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Walpurgis-Kapitalismus

Hello, Freunde des Walpurgis-Kapitalismus,

Erster Mai, Walpurgisnacht, orgiastischer Ritt der Hexen. Da loderten Feuer, mit denen man böse Geister verbrannte. Vor kurzem noch verglühten im Berliner Stadtteil Kreuz-berg Luxuslimousinen, die rasenden Tempel der Kapitalisten auf vier Pneus.

Pneu-matik ist Einsatz von Druckluft in Wissenschaft und Technik. Pneu-matiker sind, nach Paulus, Geist-begabte. „Meine Rede und meine Predigt bestand nicht aus überredender Weisheit, sondern aus Pneuma und Macht.“ Überredende Weisheit – sophia – war griechisch-philosophisches Teufelszeug; Paulus bevorzugte die Demonstration von Macht, durch Erweis einer göttlich beglaubigten Druckluft- oder Blasebalg-Offenbarung. Theologen sprechen von Pneumatologie, der Lehre vom Heiligen Geist. Wer hören will, der höre.

„In Dalmatien waren Hexen krstaca, Gekreuzigte. In Anlehnung an Christos“.

„In früheren Zeiten hatten die ältesten Frauen eines Clans die politische Macht inne. Doch die patriarchale Religion verdrängte sie aus dieser Position. Man bezeichnete sie als Hexen, um sie zu vernichten. Der Geist der Kirche, der sich in den Paulinischen Briefen und in den fünf Büchern Mose in seiner ganzen Frauenverachtung zeigt, der Hass der Kirchenväter, der in ihren kanonischen Schriften und in den Dogmen des Asketentums, in Zölibat und Hexenglauben festgeschrieben ist, hat des Mannes Achtung vor Frauen zerstört und das Verbrennen, Ertränken und Foltern von Frauen zum Recht erhoben. Christlichen Missionaren wurden die Frauen zu

Zielscheiben des Hasses.“

Hat sich heute irgendwas geändert – außer, dass Frauen nur noch psychisch geröstet werden? Dass man sie für dumm, unkreativ, überfordert, humorlos, irrational, karriere-untauglich, führungs-unfähig, mangelhaft ehrgeizig, kinderfixiert, rabenmutterhaft, überbemutternd, zu viel liebend, männerhassend, sozial-sentimental, heimchenhaft, herdfixiert, zickig, prüde, lüstern, hurenhaft und technisch-wissenschaftlich unbegabt hält?

Bei Heidi Klum haben Kandidatinnen sich sklavisch Männerbedürfnissen unterzuordnen. Mit wildfremden Männern müssen sie flirten, schmusen und knutschen. (Im Puff verweigern aufrechte Huren intimes Küssen.)

Die 17-jährige Anuthida klagt: „Ich kann nicht heiß aussehen. Es ist mir unangenehm, mit einem Fremden Körperkontakt zu haben.“ Doch Sklaventreiberin Heidi befiehlt in weiblichem Selbsthass: „Wer ,Germany’s Next Topmodel‘ werden will, darf sich keine Schwächen erlauben.“ (BILD)

In geheuchelter Abscheu unterstützt BILD die kollektive Gruppenvergewaltigung vor aller Augen im deutschen Fernsehen. In Indien werden Frauen körperlich, in Deutschland nur psychisch geschändet. Schließlich sind wir ein kulturell hochstehendes, christliches Land. Waren wir nicht einst Meister im Hexenverbrennen?

Müssen die jungen Frauen bei ehrenwerten Gentlemen von PRO SIEBEN sich auch noch hoch-schlafen? Gilt ihre persönliche Moral nichts? Müssen sie demnächst im Supermarkt klauen, auf der Straße fremde Kinder prügeln, Obdachlose und Bettler öffentlich als Loser beschimpfen, bei Nacht und Nebel Flüchtlingsheime anzünden?

Ein Mensch darf sich keine Schwächen erlauben – und kein pneumatischer Shitstorm fegt die faschistoide Heidi davon? Im Gegenteil. Wir sehen gelebtes Christentum als national-obszöne Exhibition: Glorifizierung und Deifizierung des Menschen durch schamlose Selbsterniedrigung.

Die Bibelstelle, auf die sich die jahrhundertealte Hexenverfolgung stützte, lautet: „Eine Hexe sollt ihr nicht am Leben lassen.“ Charismatisch übersetzt: Hexen sollt ihr öffentlich erniedrigen – bis sie sich gegenseitig ankotzen und die Augen auskratzen.

Warum tun junge Frauen sich das an? Weil die männerdominierte Gesellschaft es will. Noch immer gehorchen Frauen den phallischen Feuerteufeln. Warum denn nur? Was für eine dämliche – pardon, männliche Idiotenfrage! Aus nie überwundener Todesangst. War‘s nicht erst gestern, dass sie von fanatischen Männer-Gesellschaften ganzheitlich geröstet wurden?

Kein Zufall, dass Grillen noch immer die Leidenschaft deutscher Machos ist. In ihrem kollektiven Unbewussten grillen sie keine Würstchen, sondern gottverdammte, überflüssige Weiber. Die Zukunft der Menschheit soll weiberfrei sein. Roboter, wie lüsterne Frauen aussehend, genügen für diverse Sauereien.

Superintelligente Technik hat keinen andern Zweck, als sub-intelligente Naturdarstellerinnen aufs Abschiebegleis zu befördern. Zum Putzen und Zeugen brauchen wir sie nicht mehr. Noch im 21. Jahrhundert glauben Frauen, nur dann etwas zu sein, wenn sie sich von Männerzynismen atomisieren lassen – oder von „emanzipierten“ Frauen, die schlimmer sind als jene Männer, die sie bis zum Erbrechen kopieren.

Von der Madonna zur Hexe ist nur ein winziger Schritt. BILD präpariert sich für beide Optionen. Wird Merkel die Abhöraffäre überstehen oder muss sie – unglaublich, aber wahr – tatsächlich fürchten, von der Tenne gefegt zu werden? Noch versucht BILD, die heilige Mutter durch stellvertretendes Bashing De Maizieres & Co aus dem Schlimmsten herauszuhalten. Wie lange noch?

Beginnt‘s in der Nation zu kochen, vergnügt sich die listige Kanzlerin mit unschuldigen Tierchen. Und BILD war dabei und sprach mit dem Äffchen.

„Jenseits vom politischen Alltag – derzeit vor allem geprägt vom BND-Skandal und dem ständigen Ärger mit den Griechen – wirkte die Kanzlerin in Marlow sehr entspannt, hatte tierisch Spaß: Putzige Fotos mit Tieren als Kontrast-Programm für die Medienmeute.“ Zu welcher BILD selbstredend nicht gehört.

Nein, um kollektive Erinnerungen kommen wir nicht herum. Sind es nicht altbewährte Methoden von Diktatoren und Päpsten, mit Kinderbildern und Operettenfilmen vom Schlimmsten abzulenken? Die Pastorentochter versteht ihr polit-homiletisches Handwerk. Wer hierzulande predigen und mit entzückenden Andachtsbildern aufwarten kann, der darf auch regieren. Wer über die „Macht des Wortes“ verfügt, darf Bundespräsident werden. („Denn er redete wie einer, der Gewalt hat.“)

Erster Mai ist der (fast) einzige nicht-kirchliche Feiertag in Deutschland. Frau Käßmann kann ihr Lutherbäffchen am Haken lassen. Weltliche Feiern gibt es nicht in Deutschland. Der Tag der Einheit ist elitäres Phrasendreschen. Politische Freiheitsfeiern sind hierzulande unbekannt. Um den Maibaum der Revolution tanzen wir nicht. Was aber nicht zur vergnügten und heiteren Feier in Fleisch und Blut überging, ist im Gemüt der Gesellschaft nicht angekommen. Wir sind keine politische Nation. Wir sind eine trübselige lutherische Malochergesellschaft – mit rasend anschwellender Milliardärenquote.

Zieht den Hut, wir gedenken der Toten in Walpurgisnacht. Europa ertrank im Blut der Frauen und Kinder. Wer waren die Täter? Priester und ihre männlichen Henker.

„Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts waren es vor allem Frauen, die der Hexerei verdächtigt wurden. Kinder waren Opfer, die beispielsweise durch angeblichen Schadenzauber krank wurden oder starben. Mancher „Hexe“ wurde nachgesagt, dass sie sich vom Blut eines tot geborenen Babys ernähren würde. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts kippte die Stimmung. Im Zuge der großen Verfolgungswellen richtete sich der Verdacht gegen jeden: Frauen, Männer, Mädchen, Jungen. „Es geht gewiß die halbe Stadt drauf„, beschrieb Pfarrer Hilger Düren dem Grafen Werner von Salm aus Bonn, der Residenz des Kölner Kurfürsten, die Auswirkungen des Hexenwahns um 1630: „Kinder von drei bis vier Jahren haben ihren Buhlteufel. Studenten und Edelknaben von neun bis vierzehn Jahren sind hier verbrannt.“ Schreibt die WELT.

Wissen wir noch, dass die männliche Hälfte der europäischen Christenheit es für richtig hielt, die andere Hälfte ins Jenseits zu befördern? Zuerst rotteten die Priester die stolzen und unbezähmbaren Frauen im Inland aus – man nannte sie Hexen –, dann wurde der Genozid in die eroberten Heidenländer der Welt verlagert. Heute zielt der kapitalistische Vernichtungsprozess auf Frauen und ihre überflüssigen Bälger in fernen und armen Landen. In reichen Ländern landet das wertlose humane Strandgut in Straflagern oder Gefängnissen.

Und was war – laut WELT – die Ursache des Männer-Gemetzels an Frauen und Kindern, an Fremden und Ungläubigen?

„Zwischen 1623 und 1633 fielen in Würzburg rund 900 Menschen dem Aberglauben zum Opfer.“

Dem Aberglauben? Nicht christlichen Männerhorden? Die Frommen tricksen, fälschen und verharmlosen, dass sich die Balken biegen. Und wenn einmal ein Priester halbwegs menschlich handelt, wird er sogleich als Befreier und Beendiger der Hexenprozesse gerühmt:

„Da tauchte der Theologe Johannes Pistorius auf. Er ließ das Mädchen auf seine Jungfräulichkeit untersuchen und bewirkte seinen Freispruch.“

Dasselbe bei den Gräueln der Nationalsozialisten. Wenn ein Bonhoeffer hingerichtet, ein katholischer Priester zum freiwilligen Märtyrer wurde, dienen sie sofort als Zeugen der Unschuld der ganzen Kirche. Dass 99,9 % aller deutschen Frommen den geistbegabten Führer inbrünstig anbeteten, wird zunehmend – selbst von „säkularen“ Historikern – verleugnet.

Was ist ein Aber-glaube? Ein Anti-Glaube. Irgendein Glaube wird geleugnet. Aberglaube wäre dann das Gegenteil der herrschenden christlichen Ideologie? Geht’s noch hinterfotziger?

Dabei ist im WELT-Artikel ständig vom Teufel die Rede. War der Gottseibeiuns nicht das Alter Ego des christlichen Gottes? Sind die deutschen Medien nicht schon tiefer im Gott-Teufels-Wahn ertrunken als ihre Vorfahren im schwärzesten Mittelalter?

Wie lautete die offizielle Begründung der Kleriker für ihre religiösen Vernichtungsorgien?

„Für die Kirche war Feuer das einzige effektive Mittel, um die Seele vollständig zu reinigen. Im Falle eines Ketzers oder einer Hexe war die Verbrennung also die einzige Möglichkeit, um alle Sünden los zu werden.
Doch es sollte gleichzeitig auch als abschreckendes Beispiel dienen. Die Qualen waren deutlich zu sehen, zu spüren und durch das Schreien des Opfers auch zu hören. Man erhoffte sich dadurch, dass andere davon abgehalten wurden zu Ketzern oder Hexen zu werden oder dass die, die sich schon der anderen Seite zugewandt hatten, wieder auf den rechten Pfad gelangten.“ (deutschland-im-Mittelalter.de)

Die Priester gedachten, nur Gutes zu tun. Mit Feuer wollten sie Sünderinnen porentief reinigen. Lieber tot, aber gereinigt und geläutert, in den Himmel, als für immer in die Hölle. Das war die totalitäre Zwangsbeglückung einer himmlisch beglaubigten männlichen Ausrottungsmaschinerie. Die Opfer: Frauen und Kinder. Letzere sind noch heute die Lieblingsopfer eines menschheits-läuternden Neoliberalismus. Was nicht lebensfähig ist, fällt der Exekution des allwissenden Marktes zum Opfer.

Die läuternde Kraft des Feuers ist nicht mehr auf Menschen beschränkt. Die Klimakatastrophe wird das globale Feuer über den Planeten verbreiten. Schon brennt die strohtrockene Tundra in Russland, schon brennen Urwälder in Afrika und Südamerika. Schon verdorren die letzten Oasen in der Sahara. Schon haben die Kalifornier kein Wasser mehr, um ihren Rasen zu sprengen und müssen ihn mit Farbe überkleistern, dass er nicht mausetot aussieht. Eines jüngsten Tages wird Natur sich mit reinigendem Feuer komplett vom Menschen befreien. Wird das ein Aufatmen unter jenen Gattungen sein, die die Endreinigung überstehen werden.

Womit wir elegant bei Roland Tichy gelandet wären, jenem freundlichen, mönchisch wirkenden Herrn, der beim Predigen für seinen geliebten Kapitalismus gern die Augen aufwärts rollt. Jenem Psalmisten gleich, der seine Augen aufwärts hebt zu den Bergen, woher ihm Hilfe kommt:

„Ein Lied im höhern Chor. Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen von welchen mir Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt von dem HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat.
Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen; und der dich behütet schläft nicht. Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht.
Der HERR behütet dich; der HERR ist dein Schatten über deiner rechten Hand, daß dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts.
Der HERR behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele; der HERR behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“ (Psalm 121)

Tichy nennt seinen Gott Kapitalismus und hat ihm einen Liebespsalm gedichtet: „Ich liebe den Kapitalismus“. (BILD)

Er liebt ihn, weil die Deutschen ihn verschmähen. Tichy ist seinem Gotte treu geblieben. Sein Gott darf stolz auf ihn sein. Tichys Gott ist nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden und trägt viele Namen: Reichtum, Wohlstand, Güter im Überfluss, Supermarkt und ein besseres Menüangebot als bei 500 Köchen Ludwigs des XIV. Der Kapitalismus ist liebenswert, „weil er uns frei, reich und glücklich macht.“

Leben wir bereits im Paradies und merken es nicht? Was müssen wir für empfindungslose Hornochsen sein! Wer ist wir? Wen macht er glücklich, frei und reich? Nur die Deutschen? Die Abgehängten unter ihnen? Die alleinerziehenden Mütter, die weiträumig kasernierten Hartz4-Kolonnen? Was ist mit den Griechen, den Flüchtlingen? Fliehen sie aus ihren Ländern, weil der Kapitalismus sie glücklich machte?

Ist es nicht seltsam, dass die kapitalistische Moderne alle Utopien und Idyllen verbietet, der fromme Tichy aber mitten im Garten Eden wohnen und schlampampen darf? Haben das die Deutschen, die den Kapitalismus zu hassen beginnen, etwa noch nicht bemerkt? Kann man glücklich sein, ohne das Glück in allen Zellen und Poren zu spüren?

Warum schreiben Deutsche Wir, wenn sie Ich meinen, aber Ich nicht meinen dürfen? „Wir“ erzeugt den wohligen Klang des Gemeinsamen, wenn Gemeinsames gar nicht vorliegt. Es erzeugt ein schlechtes Gewissen bei jenen, die sich fragen müssen, warum sie nicht zu den Freien, Reichen und Glücklichen gehören. Haben sie versagt? Sind alle anderen Gewinner, nur sie gehören zu den Verlierern der Geschichte?

Warum fragt Tichy nicht, weshalb seine Landsleute den Kapitalismus ablehnen, obgleich er Glück und Wohlstand gebracht haben soll? Sind sie schizophren? Gar radikal böse? Wie alle Frommen muss Tichy hinter dem Mond leben. Er kämpft gegen einen Sozialismus, den es seit Dekaden nicht mehr gibt. Existiert noch irgendwo – mit Ausnahme Chinas und nicht mal da – eine Planwirtschaft?

„Der Plan wie damals im Sozialismus klappt nirgends. Im K. regiert der Preis; was teuer ist, wird gern nachgemacht und dadurch billig.“

Ausgerechnet China und andere autoritäre Staatskapitalismen sind das Vorbild vieler Neoliberaler, die dem demokratischen System Verluderung und Faulheit vorwerfen. Wie Gläubige Ungläubige nie verstehen, versteht Tichy die Antikapitalisten nicht. Will er überhaupt verstehen? Hat er eine einzige Frage, Vermutung oder Hypothese?

Er dekretiert, wie alle Erlöser. Offiziell erhebt er keine Vorwürfe, aber subkutan. Wie jener preußische Obertan, der seine Untertanen durchprügelte und sie anschrie, sie sollten ihn endlich lieben, so prügelt Tichy die bornierte deutsche Welt, der es so gut geht, doch sie will es nicht wissen.

Will sie es nicht wissen? Welch trauriges Schicksal für den Ludwig Erhard-Fan, der mutterseelenallein glücklich sein muss – und niemand will sein Glück mit ihm teilen. Welch furchtbares Geschick: wegen solitären Glücks wird Tichy an den Pranger gestellt. Das hat er nicht verdient.

Wenn Naomi Klein und andere Verirrte den Kapitalismus zum Haupttäter der heutigen Malaise erklären, muss die Wippschaukel durch Gegengewicht ausgeglichen werden. Doch Tichy hat es nicht nötig, seine kompetenten Gegner bei Namen zu nennen. Geschweige, sich mit deren Argumenten auseinanderzusetzen. In höheren und gläubigen Kreisen wird nicht debattiert. Argumentieren, das ist pöbelhafter Demokratismus. Tichy macht es wie Gott: er sprach das Wort und das Wort ward Wohlstand.

Hat der Kapitalismus die Menschen – die Erwählten unter ihnen – wirklich glücklich gemacht? Gibt es überhaupt einen monolithischen Block namens Kapitalismus? Oder ist er nur eine falsche Symbiose aus vielen Bestandteilen, die sich grundsätzlich widersprechen und in monströser Verkrüppelung zusammenwuchsen? Gibt es keine Schattenseiten des geliebten Kapitalismus?

Wie moderne Theologen Hölle und Jüngstes Gericht unterschlagen, um mit Seligkeit allein hausieren zu gehen, unterschlägt Tichy die Kollateralschäden einer Ökonomie, die ursprünglich den Wohlstand der Nationen begründen wollte – inzwischen aber nur EINPROZENT Milliardäre mästet und 99 % Verlierer in den Abgrund stürzt.

Kein Kapitalismus hat die Menschen des Westens reich gemacht, sondern die Arbeit der vielen Malocher. Freiwillig war diese Arbeit nicht. Eine furchterregende Religion bedrohte die Gläubigen: wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen. Malochen gehörte zur religiösen Gehorsamsleistung. Den Profit der Maloche aber kassierten diejenigen, die so frei waren, am wenigsten zu arbeiten.

Nehmen wir Baltimore. Warum kommt es zu schweren Unruhen in der amerikanischen Stadt, obgleich viele hohe Ämter von Afroamerikanern eingenommen werden? Weil die wahre Macht bei jenem EINPROZENT der Weißen liegt, die das Geld kassieren:

„Die Macht ist da, wo das Geld ist. Und Politiker hängen von Spenden für ihre Kampagnen ab. Die bedeutendsten Beiträge zu Wahlkampagnen kommen aus einer einzigen Gruppe: den Großunternehmen. Davon sind die meisten nicht afroamerikanisch.“ Die wirtschaftliche Macht liegt „in traditionellen mittelalten, weißen, männlichen Händen. Das obere 1 Prozent. Der durchschnittliche Nettowert eines Afroamerikaners beträgt 5.000 Dollar. Das reicht nicht einmal, um die eigene Beerdigung zu zahlen.“ Schreibt Dorothea Hahn in der TAZ.

Adam Smith hegte gute Absichten. Aus seinen unerkannten Widersprüchen aber krochen jene Gegenwartsprobleme, die uns heute zu verschlingen drohen: Naturzerstörung, Destruktion der Demokratie, absurde Ungleichheiten der Macht und des Reichtums. Wäre alles auf der Ebene des gleichwertigen Tauschs zwischen Metzger und Bäcker geblieben, wie der Schotte naiv beschrieb, lebten wir heute in einer wahren Idylle.

Doch Smith unterschlug die Kleinigkeit, dass es nicht nur gleichberechtige Handwerker gab, sondern reiche Adlige, die die Bauern von ihrem Land vertrieben, um ihre Schafe zu weiden. Mit Hilfe der Wolle betrieben sie die ersten Textilfabriken, mit denen sie ihren Reibach machten. Freiheit, Reichtum und Glück der Malocher interessierte sie nicht die Bohne.

Religiös erpresste und unterbezahlte Arbeit war die Grundlage des Urkapitalismus, der zum heutigen Blutsaugersystem weniger Superreicher und wachsender Horden von Miserablen anschwoll.

Der Kapitalismus muss zerschlagen werden. Aus den Trümmern wähle die Menschheit jene Elemente, die sie für ausreichend hält, um sich zur Zufriedenheit aller zu ernähren. Alle anderen müssen versenkt werden. Die Zeit ist keine unaufhaltsame lineare Dampfwalze. Wir können sie jederzeit anhalten, um zu überdenken, welche naturverträglichen und gerechten Errungenschaften der letzten Jahrhunderte wir behalten wollen oder nicht.

Sollen wir den Kapitalismus lieben? Wir sollen die Menschheit lieben. Der moderne Kapitalismus ist zur Fortsetzung der Walpurgisnacht und der Hexenjagd mit anderen Mitteln geworden. Wenige profitieren wie aus Zauberhand, die meisten verkümmern und verelenden.

Myriaden an Opfern säumen die Wege einer Ökonomie, die das Glück der Vielen zerstören muss, um den gleißnerischen Überfluss einer winzigen Minderheit zu ermöglichen.

Ach, wollet nicht säumen, meine edel-denkenden Geschwister. Die Zeit ist kommen, inne zu halten und umzudenken.