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Verträge

Hello, Freunde der Verträge,

pacta sunt servanda, Verträge sind einzuhalten. Freche Griechen verletzen nach Belieben europäische Gesetze und diplomatische Gepflogenheiten. Ständig verspäten sie sich bei den Verhandlungen, weil sie lukullisch frühstücken müssen und präsentieren immer dieselben nichtssagenden Papiere. Dem Varoufakis sollte man gelegentlich das exhibitionistische Hemd ausziehen und seine blasierte Spieltheorie um die Ohren schlagen. Der Fatzke tingelt in Europa herum, um abstrakte Vorträge zu halten, anstatt zu Hause der griechischen Bevölkerung vertragsgemäß das letzte Hemd auszuziehen.

(Selbst Hüther, der Hüter der deutschen Ortho-Ökonomie, musste den Ausführungen des Griechen zustimmen. Spricht das nun für die Objektivität Hüthers – oder gegen die linke Ernsthaftigkeit des Professors?)

Verträge bestehen aus vielen Buchstaben, die zu einem Text verbunden sind. Je präziser der Text formuliert ist, je weniger kann er willkürlich gedeutet werden. Möglichen Missverständnissen und absichtlichen Missdeutungen muss man durch scharfe Definitionen und prophylaktische Erklärungen des Gemeinten zuvorkommen. Das war der Sinn der Schrift, die einer Kultur dialogische Kompetenz und kulturelle Eindeutigkeit verleihen sollte.

Kein Buchstabe kann sich selbst erklären. Er ist auf andere Buchstaben

angewiesen. Das Ganze erklärt das Einzelne. Das Ganze ist:

a) der vollständige Text, der isolierte Buchstaben zu einem Gesamtgewebe verknüpft.

b) die ganze Epoche, in der die Schrift entstanden ist und die den einzelnen Text in den Zusammenhang einer Kultur stellt.

Probleme der Platondeutung können reduziert werden, wenn man weiß, welche Konkurrenten Platon angegriffen hat, welchen Lehrern er in Treue und Verrat verbunden war und welche Wirkungen er in nachfolgenden Zeiten ausgelöst hat.

Fast alle deutschen Altphilologen lehnen Poppers Interpretation des perfekten platonischen Staates als europäischen Urfaschismus ab. Der Grund dieser Ablehnung liegt aber nicht im Streit um den Sinn platonischer Buchstaben, sondern in der Verklärung Platons als vorlaufender heidnischer Wahrheitszeuge der christlichen Offenbarung. Da das Neue Testament nicht faschistisch sein darf, darf auch Platon kein faschistischer praeparator evangelii – bewusstseinsloser, von Gott geleiteter Vorläufer des Evangeliums – sein.

(Für Platon waren Texte weniger wert als lebendige Gespräche. Gleichwohl erfand er die präzisesten schriftlichen Dialoge der Weltgeschichte.)

c) die allgemeine Vernunft der Menschheit, die keineswegs so unterschiedlich ist, dass Angehörige verschiedener Kulturen sich bei gutem Willen nicht verständigen könnten. Wie wäre es sonst möglich, dass wildfremde Ethnologen mit Händen und Füßen die Sprachen anderer Völker erlernen und notieren könnten?

Die meisten Deutungsunterschiede entstehen nicht durch Unklarheiten beim Gemeinten, sondern bei der philosophischen Beurteilung des Gemeinten. Nehmt alles in allem, so hat sich der unbeugsame Buchstabe als Verständigungsmittel der Schriftkulturen in hohem Maße bewährt.

Meinungsverschiedenheiten waren selten die vergifteten Früchte beliebig deutbarer Texte, sondern religiöser Voreingenommenheiten, ideologischer Bewertungen und unbelehrbarer Vorurteile.

Für weltliche Texte gilt noch immer das Prinzip unmissverständlicher Buchstaben- oder Textdeutung, um Streitigkeiten bei der Auslegung der Denker und Dichter gar nicht erst aufkommen zu lassen. Bei politischen und juristischen Texten gibt es ohnehin keine Alternative zum hermeneutischen Grundprinzip der Aufklärung: den Buchstaben, sie sollen lassen stahn.

Nur Theologen – inzwischen auch ekstatische Regisseure, die die genaue Interpretation alter Tragödien und Komödien als Hindernis ihrer geistbesessenen Inszenierungen betrachten – nehmen sich das Sonderrecht der grenzenlosen Buchstabenverstümmelung.

Wie die Neoliberalen unbegrenzte Freiheit für allmächtige Wirtschaftstycoons fordern, damit sie die Welt mit Produkten und gigantischen Geldsummen fluten können, so fordern „neoliberale“ Schriftdeuter grenzenlose Deutungsfreiheit, um ihre Einfälle und Zeitgeist-Assoziationen in das heilige Objekt ihrer Begierde hineinzuinterpretieren.

Was sie betreiben, ist keine Ex-egese (Heraus-deuten des innewohnenden Textsinnes), sondern Eis-egese: Hinein-deuten eines von außen eindringenden Sinnes in den Text. Der ursprüngliche Sinn des Textes ist belanglos. Es kommt nur darauf an, wie man ihn mit fremdem Sinn penetrieren und besetzen kann. (Die Differenz beider Verfahren könnte man wahrlich als Unterschied zwischen einem Liebesakt und einer Vergewaltigung beschreiben.)

Die neoliberal grenzenlose Besetzung und Verstümmelung der Texte im Namen des divinatorischen Genies begann in der deutschen Romantik, einer leicht zeitversetzten parallelen Epoche zum englischen Frühkapitalismus. In Folge ihrer politischen und ökonomischen Zurückgebliebenheit waren die Deutschen gezwungen, ihre erwachende Gottähnlichkeit in geistigen Dingen „auszuleben“ und zu konkretisieren. (Ausleben: ein schreckliches Zeitgeistwort. Wer vital lebt, lebt sich aus und vorbei. Leben ist ein „Vorlaufen zum Tode“.)

Biblizistische Amerikaner lehnen nichtwörtliche Deutungen ihrer Schrift vehement ab. Wer glaubt, dass Gott seine Offenbarungen den Menschen wortwörtlich diktierte (Verbalinspiration), darf dem Buchstaben nicht untreu werden. Die Entmythologisierungen der Deutschen sind für sie subjektive Blasphemien – wozu auch die ökologische „Bewahrung der Schöpfung“ gehört.

Wie kann man Schöpfung bewahren, wenn der Schöpfer selbst sie dem Totalbankrott zutreibt? Schöpfung „bebauen und bewahren“ heißt, den Herrschaftsanspruch Gottes auf Erden wahren. Der Mensch ist Herrscher über die Welt. Die hebräischen Urbegriffe bedeuten, die Natur „niedertreten, unterwerfen, sie wie eine Kelter treten“, so ein Alttestamentler.

Und doch kennen auch die Amerikaner das absolute Freiheitsprinzip beim Deuten einer Schrift. Es handelt sich um die Unabhängigkeit vom Buchstaben der Natur. Seit Galileo ist Natur das zweite Buch der Offenbarung Gottes, die durch Erforschen der Naturgesetze erkannt werden kann.

Doch Naturgesetze gelten in Silicon Valley nicht als ewig und unveränderbar. Technische Kreativität kann den Menschen unabhängig machen vom „Buchstaben“ der Natur und eine zweite Natur kreieren, die sich gottgleich über die erste Natur erhebt. Der Buchstaben der Natur tötet, der grenzenlose Geist der Kreativen macht lebendig.

Luther hatte sein hermeneutisches Prinzip – unter Anleitung Philipp Melanchthons – von altphilologisch versierten Vernunft-Humanisten übernommen: das Wort, sie sollen lassen stahn und kein Dank dafür haben. „Der Wortlaut der Schrift hat einen eindeutigen, aus ihr selbst zu ermittelnden Sinn, den sensus literalis.“ (Gadamer, Wahrheit und Methode) Die Schrift im Ganzen musste jedes dunkle Wort aus dem Zusammenhang erklären. Willkürliche Deutungen aus dem sündigen Kopf der Deuter waren Teufelswerk. „Der Standpunkt Luthers ist folgender: die Heilige Schrift ist sui ipsius interpres“, sie deutet sich durch sich selbst. (Gadamer)

Moderne Lutheraner sind Verfälscher der lutherischen Hermeneutik – die noch Geltung hatte bis in die Zeiten der Aufklärung: es gilt der blanke Buchstabe im Kontext – und sonst nichts. Ab der Romantik, die alles Gemeine der Realität, alles Anstößige der wörtlichen Auslegung nicht mehr ertrug und in himmlische Träumereien verwandeln (romantisieren) wollte, wurde die Buchstabentreue als „jüdisches Gesetzeswerk“ und heidnische Logik verworfen.

Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig. Es war aber nicht der Geist des vernünftigen Menschen, sondern der gnadenhafte Geist Gottes. Der erleuchtete und wiedergeborene Christ benötigte keine mühselige Buchstabenlogik. Erfüllt vom Heiligen Geist war er fähig, jede Schrift in Allmachtspose zu deuten, wie er es gerade für richtig hielt.

Alles, was im „Zeitalter der Aufklärung unter dem Titel „vernünftige Gedanken“ als das gemeinsame Wesen der Humanität galt“ (Gadamer), wird in der Romantik als unerleuchtete „Buchstäblerei“ in den Müll geworfen. („Sollen Buchstaben Buchstaben Platz machen?“ (Novalis))

In der romantischen Wiederkehr der Religion als Attacke gegen gottlose Aufklärung wird der rationale Vorzug abendländischer Schriftkultur – die selbst im Mittelalter formell nicht durchbrochen wurde – rücksichtslos zu Grabe getragen.

Seit dem Buchstabenhass der himmelwärts strebenden Jüngelchen erleben wir einen beispiellosen Niedergang der ratio, umgekehrt proportional zur verhängnisvollen technischen Höherentwicklung. Je fortgeschrittener das Herstellen von Maschinen und Plündern der Natur, umso mehr fallen wir zurück in despotische Zeiten der mittelalterlichen Theokratie.

Keine Kultur besitzt die Garantie, ihre mühsam errungene humanistische Höhe zu bewahren oder automatisch zu vervollkommnen. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass erlernte Kulturtechniken und soziale Sensibilitäten einer Epoche in wenigen Jahrhunderten eingestampft worden wären.

Der christliche Westen ist dabei, die theoretischen Erkenntnisse und humanen Errungenschaften der Griechen im Zuge eines ruinösen Fortschritts und einer suizidalen Verwüstung der Natur aufs Spiel zu setzen. Je mehr sich der Ungeist einer religiösen Apokalypse über die Welt verbreitet, umso mehr werden einfachste Grundsätze des menschlichen Denkens dem Fatum einer unvermeidlichen Unheilsgeschichte geopfert.

Buchstabe ist Logik, Vernunft, kritisches Überprüfen, demokratische Dialogfähigkeit. Geistlose Buchstaben gibt es so wenig wie geistlose Natur. Kein sokratischer Dialog ohne mäeutische Buchstaben-Anamnese. Jeder Gesprächsteilnehmer hat genau zu definieren, was er meint, wenn er bestimmte Wörter und Begriffe benützt.

Diese Fähigkeit ist heute völlig verloren gegangen. Alle Talkshows sind divinatorische Kaspereien, weil kein Teilnehmer zur Klarheit seiner Wortwahl verpflichtet wird. Jeder hält „romantische“ Monologe, die mit den Monologen seiner Gesprächspartner nichts Gemeinsames haben. Jeder Teilnehmer erhält – um zweiseitige Dispute zu vermeiden – eine neue subjektive Frage, die mit der vorigen Frage nichts zu tun haben muss. Ein knallhartes Streitgespräch über mehrere Stationen wäre Sünde wider das Dogma der schnellen Abwechslung. Die Sender fürchten die gelangweilte Schlaffheit des Publikums, das in geschickter Choreografie bei der Stange gehalten werden muss.

Sensationen, nicht überprüfbare Folgerichtigkeit, sind das Unterhaltungsprinzip der medialen Entertainer. Nicht strenge Gedankenführung und präzise Antworten, sondern ein flüchtiges Potpourri der Einfälle soll dem passiven Quotenmoloch die Zeit vertreiben. Am Schluss des funkensprühenden Nichts gibt es keine Rechenschaft über den Verlauf der Debatte: was war der Erkenntnisgewinn der Einzelnen, wo haben sie aneinander vorbeigeredet? Wo hatten sie das Gefühl, verstanden zu werden? Wo verstanden sie selbst?

Pacta sunt servanda. Den Griechen wird vorgeworfen, die europäischen Regeln zu verletzen. Der Vorwurf ist verständlich, dies versuchen die Griechen. Sie stellen die Regeln der EU in Frage. Das ist ihr gutes Recht. Ja, es ist ihre Pflicht, denn dies haben sie ihren Wählern versprochen. Aus diesem Grunde wurden sie gewählt.

Ihnen Wahlbetrug vorzuwerfen, wie Bosbach es bei Jauch tat, ist das Gegenteil der Wahrheit. Wer EU-Regeln für sakrosankt erklärt, der muss Tsipras & Co vorwerfen, das Blaue vom Himmel versprochen zu haben. Doch es ist pervers, ihnen Betrug vorzuwerfen, wenn sie just tun, was sie versprachen. Darf die neue Regierung in Athen die europäischen Verträge anzweifeln und zu korrigieren versuchen?

Wenn nein, wozu darf dann noch gewählt werden? Dann soll die EU doch selbst die Regierung der kopflosen Demokratien übernehmen.

Wenn ja: darf die EU bestimmen, was eine neue Regierung zu wollen hat? Welche Veränderungen sie erkämpfen will oder nicht?

Verträge einzuhalten, ist kein Grundsatz für alle Zeit und Ewigkeit. Wie oft werden gegenwärtig die Verträge der UN-Charta von fast allen Ländern der Erde gebrochen und niemand schert sich darum?

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet jene Länder mit religiöser Buchstabenverachtung am hartnäckigsten am Buchstaben von Verträgen festhalten, die keineswegs für die Ewigkeit Geltung haben – aber so tun, als seien sie die Offenbarungen des Himmels. Das war die Sicht des neoliberalen Gründervaters Friedrich von Hayek, der seine Darwin‘sche Idolisierung der Starken als Ergießung der heiligen Evolution anbetete.

Wer aber Verträge nicht einhalten will, weil er sie für falsch hält, sollte sie mit offenem Visier angreifen. Alles andere wäre unehrlich.

Die Verträge der EU sind durchweg im Geist des Neoliberalismus formuliert. Eine selbstbewusste Regierung, die noch zwischen rechts und links unterscheiden kann, muss solch festgeschriebenen Privilegien der Starken in Frage stellen.

Bosbach berief sich auf das vertraglich festgehaltene Verbot der gegenseitigen Hilfestellung bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten, das nicht verletzt werden dürfe. Das habe man den Wählern versprochen.

Unsinn. Die Wähler wurden gar nicht erst gefragt, ob sie die absurde Formel für richtig hielten. Was Waigel, Kohl & Co hinter verschlossenen Türen ausmauschelten, drang lange nicht an die Öffentlichkeit.

Bei allen wichtigen Vereinbarungen der EU-Nationen blieben die Völker außen vor. Nachdem Frankreich und Holland – die einzigen Länder, die ihre Meinung kundtun konnten –, ihr mehrheitliches Nein zu Lissabon erklärt hatten, wurden andere Völker gar nicht erst gefragt.

Der Wille des Volkes ist für die exsozialistische Christin Merkel ohne Belang. Sie regiert den kapitalistischen Westen, wie Honecker einst den sozialistischen Osten. Allerdings nicht mit offizieller, sondern mit gefühlter Entmündigung der Massen – die zudem ihrer Entmündigung in großer Mehrheit zustimmen. Ihrem untertänigen Volk singt Mutter Merkel das Wiegenlied: schlafe, mein Völkchen, schlaf ein.

„Wer ist beglückter als du?
Nichts als Vergnügen und Ruh!
Spielwerk und Zucker vollauf
und auch Karossen im Lauf.
Alles besorgt und bereit,
dass nur mein Völkchen nicht schreit.

Was wird das künftig erst sein?
Schlafe, mein Völkchen, schlaf ein.“

Das Hilfeverbot der EU-Staaten (no bail out) ist das Absurdeste, was sich neoliberale Gehirnamputierte ausdenken konnten. Sie wollen eine solidarische Union sein, ohne eine solche sein zu dürfen. Wozu eine Vereinigung der Staaten, wenn die Einigkeit durch dogmatische Uneinigkeit und Kälte in sich ramponiert wird?

Der Wunsch nach Einheit wird durch den Darwin‘schen Imperativ vom survival of the fittest torpediert. Wir wollen sein ein einig Volk von Geschwistern, in jeder Not uns trennen und Gefahr. Gibt es Hirnrissigeres als Rütlischwüre in bedingungsloser Rivalität und fremdschädigendem Nationalegoismus?

Bosbach und christliche Kollegen verherrlichen solchen Wahn in buchstäblicher Devotion. Sie wollen nicht wissen, dass die ökonomische Zeitgeistphilosophie diese Grundsätze zu Offenbarungen machte. Anstatt zu sagen, das waren Verirrungen der Gründerjahre, die wir längst hätten korrigieren müssen.

Der Mangel aller TV-Talkshows über einen drohenden Grexit bestand in der Beschränkung der Debatte auf wirtschaftliche Aspekte. Man hätte grundsätzlicher politisch und philosophisch argumentieren müssen.

(BILD hielt es gar für richtig, in einem Bericht über die Jauch-Debatte vor allem Bosbach-Attitüden zu beschreiben. Keine einzige Zeile über die Statements von Ulrike Herrmann und Max Otte. Der Begriff „Schweinejournalismus“ wäre in diesem Zusammenhang eine Beleidigung der Schweine.)

Henrik Müller im SPIEGEL ist einer der wenigen, die sich Gedanken darüber machten, was die EU hätte tun müssen, um dem gebeutelten Land unbürokratisch und jenseits wirtschaftlicher Zwangsregeln zu helfen:

„Viel zu lange blieben soziale und politische Rückwirkungen unbeachtet. Von Anfang war die Vorstellung irreal, der Rest Europas könne Griechenland sich selbst überlassen und womöglich auch noch aus der EU herausdrängen, wie es die Verträge nahelegen. Nun sucht Europa überhastet eine Strategie für den Tag X. Und es steht zu befürchten, dass wieder mal zu wenig zu spät passiert. Im Mittelpunkt steht nicht mehr nur die Stabilisierung der verbleibenden Eurozone. Das Instrumentarium dafür ist inzwischen vorhanden und dürfte ausreichen. Vor allem geht es nun um die Stabilisierung der griechischen Gesellschaft selbst: humanitäre Hilfe, um akute Notlagen abzumildern. Unabhängig von Fragen einer geordneten Schuldenrestrukturierung, die dann verhandelt werden müssen, brauchen die Griechen Unterstützung bei der Versorgung der Bevölkerung mit medizinischen Leistungen, Energie oder Lebensmitteln.“

Gerade, weil christliche deutsche Eliten die neoliberalen Regeln als Gebote Gottes betrachten, dürfen sie nicht gegen diese verstoßen – und wenn die Griechen dabei untergingen. Mögen die Regeln auch unbarmherzig sein, so sind sie doch Gebote der sündigen Welt – damit auch Gebote Gottes – und dürfen nicht außer Kraft gesetzt werden. Staatliche Regeln sind schlecht, doch durch Menschen nicht veränderbar. Erst der kommende Messias wird die „Räuberhorden“ auflösen. Bis dahin gilt: alles bleibt schlecht, wie Gott es will.

Caritative Hilfen sind nur außerhalb staatlicher Regeln möglich. Selbst diese Caritas wurde von hiesigen Eliten in beschämender Weise verdrängt. Die Griechen werden von der EU kälter und teilnahmsloser behandelt als „Entwicklungsländer“ in Naturkatastrophen. Christliche Ideologien behindern die europäischen Länder an spontanen Unterstützungen, die für jeden mitfühlenden Heiden selbstverständlich wären.

Auch Janko Tietz (SPIEGEL) wirft Schäuble vor, die vertraglich zugesicherte Solidarität zwischen den EU-Völkern zu brechen:

„Im Vertrag von Maastricht heißt es, man sei „eingedenk der historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents entschlossen, den (…) Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben“. Es gelte der Wunsch, „die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken.“ Diesen Vertrag bricht Schäuble gerade. Statt alles daran zu setzen, unter „Solidarität zwischen ihren Völkern“ die Vereinigung Europas zu forcieren, bereitet Schäubles Ministerium Pläne für den Grexit vor und stachelt andere EU-Partner an, das Gleiche zu tun. Der deutsche Finanzminister gefällt sich in der Rolle des Prinzipienreiters und Zuchtmeisters. Seine Botschaft: Griechenland muss liefern.“

Verträge sind nur verbindlich, solange sie dem Willen der Völker entsprechen. Buchstaben gelten nur, solange sie von Menschen anerkannt werden. Geist und Buchstaben eines Vertrages müssen dem Willen der vertragsschließenden Partner entsprechen. Die europäischen Völker wurden nie gefragt, wie sie sich den Prozess der Einheit vorstellten.

Die Griechenland-Krise offenbart die tiefgreifenden Defizite der europäischen Architektonik. Europa muss von vorne beginnen und seine solidarischen Grundsätze unmissverständlich und wider alle neoliberalen Zwangsknebelungen in seine Verfassung einmeißeln.

Nicht klammheimliche Verträge sind sklavisch einzuhalten: einzuhalten ist allein der Geist der Humanität, der alle Menschen und Völker als gleichberechtigte Partner akzeptiert.

Die Griechen gehören zu Europa. Wer sie demütigt, um seine anmaßende Überlegenheit zu feiern, hat das europäische Leitbild verraten – und sich selbst gedemütigt.