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Warner und Propheten

Hello, Freunde der arabischen Revolution,

wenn Deutsche vor allzu hohen Erwartungen warnen etwa bei der arabischen Revolution warnen sie eher vor der Revolution als vor den Erwartungen. Warnungen auszustoßen ist zur Lieblingsbeschäftigung einheimischer Kommentatoren geworden. Früher hätte man sie Propheten genannt.

Propheten sollten das Volk vor nahendem Unheil warnen. Hörte das Volk nicht auf die Warnungen, war es an seinem Unheil selber schuld. „Wenn einer den Schall der Posaune hört, lässt sich aber nicht warnen und es kommt nun das Schwert und rafft ihn hinweg, so kommt sein Blut über sein eigenes Haupt.“ (Hesekiel)

Michael Stürmer, emeritierter Professor für Geschichte, ist ein Warner der Extraklasse, der eine weite Sicht über viele Jahrhunderte mit einem scharfen Blick für die Gegenwart zu verbinden weiß obgleich man aus Geschichte nichts lernen könne. Stürmer steht auf dem Turm und warnt vor allzu hohen Erwartungen deutscher Schwärmer und Gutmenschen, wenn sie in die Welt schauen und die Menschheit bereits im Stadium des Friedens und der Demokratie erblicken.

Zum Argwohn geboren, zum Warnen bestellt, dem Turme geschworen, so sieht Stürmer die Welt (in der WELT). Das ist der diskrete Charme der Konservativen, dass sie den Menschen in seiner Krätze durch und durch kennen. Zweifeln ist gut. Am Menschen zweifeln ist das höchste Glück der Menschenverächter. Wenn‘s schief geht, obwohl sie vor Überheblichkeit warnten, werden

Unheilspropheten selig gesprochen.

Überheblichkeit beginnt bei der geringsten Distanzierung vom Menschen als geborenem Bankrotteur oder Geschichtsversager. Jeder Glaube ist selbsterfüllende Prophezeiung. An den Menschen als friedensstiftendes Tier darf man nicht glauben, da die Gefahr droht, der Mensch könne besser und humaner sein als von heiliger Seite geduldet.

Man glaubt an einen Gott, um sich dem Glauben an den Menschen zu widersetzen. Glauben an den Menschen heißt, ihm ein Grundvertrauen entgegenbringen, das durch Kritik überprüft und gestärkt werden kann. Beim Glauben an einen allmächtigen Gott ist man auf der sicheren Seite. Dieser Glaube kann in Ewigkeit nicht widerlegt werden. Denn Nichtexistentes ist unwiderlegbar. In Zukunft könnte es sich noch immer als existent herausstellen.

Jeder Glaube an Gott ist ein Verrat am Menschen. Dem Menschen entzieht es das Vertrauen, das ihm gebührt und überträgt es auf ein unsichtbares Wesen. Würden alle Menschen an alle Menschen glauben, hätten wir auf der ganzen Welt bayrische, also vorparadiesische Verhältnisse. Der Gottesglaube entzieht dem Menschen jene Energie des Vertrauens, die der Einzelne braucht, um seinem Mitmenschen ein Mensch zu sein.

Nur Taten können unter die Lupe genommen werden, Gesinnungen müssen sich zu Taten ent-äußern, damit sie sichtbar und überprüfbar werden können. Dieser Prüfung entziehen sich Erlösungsgläubige mit der genialen Unterscheidung von sündigen und vollkommenen Taten die sie erst im Himmel vorweisen können. Jede Kritik an Christen prallt an ihrer Demutsgeste ab: sind wir doch allzumal Sünder vor dem Herrn und ermangeln des Ruhms vorbildlichen, ansteckenden oder gar begeisternden Verhaltens.

In unseren besten Taten steckt der Virus der Bosheit. Auf Erden sind wir zur Unvollkommenheit verdammt. Jede Unheilswarnung dient als selbst ausgestellte Erlaubnis zur mangelnden Verbundenheit mit den Menschen, die sich zu 99,9% redlich bemühen, den Planeten bewohnbar zu halten.

Die gravierenden Fehler der Menschheit beruhen nicht auf irreparabler angeborener Bosheit der Menschen es bleibt die ökologische Ursünde und ein ungeheurer Skandal, das Naturwesen Mensch für unveränderbar böse zu halten , sondern sind Folgen von Irrungen und Wirrungen, die man ihnen seit Jahrtausenden eingebläut hat und die sie sich haben einbläuen lassen.

Am Anfang waren die Irrungen harmlos und jederzeit korrigierbar. Wurden sie über viele Generationen weitergegeben, potenzierten sie sich an bestimmten Stellen des Menschengeschlechts zu schrecklichen Menschheitsverbrechen.

Dennoch müssen wir das Furchtbarste in seiner langen und unübersichtlichen Entstehung zu entwirren suchen, um den jetzigen Anfängen bei Kindern und Jugendlichen zu wehren und uns selbst besser zu verstehen. Wer nicht an den Menschen glaubt, verrät die Gattung Mensch und ihre Fähigkeiten zum friedlichen Miteinander.

Der Unglaube an den Menschen ist ein Anschlag auf das gesamte Menschengeschlecht. Der Anschlag raubt dem Menschen alle guten Fähigkeiten und schreibt sie dem Gott zu, während alle schlechten dem Menschen überlassen werden, um ihn zu vernichten.

Dennoch garantiert das Grundgesetz die Freiheit jedes Glaubens, selbst eines Glaubens gegen den Menschen und seine Fähigkeit zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Müssten solche terroristischen Glaubenssysteme wider Mensch und Welt nicht strikt verboten werden?

Durch Verbote sind noch nie Erkenntnisse entstanden. Aufklärer glauben an die Lernfähigkeit ungegängelter Vernunftwesen. Die meisten Menschen, die sich Christen nennen, sind Humanisten und keine Christen. Sie wissen gar nicht, was Christsein bedeutet. Aus Angst und Feigheit schauen sie nicht in ihre heiligen Bücher. Sie ahnen, dort könnten Dinge stehen, die ihnen die Haare zu Berge stehen lassen. Lieber glauben sie ihren Oberhirten, die ihnen nach Belieben vorschwindeln, was die Frohe Botschaft sei: immer das Neuste und Progressivste aus dem Supermarkt der Moderne.

Die Menschen des christlichen Westens haben keine andere Wahl, als sich Christen zu nennen. Alternative Selbstbezeichnungen sind ihnen unbekannt. Außer Christentum kennen sie nichts. Würde man sie fragen: Sind sie Platoniker, Stoiker, Epikuräer, Vorsokratiker, Kantianer, Naturgläubiger, Spinozist, müssten sie passen. Was anderes als die Frohe Botschaft von der ewigen Verdammnis der meisten Menschen ist ihnen unbekannt.

Der christliche Staatsglaube der letzten zwei Jahrtausende hat den Gläubigen derart borniert gemacht, dass er außer Glauben an ein allmächtiges Männer-Credo nichts mehr kennt. Es ist Selbstbeschimpfung oder Selbsterniedrigung, wenn Moralisten sich genötigt fühlen, sich als Christen auszuweisen. Ihrem Verhalten nach haben sie das Christsein längst überwunden und bekennen sich zu Menschen- und Völkerrechten, die im heidnischen Griechenland erdacht wurden.

Bis vor kurzem hassten alle Kirchen die neumodische Erfindung der Menschenrechte. Erst in den 60ern erbarmten sich die Protestanten und fälschten Demokratie um zur Gabe des Heiligen Geistes, was dieser bis dahin als Ungehorsam vor Gott verdammt hatte.

Die Zeitgenossen verkaufen sich weit unter Wert, wenn sie sich als Christen vorstellen. Fälschlicherweise vermuten sie unter Christsein die höchste Moral, die es auf dem Erdenrund gibt. Dennoch gilt: obgleich sie sich in ihrem privaten Leben lange nicht mehr fundamentalistisch-intolerant geben, sind sie als Mitglieder des westlichen Kulturkreises ohne es zu ahnen noch immer christlicher, als sie es je sein wollten.

Das System des Westens in Wirtschaft, Technik und Allmachtsbesessenheit ist die Transformation der Heilsgeschichte in profane Geschichte. Das Heil wurde System und wohnte unter uns als Kapitalismus, NSA, Arbeitszwang, Lust- und Paradiesverbot und selbstgerechte Religionskriege gegen alles, was sich der Dominanz des Westens widersetzt.

Wer nicht für Wirtschaftswachstum ist, muss mit Drohnen oder Verhungern rechnen. Wer Internet verschmäht, wird als letzter Indianerstamm im brasilianischen Urwald von riesigen Traktoren und Planierraupen nivelliert und vertrieben. Wer seine Rohstoffe nicht ausbeuten lässt, wird von westlichen Konzernen zum Teufel gejagt.

Der Glaube an den Menschen ist kein Glaube an ein allmächtiges Wesen. Jedes Vertrauen in den Menschen muss sich kritischer Prüfung stellen. Professor Stürmer glaubt aus der Geschichte zu wissen, dass der Mensch ein erbärmliches Wesen sei. Wer diesen menschenverachtenden Glauben nicht teilt, der wird von Stürmer gewarnt, er sei ein blauäugiger Idealist, der mit seinem Glauben an den Menschen in bester Absicht mehr Unheil anrichte als er wahrhaben könne.

Diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, aber nur, wenn man zwischen Beglückungsträumen und Beglückungszwängen nicht unterscheiden kann. Letzteres ist Faschismus. Jeden Verbesserer der Menschheit von vorneherein als Faschisten einzustufen, ist mehr als empörend: es ist ein Fehler. Wie kann man einen jungen Menschen ermuntern: verwirkliche deine Träume, wenn realisierte Träume per se faschistische sein sollen?

Parteien sollen unter dem Gesichtspunkt gewählt werden, welche von ihnen das Los der Gesellschaft optimaler verbessern kann. Gleichzeitig gilt jeder Verbesserungsversuch als totalitär. Wen wundert es, dass die Parteien das Blaue vom Himmel versprechen mit der subkutanen Botschaft, dass sie bestimmt nichts verbessern werden. Sie werden die Verhältnisse verändern, indem sie garantiert alles beim Alten lassen.

Wären Politiker klüger als sie zurzeit sein dürfen, müssten sie sich gegen die vielen Fallen wehren, mit denen Volk und Medien sie regelmäßig zur Strecke bringen. Längst wäre ein nationales Streitgespräch zwischen Gewählten und Wählern fällig, in dem die gestörte Kommunikation zwischen Oben und Unten aufgearbeitet werden müsste.

Sind Parteien zu schwammig, bringen sie keine „klare Kante“; sind sie klare Kante, werden sie als utopisch oder radikal abgelehnt. Sind sie kompromissfähig, werden sie als machtversessen abgestempelt, sind sie kohabitationsunwillig wie lustfeindliche Jungfrauen, werden sie als politikunfähig gebrandmarkt. Wie‘s die Gazettenquote von Woche zu Woche gerade erforderlich macht.

Deutsche Warner geben selten zu erkennen, auf welcher Seite der Konflikte ihr Herz schlägt. Fast immer sind sie konform mit der Macht, die sich am Ende durchsetzt. Sie wollen nicht aufs falsche Pferdchen gesetzt haben, wenn die Guten wieder einmal das Nachsehen haben. Wenn die Grünen einige Punkte verlieren, haben sie keine Fehler gemacht, weil sie Fehler gemacht haben, sondern weil sie den erhofften Erfolg nicht erzielten.

Das Richtige und Falsche ist identisch geworden mit Erfolg und Niederlage. Schau auf deine Zahlen und du weißt, ob du die richtige Politik betreibst.

Natürlich können deutsche Warner sich nicht mit demokratischen Volksbewegungen solidarisieren. Sie liefen ja Gefahr, sich mit Losern identifiziert zu haben. Deutsche wollen in ihren prophetischen Vorhersagequalitäten bestätigt werden, gleich, ob die Sieger ihren Ansichten entsprechen werden oder nicht. Wer wird denn so parteiisch sein, immer denen den Sieg zu wünschen, deren Sieg man wünschen müsste. Propheten stehen über den Parteien und machen sich mit keiner Sache gemein, nicht mal mit der guten.

Es kann niemals falsch sein, sich für Menschenrechte und Demokratie in der ganzen Welt einzusetzen. Selbst auf die Gefahr hin, dass die unterstützte Bewegung „verspielen“ sollte. Geschichte ist kein Lotteriespiel, das man per Zufall gewinnen oder verlieren kann. Will die Menschheit ihre Geschichte selbst gestalten, müssen diejenigen unterstützt werden, die sich auf der Seite der Menschenrechte befinden und nicht diejenigen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit siegen werden.

In der Wirtschaft wird allenthalben zum Risikoverhalten ermuntert, ohne Risiko könne es keine Profitmöglichkeiten geben. In moralischen Dingen darf es keinerlei Risiken geben. Eher werde ich Parteigänger der Macht, als Unterstützer machtloser Moral.

(Michael Stürmer in der WELT)

In Tunesien hat die demokratische Bewegung trotz vieler Unkenrufe sich weiter stabilisiert. Sollte „der Araber“ sich wider alle Erwartungen als demokratiefähig erweisen? (Reiner Wandler in der TAZ)

Fast die gesamte deutsche Journaille steht unter Prophetiezwängen. Was erwartet uns? Was kommt auf uns zu? Diese zukunftsvoyeuristischen Fragen beherrschen jedes Interview. Nicht die Frage, was sich unter demokratischen Vorzeichen durchsetzen sollte. Sondern vor allem der Aspekt, auf welcher Seite die größten Bataillone stehen.

Wie viele Bataillone hat der Vatikan, soll Stalin gefragt haben. In diesem Sinn ist die deutsche Presse stalinistisch verseucht. Es geht ihr selten um moralische Norm, meistens um Darwin‘sches Überleben des Stärksten. Welche Moral soll sich durchsetzen? Nicht, welche Moral wird sich wahrscheinlich durchsetzen, weil sie die besten Kanonen zur Verfügung hat.

Wer sich als Prophet versteht, kann seine eigene Moral hinter „objektiven“ Aspekten verstecken. Unter Objektivität wird die Macht verstanden, die sich vermutlich durchsetzen wird. Es ist moralische Feigheit der Presse, sich zu keinem Standpunkt zu bekennen, der verlieren könnte. Würde die Sache ihrer moralischen Wahl verlieren, hätte sie sich so die Prophetenschreiber als falsch erwiesen. Das aber ist das Kriterium von Geschichtsmitläufern, nicht von stabilen und überzeugten Kämpfern für Demokratie.

Die Prophetisierung ihres Gewerbes entlarvt die Tagesschreiber als Gläubige einer eschatologischen Heilsgeschichte. Unabhängig davon, ob ihnen diese Glaube bewusst ist. Ein Trugsschluss, dass nach der Säkularisierung die Heilsgeschichte sich in eine neutrale, objektiv verlaufende Zeit umgewandelt hätte.

Der Alttestamentler Gerhard von Rad: „Auch nach der Säkularisierung unseres Welt- und Geschichtsbildes ist die Vorstellung von der Zeit in irgendeinem Sinne eschatologisch geblieben, als ginge die Menschheit auf irgendeine endgültige Erfüllung zu. Selbst der Nihilismus weiß sich in diesen Zeitstrom gestellt. Gerade die Verkümmerung der christlichen Vorstellungen und andererseits das Verbleiben einer entleerten eschatologischen Zeitvorstellung machen dem säkularisierten Menschen seine Existenz so problematisch.“

Von Rad hat den Unterschied zwischen Amerikanern und Deutschen übersehen:

Amerikaner wissen, dass sie in der Endzeit leben. Sie wollen in der Endzeit leben. Sie sind überzeugt, dass die Mehrheit der lebenden Amerikaner die Wiederkehr des Messias persönlich erleben wird.

Deutsche erleben objektiv dieselbe Zeit, beteiligen sich aktiv an der Realisierung apokalyptischer Sehnsüchte doch ohne jegliches Bewusstsein von dem, was sie tun und treiben.

Bewusst sind die meisten Deutschen keine Christen, sondern human sein wollende Menschenrechtler und Demokraten. Unbewusst sind sie identisch mit christlichen Tiefenstrukturen, die die Moderne mit wirtschaftlichen und technischen Mitteln in den apokalyptischen Abgrund treiben wird.

Den Buchstabengläubigen aus Amerika fühlen sie sich haushoch überlegen, weil sie sich für aufgeklärt halten. Dabei wissen sie weniger, was sie tun, als die wiedergeborenen Vettern in Übersee.

Propheten sind Empfänger göttlicher Wahrheiten, die sie dem Volk in ultimativer Strenge mitteilen müssen. Wer sich der Botschaft widersetzt, den ereilt die Strafe des Himmels.

Poppers Ruf, Demokraten brauchen keine Richter und Propheten, hat die Deutschen nie erreicht.