gedanken wollten, durfte ihr Geheimnis bleiben.

Aus dem lutherischen Reich der Freiheit wurde das Reich der Dichter und Denker, das nicht besiegt werden konnte, weil es unsichtbar blieb. Madame de Staël hatte sie nachsichtig so genannt, weil sie bei ihrem Besuch im Zentrum des deutschen Geistes keinen Mann der Tat entdecken konnte. Goethe, der Weltmann, traute sich nicht, sich den scharfen Augen der Französin zu stellen und hatte den treuen Schiller geschickt, um der Dame standzuhalten.

Damals übernahmen die Universitäten die Führung im deutschen Geistesleben, nicht Politik, nicht die technischen Erfinder, nicht die Kapitalisten – die es noch gar nicht gab. Außer Dichtung, Philosophie und Kunst gab es nichts diesseits des Rheines.

Sie flohen in die Kunst, weil sie nicht wussten, wie man Politik betreiben sollte. Da war zu viel Mord und Totschlag, das ertrugen sie nicht in ihrer inneren Freiheit.

Was damals Kunst war, ist heute Wirtschaft. Oder besser, war es bis vor kurzem – bis ihr bester Freund Putin mal sehen wollte, ob sie auch äußerlich reagieren konnten, wenn er sie mal freundschaftlich testen wollte – mit einem kleinen Krieg gegen die Ukraine.

Tatsächlich wollten sie wieder frei und unbefleckt bleiben, indem sie die Freiheit eines Christenmenschen ohne Waffen beweisen wollten.

Hätten das auch diesmal alle Verbündeten akzeptiert, liefen die deutschen Vermittler noch heute mit dem Palmwedel im Ohr in Europa herum.

Was hat deutsche Politik mit der brutalen Realität zu tun? Sie verkauft Autos und die besten Schrauben der Welt – dann macht sie die Türen zu und schaut TV, in deren Talkshows die Deutschen allen anderen Nationen stets haushoch überlegen sind.

Unerwartet ist es anders gekommen, weil die Verbündeten echte Verbündete haben wollten und keine Vorzugsschüler, die immer nur tun, als ob sie dabei wären.

Noch immer fühlen sich die Deutschen allen Verbündeten überlegen mit Ausnahme der Amerikaner, von denen sie hoffen, dass sie ihre kindliche Reinheit auch weiterhin beschützen – weshalb Kritik an den Rettern weiterhin ein Übel ist. Zum Dank verehren sie die amerikanische Musik, als hätten sie sie selbst erfunden.

Ein seltsames Volk, diese Deutschen. Würden sie einmal auf dem Schlachtfeld gänzlich dahinscheiden, wäre ihre psychische Pathologie eine Qual.

Was sich da alles tummelt unter dem Schein des westlich Normalen: die ganze Geschichte der „abendländischen Werte“ als da sind: das Christentum mit dem Glauben, daneben die Antike mit der Vernunft, die – leider – verderbt und getrübt ist, aber immerhin ist es die Vernunft – vor allem die Stoa und Aristoteles, der von ihrem Meister Luther gehasst wurde wie die Pest.

Von Sokrates ist nirgendwo die Rede, seine Erziehung zur Demokratie ist für niemanden von Interesse.

Erasmus, Luthers Gegner, war ein Vertreter der humanistischen Vernunft, sein Motto: Du sollst, also kannst du, ein Motto, das später von Kant übernommen wurde – von deutschen Innerlichkeitsdenkern aber nie.

Als sie sahen, dass sie vom Westen abgehängt wurden, verließen sie ihr Reich des Innern und wurden tatsächlich politisch. Bismarck übernahm den chaotischen Laden und rüstete die großen Denker zu scharfen Militaristen, Wissenschaftlern und Kapitalisten, die das Dritte Reich, von dem sie schon lange träumten, zur schrecklichen Realität werden ließen.

Sie, deren Freiheit vor Gott auch Freiheit vor seinem Gesetz enthielt, marschierten vor der Welt auf wie Götter, und zeigten, wozu Gottes Lieblinge, die die ersten Lieblinge des Herrn ausradiert hatten, fähig waren.

Diesen Anfall in bedenkenloser despotischer Gewalt haben sie bis heute weder verstanden noch bewältigt. Immerzu schauen sie verwirrt, können nicht erklären, was sie tun, wissen es selber nicht, verstummen. Ihre Politiker, hochbelesen, haben schon die ganze Bibel durchgeblättert. Zudem sind sie erfahrene Philosophen, die sich mit ausländischen Gelehrten auf Augenhöhe treffen können.

Welche Erkenntnisse sie aus all ihrem bübischen Wirrwarr gezogen haben, verraten sie uns nicht.

Es wird doch nicht daran liegen, dass der Satz auf sie zutrifft: sie wissen nicht, was sie tun?

Jetzt aber müssen sie ran – ans Klima, sonst werden ihre jungen Protestler ihnen die rasantesten Autobahnen verkleben. Wollen wir das?

Fortsetzung folgt.