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Welt retten! Aber subito! C

Tagesmail vom 24.07.2023

Welt retten! Aber subito! C,

„Die meisten unserer führenden Hochschulen verstehen sich heute besser darauf, technokratische Fertigkeiten und Ausrichtungen zu vermitteln, als die Fähigkeit zum Nachdenken über grundlegende moralische und zivilgesellschaftliche Fragen zu schulen.

Die Betonung technokratischen Wissens dürfte über die letzten zwei Generationen hinweg zum Scheitern der regierenden Eliten und zur moralisch verarmten Terminologie der öffentlichen Debatten beigetragen haben.

Der stärkste Konkurrent … der Vorstellung, wir seien verantwortlich für unser Los und verdienten, was wir bekommen, ist der Gedanke, dass unser Schicksal nicht allein in unserer Hand liegt. Dass wir für unseren Erfolg wie für unsere Probleme in der Schuld stehen, sei es gegenüber der Gnade Gottes, den Launen des Zufalls oder dem Losglück.“ (Michael Sandel, Vom Ende eines Gemeinwohls)

Wer Verletzung der Moral beklagt, ist ein unausstehlicher Moralist. Wozu brauchen wir Moral, wenn wir ein gut funktionierendes Wirtschaftssystem haben, in dem Geld die Moral ersetzt?

Europa driftet nach rechts, was bedeutet, es verrät die Demokratie. Demokratien können nur durch stabile, sich nicht widersprechende Moralgesetze entstehen und lebendig bleiben.

Wer allgemeine Gesetze missachtet, hat kein Interesse an lebenstüchtigen Gemeinschaften. Er sucht ein Leben mit Vorteilen für sich und – mit Abstand – für seine Sippe.

Du sollst nicht lügen, du sollst nicht stehlen, sind Regeln für alle. Nicht, um alle zu drangsalieren, sondern um mit ihnen friedlich zu existieren. Wer solche Elementarregeln missachtet, ist asozial und verachtet das Psychonetz des Zusammenlebens.

Wir stehen am Anfang der Sippen- und Gruppenbildung, die sich inzwischen zu riesigen Demokratien ausgeweitet haben. Kenntnisse der Frühe sind nicht mehr die Kenntnisse von heute, die aus der Moral nur jene Regeln übernehmen, die sie zum Überleben ihrer eigenen Persönlichkeiten benötigen.

Die Existenz der Menschheit ist – durch Verderben der Natur und des Klimas – in Lebensgefahr. Zu den Mitteln der Selbstbeschädigung gehören auch die moralischen Regeln des Zusammenlebens – die man zerstören muss.

Du sollst nicht lügen, sonst zerfällt das stabile Netz der Zusammengehörigkeit. Je öfter gelogen wird, je brüchiger werden die Regeln der Verlässlichkeit und der gegenseitigen Hilfe.

Die EU droht, aus einer Gemeinschaft gleicher Staaten zu einer Hobbes’schen Räuberbande zu werden. Warum? Weil immer mehr Staaten nach rechts driften, ergo die Grundregeln der Moral missachten.

Es sind eben jene Regeln, die sie ihren Kindern, nicht selten mit Gewalt, einbläuen, weil sie es hassen, durch Lügen oder Stehlen hinters Licht geführt zu werden.

Der Akt der Erziehung besteht in allen modernen Staaten darin, zwei moralische Systeme zu etablieren, die nicht verträglich miteinander sind. Kinder werden mit Regeln erzogen, die sie als Erwachsene verachten sollen. Erziehung ist demnach eine kollektive Fallenstellerei.

Kommen die Kinder nämlich an das Ziel ihrer Erziehung, werden sie von ihren Autoritäten feixend empfangen: Was, ihr habt wirklich geglaubt, was wir euch befohlen haben? Habt ihr denn nicht gemerkt, wie die Welt wirklich ist?

Verlässliche Freunde sind Mangelware, dem homo normalis muss misstraut werden. Die wirkliche Währung des sozialen Kitts ist Geld.

„Getrieben von den Rechtspopulisten glichen sich die Konservativen ihrem Stil an: Sie logen so oft, dass man den Eindruck gewinnen konnte, die Wahrheit habe keine Bedeutung mehr. Vor der Abstimmung säten sie Zweifel am Wahlergebnis, nicht einmal, sondern immer wieder.“ (SPIEGEL.de)

Warum driftet Europa nach rechts? Weil viele Europäer die Klippe zum bedenkenlosen Amoralismus der erwachsenen Welt nie ganz überwinden. Sie schwanken lebenslang zwischen der moralischen Reinheit ihrer Jugend und der Nötigung zur Verschlagenheit der eigenen Rede und des eigenen Tuns.

Da sie spüren, dass ihre Mächtigen sie unregelmäßig, aber viel zu oft, anlügen, sie gleichzeitig aber nicht die Kraft besitzen, ihre Kritik öffentlich zu äußern – weil sie fürchten, als kindisch denunziert zu werden –, äußert sich ihre Ablehnung durch Fremdgehen.

Sie wählen nicht länger ihre angestammten Parteien, sondern bevorzugen jene Kräfte, die diese angreifen. Wüssten sie, was sie tun, würden sie sich an den Kopf greifen: was mach ich da, ich Dummkopf? Ich halte diese Rabauken von ganz rechts doch selbst für unannehmbar? Warum tue ich, als würde ich sie beim nächsten Urnengang bevorzugen?

Mit anderen Worten: sie sind unfähig, ihre Kritik unmissverständlich und couragiert zu äußern. Was mit der bigotten Atmosphäre ihrer Erziehung, vor allem an ihren Schulen, zusammenhängt.

Wenn sie dieser politischen Zweideutigkeit oder gar Enthaltsamkeit entfliehen und mit Getöse Stellung beziehen – wie heute gegen die Laschheit der Berliner Regierung in Klimafragen –, werden sie nicht nur gescholten, sondern gar kriminalisiert.

Da ihre Gegenseite schuldig ist an der ökologischen Suizidgefahr, da jene schummelt, lügt und betrügt, ist ihr Widerstand kaum der Rede wert. Ist es denn nicht immer so? Warum hier so viel Unwesen treiben wegen des politischen Normalstandards?

Die deutsche Schule war nicht immer im Zustand der durchgängigen Doppelmoral. Der pädagogische Schrecken begann, als Bismarck die Deutschen antrieb, den Rückstand zum Westen aufzuholen. Das war das Ende der alten beschaulichen und allein der klassischen Bildung verpflichteten alten Schule.

Der Methodenbruch fand statt um etwa 1850, als die Vertreter der neuen Fächer wie die Naturwissenschaftler und Mathematiker forderten, die Schule den neuen Anforderungen anzupassen. Zwei gigantische europäische Richtungselemente prallten aufeinander: der antik gestimmte Idealismus der Deutschen und die technische Fortschrittseuphorie des Westens.

Wozu lateinisch und griechisch sprechen, wenn man nichts von Newton erfährt? Warum noch immer Euklid im Rechenunterricht, wenn die Mathematik schon viel weiter war?

Die Schule wurde auf den Kopf gestellt: „Denn das ist der Charakter der modernen Wissenschaft, dass für sie alles historisch wird. Die geistige Kraft wird durch einen unverdauten geschichtlichen Stoff belastet. Die Jugend erscheint sich als Spätling und Epigone. Statt eigener Überzeugungen haben sie nur noch Erinnerungen an einstige Überzeugungen vergangener Geschlechter. Die „Objektivität“ der Historiker löscht die individuelle Persönlichkeit aus, anstatt sie zu stärken. Wir müssen ständig memorieren und gehen an dem geschichtlichen Stoff zugrunde.“ (Lütgert, Das Ende des Idealismus im Zeitalter Bismarcks)

Wie ist es heute? Historiker betrachten sich als führende Erklärer des Gewesenen. Den Zusatz nicht zu vergessen: dass man lernende Geschichte heute nicht mehr lehren könne. Denn vergangen ist vergangen.

Diese Experten des Vergangenen verbieten es, aus ihren Fächern etwas für die Gegenwart zu lernen. Geschichte wiederhole sich nicht. Zu den Experten des Früheren gesellen sich heute die Medien, die sich aus allem Verstehen und Erklären des Tatsächlichen heraushalten. Unter dem absurden Vorwand einer Objektivität, die so tut, als müsse sie ihre tiefen Erkenntnisse verbergen, um ihr Publikum nicht zu sehr mit parteiischer Weisheit irre zu führen.

Es entstand die neue Schule mit Kenntnissen importierten Wissens und Altlasten der klassischen Bildung.

„Diesem Bildungsideal verdanken wir die berechtigten Klagen über die Überlastung der Jugend. Die Last der Jahrtausende liegt auf uns und erdrückt die selbständige Persönlichkeit. Der überkommene Reichtum macht arm, weil er uns nötigt, nicht wir selbst zu sein. Geistige Arbeit sinkt zum Memorieren hinab, die geistige Beweglichkeit wird gehemmt, die Individualität unterdrückt. Die deutsche Nation ist geistig verarmt. Die Klage kommt auf, Gymnasien seien zu Dressuranstalten für die Zwecke des Staates geworden.“

Diese Klage gibt es heute noch: Schulen sind Dressuranstalten nicht für Zwecke des unfähigen Staates, sondern für die der kapitalistischen Industrie.

„Der Verderb der deutschen Schule lag allerdings lag nicht in einem Studium der Bildung, sondern einem des Broterwerbs, das nicht aus Bildungseifer entsprang, sondern der Lebensnot. Heute würde man sagen, dem unerbittlichen Wettbewerb der führenden westlichen Staaten.“

Der „Charakter der Fabrikarbeit überträgt sich auf die Schule. Statt dass der Mensch gebildet wird, wird er zum Handwerker und zum Werkzeug. In Wirklichkeit erzieht die Schule aber nicht Gelehrte und auch nicht Gebildete, sondern das Gegenteil von beiden – Journalisten.“

Wie ist es heute? Der Tagesreporter hat sich dem Positivismus unterworfen, und liefert nur noch nackte Tatsachen. Dass dieselben eingebettet sind in historische Zusammenhänge, verstehen sie nicht. Weil sie keine Rechenschaft ablegen wollen über ihre oberflächlichen facts.

Was will die neue Schule? „Sie will die Erzeugung des Genies, es ist das unbewusste Ziel der Natur. Sie will den Genius, aber sie erreicht ihn nur selten.“

Da Genies selten sind, jagt die Schule einsam den künftigen Leitsternen der Naturwissenschaft hinterher. Damit wird das Endziel der Bildung verfehlt. Nicht jeder Mensch soll erreichen, wozu er selbst in der Lage ist, sondern nur die Himmelsgeister der Genies sollen am Ende ihre Bescheinigungen erhalten.

Was ist das Ergebnis dieser Geniesuche? „Die höhere Bildung scheidet das Volk in zwei Kreise, von denen der obere sich durch inhumanen Hochmut vom Volke scheidet.“

Was heute noch oft von den Medien bestritten wird, war damals ein offenes Geheimnis: Bismarcks neuer Staat war ein gespaltenes Klassen-Gebilde aus Oben und Unten. Die beiden Schichten trennten sich immer unversöhnlicher.

War es früher so, dass „die Schuljahre glücklich waren“, änderte sich allmählich das Ganze. Der bewährte Grundsatz non multa sed multum (nicht vielerlei sondern viel) wurde verlassen, ja in sein Gegenteil verkehrt.

„Hinzu kam ganz neuer Versetzungs- und Zeugnisunfug. Der Durchschnitt der Schüler stand unter dem Druck beständiger Angstgefühle, durch welche die Jugend überlastet oder abgestumpft wurde.“

Heute ist die Schule zur Institution der Versagensangst geworden. Lernen ist auf keinen Fall mehr ein neugieriges Kennenlernen, sich Meinungen bilden und streitig auf dem Marktplatz durcharbeiten.

Hinzu kommen ständig neue KI-Erfindungen, hinter denen die Schüler her rasen müssen. Da alles auf Wettbewerb der Nationen beruht, steht das Lernen der KI auf hektischen Füßen. Wenn selbst die Lehrer kaum Bescheid wissen über die Abgründe der Maschinen, kann Lernen nichts mehr mit Muße zu tun haben.

Was war früher das Ergebnis der neuen Reform?

„Die allgemeine Unzufriedenheit mit der Höheren Schule verdarb den Erziehern wie der Jugend die Freude an ihrer Arbeit. Burckhardt nannte das deutsche Schulwesen eines der schlechtest rentierenden Geschäfte. Insofern man von dem Gelernten so ganz unglaublich weniges behält und wirklich braucht. Hieraus hat sich ein Missverhältnis zwischen Gymnasium und der wirklichen späteren geistigen Richtung gebildet, welches wohl einmal mit einer Katastrophe endigen könnte.“

Äußerlich sieht es besser aus heute. Die Hauptsprache, die man in der Schule lernt, kann man in der ganzen Welt benutzen. Und ohne Intelligenzmaschinen kommt man nicht durch das kleinste Provinznest.

Doch das ändert nichts an der psychischen Lage der meisten Schulkinder. Schule erleben sie nur als angsterregende Einrichtung bloßen Wissens: „Die persönlichen Eigenschaften des Lehrers sind für sein Amt gleichgültig. Auch ein inwendig auf schwerste beschmutzter Mensch kann Lehrer sein. Vom inwendigen Leben des Kindes bleibt alles unberücksichtigt. Und dass das Kind einen sittlichen Willen hat, wird von der Schule nur dann beachtet, wenn die Äußerungen seines Willens unmittelbar den Betrieb der Schule stören. Jedes Kind soll in gleicher Zeit gleich viel lernen. Aus der Unnatur dieser Gleichheit entsteht für die Tüchtigen die Langweile oder Zeitvergeudung, für die Schwachen die Belastung mit einem Anspruch, an dem sie erlahmen.“

Summa: „Die ausgedehnte Pflege der Lüge im Schulbetrieb ist unvermeidlich, weil der Verkehr lieblos bleibt, da dem Lehrer lediglich die Übermittlung eines gewissen Wissensstoffes aufgetragen ist.“

Damit haben wir, was heute Normalität ist: die Lüge, das geistlose Repetieren von Stoff, den man nie brauchen wird. Was man bräuchte, kommt zu kurz. Die FFF-Bewegung ist nicht von Schulen motiviert worden.

Nach welchen Kriterien werden gute Schüler bewertet? Ein Vorzeige-Abiturient erklärt:

„Auf jeden Fall sind die Naturwissenschaften der Schwerpunkt. Das liegt an meiner großen Liebe für die Wissenschaft und meinem großen Interesse, immer mehr zu lernen, vielleicht sogar dann später einen Beitrag für die Wissenschaft leisten zu können. Aber auch die anderen Fächer haben mich immer interessiert, zum Beispiel Philosophie, Geschichte und Politik.“

Tja gewiss, Politik, Geschichte und Philosophie. Doch kein Satz darüber, was der Preisgekrönte damit anfangen will.

Was bleibt? Aufstieg, Karriere, Naturwissenschaften. Völlige Blindheit und Kritiklosigkeit gegenüber der Gegenwart.

Churchill soll das Schlusswort haben:

„Schließlich befriedigt dieser materielle Fortschritt, so glänzend er auch an sich ist, nichts von dem, was das Menschengeschlecht wirklich braucht.“ (1932)

Fortsetzung folgt.