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Unwiderlegbar

Hello, Freunde der Unwiderlegbarkeit,

willst du unwiderlegbar sein? Kein Problem, du musst nicht Papst werden. Christsein genügt. Warum hat das Christentum die Welt erobert? Weil es unwiderlegbar ist.

Hier eine kleine Handreichung zum Unwiderlegbarwerden:

a) Erfinde ein System, das alles verspricht, aber nicht auf Erden. Es kann aber auch schon auf Erden sein.

b) Ein System, das nichts von dir erwartet, außer, dass es diktatorisch nichts von dir erwartet: Mensch, du bist ein Sündenkrüppel, ein Rohrkrepierer. Ohne Mich bist du nichts. Mit Mir bist du alles.

(Ungeeignet für die wenigen auf Erden, die die Lösung der Probleme von sich erwarten. Das müssen keine Gottlosen sein, sondern Anhänger von Luthers Devise: Handle so, als ob es Gott nicht gäbe, si etsi deus non daretur. Luther – kein Lutheraner wird das zugeben – war Erfinder der hypothetischen Gottlosigkeit. Es ist gleichgültig, ob es Gott gibt oder nicht. Wir müssen leben, als ob Er keine Rolle spielte.)

c) Ein System der Allmacht, der Allwissenheit und der Omnipräsenz. Die NSA kommt der Definition am nächsten. Sie wissen alles, sind überall auf der Welt präsent mit Drohnen, Raketen und Billionen Dollars und können ihren Willen omnipotent durchsetzen. Okay, fast omnipotent. Nur Chinesen, Russen und muslimische Terroristen müssen noch gezähmt werden. Die Europäer

laufen schon am Nasenring.

d) Ein System mit unendlichem Lohn und unendlicher Strafe. Die Menschheit hat noch nicht gelernt, zu handeln, weil sie es für richtig hält. Sie will belohnt und bestraft werden. Ohne Außenreize macht sie nichts. Der Kapitalismus ist ein System der Außenreize, der Mensch eine von außen steuerbare Gliederpuppe.

Gäb‘s keinen Reichtum und keine Macht, kein normaler Mensch würde sich ins Joch der Maloche, des Ausgebranntwerdens einspannen lassen. Nicht mal die Reichen. Sie ahnen, dass ihre erschlichenen Vorteile bezahlt werden müssen: schon lange leben sie in Angst vor den Horden der Übertölpelten und wundern sich, dass die Massen sie noch nicht erschlagen haben. Lieber lebten sie in Frieden mit ihren Nachbarn, selbst wenn sie nicht so viel Zaster hätten.

Die Menschheit hat nur eine Überlebenschance, wenn sie sich unabhängig macht von unfasslichen Strafdrohungen und bizarren Lohnverheißungen. Sie muss das Gute und Menschenfreundliche tun, weil es gut und menschenfreundlich ist.

e) Ein System mit Widersprüchen. Mit unvereinbaren (kontradiktorischen) Widersprüchen. Sag A – und Non-A. Was hast du gesagt? Nichts. Denn du hast in Widersprüchen geredet, die sich aufheben. Zwar hast du geredet, aber nichts gesagt. Also kannst du nicht beim Wort genommen werden.

Verantwortung hast du keine. Du bist immer aus dem Schneider, wirst nie auf dem falschen Fuß erwischt. Diese ideale Religion ist Christentum. Sie spricht über alles, doch in klaffenden Widersprüchen, sodass sie nie Eindeutiges sagen kann. Viel predigen, ohne etwas zu sagen: von dieser täuschenden Überredungskunst lebt die Religion.

Satz aus der Logik: aus einem System mit Widersprüchen folgt was? Beliebiges. Alles ist möglich, alles verboten. Nichts ist verboten, alles erlaubt. Du darfst nicht töten – in Gottes Namen musst du töten.

Welcher Regel folgst du? Willst du eindeutig sein, musst du dich für eine und gegen die andere Regel entscheiden. Eindeutigkeiten und Widersprüche kannst du nur entdecken, wenn du menschlichen Gesetzen der Logik folgst. Bist du aber auf die unfehlbare Autorität einer Religion abonniert, musst du tun, was die Autorität sagt, gleichgültig, ob sie sich widerspricht oder nicht.

Merke: In Gott gibt’s keine Widersprüche, was er sagt, sagt er in Unfehlbarkeit. Der christliche Gott spottet über menschliche Erkenntnisgesetze und über die Einsicht der Heiden. Er hat eigene Gesetze, die über allen Gesetzen der Menschen stehen. („Die Einsicht der Einsichtigen werde ich verwerfen“.)

Hegel wollte griechische Weltweisheit mit antigriechischer Weisheit Gottes versöhnen. Das ging nur, wenn er Gott Logik beibringen konnte:

Deine Weisheit, Gott, ist mit der griechischen nicht vereinbar. Sagst Du – also musst Du sie verderben. Ich widerspreche und behaupte, sie sind vereinbar. Siehe meine dialektischen Gesetze. Auf der unteren Ebene sieht es wohl so aus, als ob kontradiktorische Widersprüche unvereinbar wären: These und Antithese widersprechen sich. Die untere Ebene ist die griechische, die heidnische. Heiden liegen nicht immer falsch. In bestimmter Hinsicht haben sie Recht.

Dieses Recht muss man ihnen lassen. Schon deshalb, Gott, weil auch die weltlichen Gesetze von Dir stammen – oder etwa nicht? Den Heiden musst Du Respekt zollen, weil Du Dir Respekt zollen musst. Wär‘s anders, müsstest Du Deine ganze Schöpfung in Bausch und Bogen verurteilen. Du würdest Dir widersprechen, wenn Du den Heiden widersprechen würdest.

Hallo, kommst Du noch mit oder bist Du bereits überfordert? Ich, Schwabe Hegel aus Stuttgart, widerspreche Dir, wenn Du glaubst, die Weisheit der Heiden nicht mit Deiner Weisheit unter einen Hut zu kriegen. So blöd kannst Du nicht sein, das weiß ich genau, sonst müsste ich an Deiner Weisheit zweifeln und könnte nicht länger an Dich glauben. Ich glaube aber an Dich, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass der allwissende Gott so borniert sein soll, dass er die Einsicht seiner Geschöpfe vollständig ablehnen muss. Hast Du es nötig, Deine Großartigkeit durch die Minderwertigkeit Deiner Geschöpfe zu beweisen? Das glaube ich in Ewigkeit nicht.

Bei einem alten Kirchenvater hab ich gelesen, wer glaubt, der will erkennen. Erkennen kann man nur nach Gesetzen der Logik. Also müssen Glauben und Vernunft verträglich sein. Sonst kann Glauben nie zur Erkenntnis führen. Irgendwelche Einwände bis hierher, Gott? Okay, ich sehe, du bist noch vorzeigbar.

Wo stehen wir? Kannst Du mal rekapitulieren? Nein, ich solle erst mal fortfahren? Aha, schwaches Kurzzeitgedächtnis. Aber glaub ja nicht, dass Du mich zur Minna machen kannst wie meinen armen Vorgänger Hiob. Bei dem hast Du ja richtig auf dicke Hose gemacht. Weißt Du überhaupt noch, was Du dem eingetunkt hast?

„Da antwortete der Herr dem Hiob aus dem Wetter und sprach: Gürte doch wie ein Mann deine Lenden; ich will dich fragen, und du lehre mich!“

Glaub ja nicht, dass ich schon eingeschüchtert bin, weil ich es für unmöglich halten müsste, Gott zu belehren. Darf ich Dich an Deine eigenen Worte erinnern, als die kesse Eva – übrigens meine Hauptlehrerin – vom Baum der Erkenntnis aß und Du voller Bewunderung sagtest: Der Mensch ist worden wie Unsereins? Er weiß jetzt, was Gut und Böse ist.

Nebenbei: es war nicht der Mensch, es war Eva, die Menschin, das Weib, das Dir gleich geworden ist. Der Mann hat bis heute noch nicht bewiesen, dass er den Frauen das Wasser reichen kann – wenn sie sich denn entschlössen, nicht mehr den Mann zu imitieren.

Wer Dir gleich geworden ist, wird Dir ja auch noch die eine oder andere Weisheit unter die Weste jubeln können – oder? Aber es kommt ja noch dicker. Dein Sohn meinte sogar, der Mensch könnte ihn übertreffen: „Wahrlich, ich sage euch, wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue und wird Größeres als dies tun.“

Wenn wir Deinen Sohn übertreffen können und der ist eins mit Dir, können wir auch Dich übertreffen. Das war kein Ausrutscher. An anderer Stelle lässt Du sagen: „Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es nicht tragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, der wird euch in die ganze Wahrheit leiten; denn er wird nicht von sich aus reden, sondern was er hört, wird er reden und das Zukünftige wird er euch verkündigen.“

Wir können die ganze Wahrheit erfahren, Dein Sohn hat nur Bruchteile mitgekriegt. Also nehmen wir Deine Schrift ernst, wenn wir behaupten, wir sind über Dich und Deinen Sohn hinausgekommen. Würden wir diese Worte nicht ernst nehmen, könntest Du uns zu Recht mangelnden Glauben vorwerfen.

Oder jene Stelle: „Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder, und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, dass wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“

Wir werden sehen, was wir bislang nur glaubten. Sehen ist mehr als Glauben. Die Zeit blinden Glaubens wird vorbei sein. Wir sind mit Dir auf gleicher Ebene. Mindestens. „Nun aber spiegelt sich in uns die Herrlichkeit des Herrn mit aufgedecktem Angesicht, und wir werden verklärt in dasselbe Bild von einer Klarheit zur andern.“

Du weißt, wie es war, als Du an Pfingsten den Geist schicktest. Wir waren so besoffen von höherer Erkenntnis, dass wir der normalen Rede gar nicht mehr mächtig waren. Die Heiden machten sich über uns lustig, weil wir im Delirium in Zungen redeten und in Ekstase Himmlisches lallten. Die einen waren erstaunt und ratlos und sagten zueinander: „Was soll das bedeuten? Andere aber spotteten und sagten: sie sind voll süßen Weines.“

Unverständige spotten immer. Was sie nicht verstehen, ziehen sie durch den Kakao. Auch meine Dialektik verspotteten sie und manche halten mich heute noch für gaga. Was ich sogar verstehen kann, denn ich will alles verstehen, gerade jene, die mir am meisten widersprechen.

Was will meine Philosophie? Sie will das Zungenreden der Geisterfüllten in irdische, heidnische Sprache übersetzen – damit alle Menschen es verstehen. Und jetzt kommen wir an eine entscheidende Stelle, denn hier muss ich Dir fundamental widersprechen, wenn Du als Schöpfer der Menschen das Selektionsspiel spielst. Die Spreu ins Feuer, den Weizen in die Scheuer.

Nein, das Auswählen und Verwerfen ist ab jetzt überholt. Als Vater aller Menschen hast Du kein Recht, grundlos die Einen vorzuziehen und die Anderen zu verfluchen. Wir sind nicht mehr in der Steinzeit, halten zu Gnaden. Alle Menschen hast du zu lieben und nicht ne kleine Minderheit auf Kosten der Mehrheit. Diesen Unsinn solltest Du Dir abschminken. An dieser Stelle haben wir Dich überholt und sind der Meinung: alle Menschen haben Vernunft. Also haben sie die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Deine Botschaft zu verstehen. Welchen Wert hätte Deine Botschaft, wenn sie nicht von allen Menschen verstanden werden könnte? Das musst Du doch einsehen.

Wer hat denn die Vernunft erschaffen? Also siehste! Hast Du jedem Menschen Vernunft gegeben? Also siehste! Und ich, Hegel aus Schtuttgart, hab die Aufgabe, Deine Glaubensbotschaft in Vernunftbotschaft zu übersetzen. Ich gebe ja zu, das könnte so klingen, als ob ich zu viel am Trollinger geschlotzt hätte. Was soll ich machen? Ich musste die griechischen Vernunftvokabeln ins Deutsche übersetzen und die klingen heute ziemlich skurril: An sich, Für sich und An und Für sich. Hat es irgendeiner meiner hochgestochenen Kritiker besser gemacht? Na siehste!

Also wo stehen wir? Oh weh, wieder mal keinen Durchblick. Mein junger Kollege Nietzsche irrte: Du bist nicht tot, Du bist geistesabwesend. Jetzt versteh ich die modernen deutschen Theologen, die immer so tun, als ob sie besser wüssten, was Du meinst, als Du selbst. Sie könnten Dich ja kritisieren wie ich Dich kritisiere und erklären, dass nicht jedes Wort in Deiner Schrift der Hammer ist. Aber nein. Sie erklären noch immer, dass Du in allen Dingen Recht hättest, man müsste Deine Worte nur anders deuten. Was für ein Irrsinn.

Einerseits eine verdammte Überheblichkeit, andererseits eine typisch deutsche Untertänigkeit und Kopfnickerei, weil sie nicht imstande sind, sich von Deiner Autorität zu trennen. Wie stellen diese Heinis Dich in der Öffentlichkeit dar? Als ob man Dich nicht kritisieren dürfte. Wie ich es hiermit mache, weil ich es nicht für Lästerung halte, Dir gelegentlich die Meinung zu geigen.

Natürlich hast Du nicht in allen Dingen Recht, was für ein Unsinn steht allzu oft in Deinen Schriften. Da waren die Griechen oft klüger als Deine Stenotypisten. Womit wir elegant bei meiner Botschaft angekommen wären. Ich will Dich mit der Welt versöhnen.

Gewiss, es musste Kampf und Streit geben. Wenn‘s um Wahrheit geht, kann kein Zoff ausgeschlossen werden. Du hast deiner Schöpfung ja auch ganz schön eingetunkt mit Kreuz, Tod und Auferstehung. Das darf nicht bedeuten, dass Du die Welt ans Kreuz hängst und sie eines Tages zu Mus machst. Das sind alles nur übersteigerte Bilder, um darauf aufmerksam zu machen, dass wir um der Wahrheit willen gelegentlich unser Leben riskieren müssen. Sokrates ist das beste Beispiel.

Ich will zeigen, dass Gott und Welt nicht wie Feuer und Wasser sind. Dass vieles sich in der Welt widerspricht und durchgekämpft werden muss. Widersprüche sind Konflikte. Der Mensch ist das Wesen, das Konflikte lösen kann. Ich glaube, dass Du im Innern davon überzeugt bist – auch wenn Deine Texte gar nicht danach klingen.

Meine Aufgabe besteht nun darin, Deine seltsamen Texte in die Vernunft der Menschen zu übersetzen. Ich akzeptiere nicht, dass Du der absolute Widerspruch zur Welt sein sollst. Das widerspräche all meinen Vorstellungen von Gott. Weg mit dem lebens- und vernunftwidrigen Satz: „Wer sein Leben liebt, verliert es und wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es ins ewige Leben bewahren“.

Dieser Satz ist Sünde wider den Geist der Welt, der ein Geist der Vernunft ist. Ich Hegel, mit Dir auf gleicher Augenhöhe, widerspreche Dir und behaupte: es gibt keine unüberbrückbaren Widersprüche in der Welt oder zwischen Welt und Dir. Nur der Gottgleiche kann Gott widersprechen (nemo contra deum, nisi deus ipse) und ich bin Dir gleich geworden.

Die Welt ist aus einem Stück, sie ist Kosmos. Das letzte Wort nach mühseliger Arbeit des Geistes, der sich durch alle Widersprüche quälen musste, kann nur die Synthese sein. Der Weltgeist muss als so kräftig angesehen werden, dass er keine Angst vor Konflikten hat, den Kampf gegen das Unversöhnliche kämpft, und als letztes Wort der Geschichte die Versöhnung aller Dinge ausruft.

Das ist die Logik der Hegel‘schen Dialektik. Auf der unteren Stufe der blanke Gegensatz, der unüberbrückbar scheint. Auf der letzten Stufe das Heimkommen aller Widersprüche und Konflikte im Hafen des Kosmos – den er Gott nennt. Gott ist die Identität der Identität und Nichtidentität.

Auf Deutsch: die Versöhnung des griechischen Kosmos – der mit sich identisch ist – mit der nichtidentischen Schöpfung der Christen – die den Teufel und das Böse für immer ausschließen –, zur Identität von Griechentum und Christentum, von Vernunft und Glauben.

Hegel musste scheitern. Die Harmonie seines Kopfes verwechselte er mit der Welt, die mit bloßem Wünschen nicht harmonisierbar ist. Das christliche Credo ist mit der Welt nicht vereinbar. Denn mit einer ewigen Hölle ist kein ewger Bund zu flechten. Auch ein ewger Himmel wird mit seinem höllischen Gegenteil nie kohabitieren. Und beide werden mit dem schönen Kosmos nie auf einen Nenner kommen.

Die Auflösung des dialektischen Widerspruchs in einer höheren Harmonie: das war der Beglückungstraum der Deutschen, die die Konflikte der Welt mit göttlicher Harmonie lösen wollten. Doch Gott erlöst die Menschen mit blutiger Gewalt und Myriaden an Opfern. Die deutsche Synthese wurde zur Zwangsbeglückung und zum Verderben der Menschen. Hegels Symbol war die lutherische Rose am jesuanischen Kreuz. Die Rose verdorrte, das Kreuz gewann.

Der fanatische Optimismus als Glaube an eine finale Versöhnung muss zur Gewalt über die Menschen führen, denn sie sind unfähig, aus eigener Kraft und Einsicht ihr Glück zu realisieren. Das Glück der Menschen kann nur durch eigene Einsicht kommen.

Einsicht will bestehende Widersprüche nicht wegzaubern. Sie erforscht die Ursachen der Konflikte und schlägt durch Streiten und Verstehen die Brücke zum Gegner, in der Hoffnung, einen Partner zu gewinnen.

Hegels Synthese schien theoretisch unwiderlegbar, doch die politische Praxis der Völker hat sie grausam zur Kenntlichkeit entlarvt, die gar nicht daran dachten, ihre Widersprüche einem dialektischen Optimismus zu unterwerfen.

Auch Gottes Synthese scheint unwiderlegbar. Sie verweist auf die Schlussharmonie am Ende aller Tage – die deshalb verzieht und die Menschen äfft, weil sie eine Fata Morgana ist. Am Hoffen und Harren erkennt man den Narren.

Das Christentum ist eine Mischmoral, eine Moral aus verschiedensten Jahrhunderten und Kulturkreisen mit den härtesten Widersprüchen. Aus einem System mit Widersprüchen folgt Beliebiges. Keine schreckliche Tat wird ausgeschlossen oder kann von guten Taten kompensiert oder ungeschehen gemacht werden. Die guten Taten des Diktators mildern nicht seine Völkerverbrechen.

Gute und böse Taten können nicht gegenseitig aufgerechnet werden. Wähle ich eine gute Tat, wirkt sie kraftlos, denn ebenso hätte ich eine böse wählen können. Wähle ich eine böse Tat und bezeichne sie als gut, mache ich eine schlechte zur höllischen Tat.

Gegen das offensichtlich Schlechte könnte ich kämpfen, doch gegen das Schlechte in liebender Motivation bin ich machtlos. Ein Gott, der in Liebe die Menschen abschlachtet, ist für mich schlimmer als der Teufel, den ich hemmungslos verfluchen darf. Das Böse als angeblich Bestes im Namen des Heiligen: das ist der Supergau aller Moral.

Wer das Christentum verteidigen will, beruft sich auf die Moral der Liebe. Vergeblich, Liebe macht das Böse zum Willen Gottes, der jeden Menschen zu Nichts macht. Ein widersprüchliches System kann nicht widerlegt werden. Argumentiere ich gegen eine böse Tat im Namen Gottes, ziehen die Frommen ihr reichhaltiges Register und verweisen auf eine gute Tat im Namen des Herrn. Diese Beliebigkeit macht das christliche Credo unfalsifizierbar.

Im Zeichen dieser Unwiderlegbarkeit hat es die Welt erobert und sich zur ecclesia triumphans entwickelt. Der größte Triumph des christlichen Systems wird sein, wenn es seinen Endsieg ausruft: just in dem Moment, wo es die Welt zertrümmert.

Wir haben nur eine Chance, um zu überleben: wenn wir uns widerlegbar machen. Wenn wir all unsere Taten auf den Prüfstand stellen. Im Heiligen sind Gut und Böse identisch, Gott und Teufel eine einzige Person. Der gläubige Mensch ist oberhalb aller Moral. Alles ist ihm gestattet, weil er gottgleich ist.

Der autonome Mensch hingegen unterscheidet präzise das Gute vom Bösen. Er prüft seine Taten, liebt das Gute und lässt das Böse.

Die Menschheit muss die Mischmoralen der großen Religionen überwinden. Moral, die mit der Natur im Einvernehmen leben will, muss eindeutig werden.

Noch benutzen wir das Böse, um das Gute zu befördern. Die kapitalistische Moral ist eine christliche Mischmoral, in der nichts verboten ist, solange es Profit oder Seligkeit bringt. Das Böse dient dem Kapitalismus als Mittel, um einen guten Endzweck zu erreichen. Wir müssen uns niedermachen, um uns zu nützen.

Vergessen wir nicht, ein unkorrigierbar Böses gibt es nicht. Gott und Teufel sind Erfindungen der Mythologen. Schreckliches und Unheilvolles können wir nur verhindern, wenn wir Gutes gut und Böses böse nennen. Alles prüfet, nur das Gute behaltet. Das Böse muss durchschaut und durch Selbsterkenntnis entkräftet werden.

Ein unüberprüftes Leben ist nicht lebenswert.