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Die SPD

Hello, Freunde der Politjunkies,

die SPD ist eine empathische Partei, sie lässt ihre männlichen Mitglieder in der verlängerten Midlifekrisis nicht allein. Wenn jemand in die Partei hineinruft: Soll das mein Leben gewesen sein? Immer nur gutbetuchte Vorträge zu halten und mit Helmut Schmidt Schach zu spielen – ist das ein Leben, kann das ein Leben sein? kommen Vertreter der Partei und fragen mitfühlend: Würde es dir helfen, wenn du eine zeitlang Kanzlerkandidat spielen würdest?

Keine Sorge, du wirst nicht Kanzler, dafür sorgen wir mit verlässlich miserablen Umfragewerten. Du musst den Kandidaten nur überzeugend spielen. Als tapfer geschlagener Heros kannst du anschließend in vielen Talkshows deine Wunden lecken, ein Buch schreiben und – in einem geruhsamen postpolitischen Leben lukrative Vorträge vor Bankern halten. Komm Peer, sei kein Frosch. Du lernst Deutschland aus jedem Winkel kennen, auf jedem Marktplatz kannst du dynamisch um dich kreisen, ohne von der Stelle zu kommen. Der peersche Kreisel wird in die Geschichte der politischen PE-ER-Arbeit eingehen.

Die Linken in Europa lösen sich allmählich auf. Die deutschen Sozis wissen nicht mehr, wofür sie stehen, trotz gelegentlicher Denkhilfen aus dem Mutterland des Kapitalismus. Blair half Schröder mit Antony Giddens Drittem Weg, – einem Weg ins Nirgendwo –, nun wird Colin Crouch eingeflogen, um mit der Proletenbasis Schnappatmung einzuüben. Wo sind die großen alten Männer der SPD, die Vogels und Epplers, die allen Schröderwendungen ihren christlichen Segen gaben?

Nicht nur Merkel, auch der Papst überholt die Bebelerben sozialdemokratisch. Franziskus wird gar antikapitalistisch-kommunistisch, in Deutschland müsste

man ihn vom Verfassungsschutz überwachen lassen. Beide entwenden den Proleten in aller Öffentlichkeit ihr Alleinstellungsmerkmal. Was bleibt ihnen, als in blitzschneller Volte die leeren Plätze der Vertreter der Reichen einzunehmen? Unsere großen Parteien spielen Bäumchen wechsle dich.

Ulrike Herrmann ist eine der Wenigen, die den Positionswechsel bemerkte: „Wie gesagt, die Reichen dürfen auf keinen Fall belastet werden. Man muss ein Volk von Masochisten sein, wenn man die Privilegierten schont und sich selbst willig schröpft.“

Es war nicht das erste Mal, dass die Partei Willy Brandts den Mittelschichten das Geld aus der Tasche zieht, die Unterschichten als Hängemattenbesitzer unflätig beschimpft: „Es ist nicht das erste Mal, dass die Reichen profitieren, während die Mittelschicht zahlt. Legendär sind die rot-grünen Steuerreformen, die vor allem Spitzenverdienern und Unternehmen zugute kamen. Das kostet bis heute 50 Milliarden Euro im Jahr. Damit es haften bleibt: 50 Milliarden Euro. Für die Reichen. Jedes Jahr.“ (Ulrike Herrmann in der TAZ)

Womit klar ist, dass die gar nicht sozialdemokratische Merkel die reichenfreundliche SPD über den Tisch gezogen hat. Die Hartz4-Bestrafungsaktionen waren nicht mal Gegenstand der Debatte. So wenig wie das belanglose Thema Klima. Stattdessen werden die Kleinen gegen die Kleinen ausgespielt. Renten für Mütter, dafür kein Geld für junge Bafög-Studenten. Die Alten gegen die Jungen, die Verheirateten gegen die Singles. Die Wenigverdiener gegen die Nichtsverdiener.

Divide et impera: die Schwachen müssen im Circus Maximus gegeneinander antreten, die Reichen sitzen unbelästigt auf der Tribüne und senken den Daumen. Der Lieblingssport der deutschen Mittelschichten ist die Rettung der Reichen, selbst auf eigene Kosten.

Diese Absurdität kann man nur durch einen Blick ins gruppendynamische Klima deutscher Bourgeoisfamilien erklären, in der sie als die älteren Geschwister vor den jüngeren, motzenden Nachkömmlingen (den Unterschichten) die Rolle der geplagten Eltern (oder der Reichen) verteidigen müssen: Merkt ihr nicht, dass ihr den Alten auf der Tasche liegt? Die können sich anstrengen wie sie wollen, ihr fresst ihnen die Haare vom Kopf. Wo soll denn das Geld herkommen, das ihr den ganzen Tag verprasst?

(Es gibt eine bestimmte Sorte hausmütterlicher Wirtschaftsjournalistinnen, die mit gequältem Blick – etwa Frau Göbel von der FAZ – die Anmaßungen der Unteren mit dem Satz abwehren: wer soll denn das Geld erwirtschaften, das die leichtsinnigen Parasiten für sich fordern? Merke: nur die Reichen erwirtschaften den Wohlstand der Nation; die Armen wollen die Reichen nur ausnehmen.)

Ulrike Herrmann ist so wütend oder verzweifelt, dass sie nicht mal vor Wählerschelte zurückschreckt, normalerweise ein Tabu in deutschen Medien, die das unwürdige Volk schon abgeschrieben haben: „Aber wehe, die Bereicherung der Reichen soll korrigiert werden. Dann stimmt die Mittelschicht sofort dagegen. Manchmal wäre es doch schön, wenn man sich ein neues Volk wählen könnte.“

Worin besteht die Agenda der ESSPEDEE? Dass sie den Verrat an allem predigt, was der Partei früher richtig schien. Die Bottropper müssen jene Aufsteiger preisen, die nicht anderes zu tun haben, als die Malocher hinter sich zu lassen und sie – oben angekommen – als Loser zu beschimpfen. Man sieht, es gibt auch deutschen Selbsthass.

Die Botschaft der SPD lautet: alles ist gut, was uns niedermacht. Schröder, mach uns den Armani, wir Trottel haben es verdient, dass du uns zur Schnecke machst. Die Bottropper stehen an den Zäunen der Villenbesitzer und zeigen mit dem Finger auf das Gartenfest der Reichen: siehste, den Braungebrannten dort mit der Zigarre und der großen Klappe? Der hat bei uns im Ortsverein als Jusovorsitzender begonnen. Dann gehen sie traurig nach Hause und bemitleiden sich bei „Bohlen sucht den Superstar“, dass sie wieder einmal ihre Gesinnung geopfert haben, um dem Nachwuchs keine Steine in den Weg zu legen.

Nicht die Herkunft schändet – im Gegenteil, alle Emporkömmlinge rühmen sich der kleinen, sehr kleinen Verhältnisse, aus denen sie stammen –, sondern die Unfähigkeit, den miesen Verhältnissen ihrer Losereltern entkommen zu sein. Was wäre der Supererfolg der Proletenpartei? Wenn jeder der Ihren so erfolgreich in die oberste Etage der Superstars aufstiege, dass alle Bottropper Ortsvereine mangels minderwertiger Mitglieder schließen müssten.

Die Stars der Partei, die nur die Besten wollen, merken nicht, dass sie all jene, die nicht zu den Besten gehören – die Gekränkten und Gedemütigten – dem Müll der Geschichte übergeben haben. Dieser menschliche Schrotthaufen war mal ihre Klientel. Dafür schämen sie sich heute noch. (Auch Marx distanzierte sich vom Lumpenproletariat, das auf keinen Fall das Reich der Freiheit verdient hätte.)

Wer sind die Besten? Die Erben der Übermenschen des 19. Jahrhunderts, die über viele Leichen Mittelmäßiger, Bescheidener und Ehrgeizloser nach oben geklettert waren. Als die revolutionäre Partei den Bernstein‘schen Schwenk ins Bürgerliche gemacht, sogar dem Kaiser zuzujubeln begann und von den Reichen zwei Brosamen mehr Bestechung bekommen hatte, hatten sie ihr Marx‘sches Erbe verraten und verkauft. Ja auch sie, die Kleinen, waren korrupt und ließen sich von ein bisschen Wohlstand kaufen.

Das hat ihnen bis heute das Genick gebrochen. Um sich dies zu verheimlichen, machten sie aus ihrer Schande eine neue Ideologie. Die Proleten, von Bismarck verleumdet, verboten und verfolgt, waren nach Rückkehr ins nationale Lager – die Zeit ihrer Drangsale war ihr größter Triumph, dem eisernen Kanzler zeigten sie, dass sie nicht unterzukriegen waren – nicht nur ihrer marxistischen Herkunft untreu geworden, plötzlich standen sie ideologisch nackt und bloß vor dem Klassenfeind, der keiner mehr sein durfte. Dafür sorgten die preußischen Militaristen, die auf dem Feld der Ehre den Gott der Geschichte herausforderten, um die Deutschen als Heilande Europas auszurufen.

Im Zweifel folgten deutsche Genossen dem Ruf nationaler Geschlossenheit – heute in Form patriotischer Kompromisse einer Großen Koalition. Nackt und bloß deshalb, weil sie Marx verlassen hatten – ohne ein neues revolutionsloses Rezept für eine gerechte Gesellschaft zu entwickeln. Das hat sich bis heute nicht geändert. Das Proleten-Über-Ich verurteilt die Revolution; das Proleten-Es trauert ihr nach und verurteilt sich selbst, weil es der Revolution abgeschworen hat. Hat es ihr nicht abgeschworen, weil es zum Umsturz zu feige war?

In der jetzigen Koalitionsdramaturgie kann man alle verdrängten Verhaltensweisen der SPD im Schnelldurchgang erleben. Als da sind die Bottroper mit der Faust in der Tasche und dem verglasten Blick längst vergessener Radikalität: diese Merkel wird uns nicht über den Tisch ziehen.

Die Wiederholung der unterdrückten Revolution dauert drei Tage, dann kommt schon die Bernstein‘sche Abkehr von der geballten Faust zugunsten des verbissenen Realitätsprinzips: Genossen, die Stunde nationaler Not gebietet, uns vaterländisch zu verhalten. Wir müssen dem Kompromiss zustimmen, alles andere wäre revolutionäre Romantik. Hat Kollege Münte nicht gesagt, jede Opposition sei Mist – und unter uns: hat Münte nicht Recht?

Ab jetzt zeigen die Gerechtigkeitsidealisten, dass sie nicht mehr kindisch dem Lustprinzip folgen müssen. Sie haben das saure Geschäft des machiavellistischen Realitätsprinzips verstanden, sind erwachsen geworden und reichen die Karte der Blauäugigen an andere Parteien weiter: die Grünen, Linken oder die Piraten. Ab jetzt wissen sie, was es bedeutet, seiner jugendlich-reinen Gesinnung untreu zu werden. Allein, der Ruf in der Not gebietet.

Doch sie bleiben zerrissen. Ihr Es bleibt marxistisch und träumt vom großen Schlag, ihr Über-Ich erlernt die neuesten Wallstreet-Vokabeln, um die Zocker mit eigenen Waffen zu schlagen, ihr Ich schwankt unregelmäßig zwischen Marx-Revival und erzwungenem Respekt vor dem Mammon.

Eine rationale Ich-Ideologie gegen die Ungerechtigkeit in der bösen Welt: das haben die Genossen bis heute nicht. Sie wissen nicht mal, warum sie von Marx Abschied genommen haben. Im Kapital wird’s schon stehen, wenn man nur verstünde, was im heiligen Buch steht.

Nach der atheistischen Frühepoche ihrer Partei sind die meisten wieder Christen geworden.

Nun haben sie zwei Bibeln und verstehen keine einzige. Hätten sie aber mal Zeit und Muße, wie würden sie das Kapital durchackern, dass kein Stein auf dem andern bliebe. In den Anfängen der Partei waren die Proleten vorbildlich bildungshungrig. Kein Sonntag, wo sie in ihren Arbeiterklubs nicht alles Mögliche paukten, um den Bildungsabstand zu den Bürgerlichen nicht zu groß werden zu lassen.

Inzwischen ist von Neugierde und Lernenwollen nichts mehr zu bemerken. In den Kreisen der Lohnabhängigen liest man nicht mehr. Zumal es in Deutschland keine Intellektuellen gibt, die ihren versteckten Erkenntnishunger stillen könnten. Wer hat Marx kritisiert? Mit welchen Argumenten? Welche neueren Bücher und Namen müsste man zur Kenntnis nehmen, um der Stagnation zu entkommen?

Auch die 68er-Studenten – mit einem parallelen Entwicklungsgang wie die SPD-Kämpen – hatten keinen Ausweg gefunden, als ihre ersten revolutionären Blütenträume zerstoben. Marx war durch den real existierenden Sozialismus bis auf die Knochen blamiert, einen Dritten Weg gab es nicht. Was war bitte ein Sozialismus mit menschlichem Angesicht? Alles bunte Luftballons, längst ohne Trauerarbeit zerplatzt.

Kein Prolet weiß, dass Marx derselben Heilsgeschichte anhängt wie die Christen. Nur, dass er sie dialektische Geschichte der materiellen Verhältnisse nennt. Die Heilsgeschichte der Christen kennt er sowenig wie die Ähnlichkeit zwischen Jesusjüngern und Marxanbetern.

Der Name des Hegel- und Marxkritikers Popper ist ihm so unbekannt wie Marxens Meinung, dass der revolutionäre Klassenkämpfer genau so passiv ist gegen die Geschichte wie die Stillen und Frommen im Lande. Marxens revolutionäre Pose ist so wörtlich zu nehmen wie die Fanfaren der Christen über Freiheit und Gerechtigkeit Gottes.

Die Freiheit der Frohen Botschaft ist die Loslösung des Menschen von der irdischen Welt, die Gerechtigkeit Gottes seine Fähigkeit, dem Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, identisch mit dessen Erlösung von aller Sünd und Schand. Mit politischer Freiheit und Gerechtigkeit haben beide Begriffe nichts zu tun.

Wie sie sich heute Christen nennen, ohne ihrer Religion zu kennen, so nannten sie sich Marxisten, ohne Marx zu kennen und genauso nennen sie sich heute soziale Marktwirtschaftler, ohne die Gesetze des Marktes zu kennen.

Hätte Marx-Kritiker Popper der Nachfolger Bernsteins sein können, indem er den verwaisten Ex-Marxisten ein gerechtes Gesellschaftsmodell hätte zeigen können? Seine Hegel- und Marxkritik war überzeugend – von einer allmächtigen Heilsgeschichte müssen wir Abschied nehmen –, aber was dann?

Popper war befreundet mit Hayek, einem der Gründerväter des Neoliberalismus, dessen Bücher er fast immer lobte. Wo blieb die Kritik des Sozialdemokraten an Hayek, der alle sozialen Begriffe für inhaltslose Wieselworte hielt?

In seinem Hauptwerk „Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde“ – ein fundamentales Werk gegen den Nationalsozialismus, die Herleitung des europäischen Faschismus aus platonischen Wurzeln – vertrat er noch eine sozialdemokratische Politik, die er Stückwerk-Technologie nannte. Eine gerechte Utopie auf Erden sei nicht möglich, ja geradezu gefährlich. Wer den Himmel auf Erden holen wolle, würde die Hölle installieren. Nur die größten Übel könne man beseitigen durch eine vorsichtige Versuchs- und Irrtumspolitik.

Doch welche Übel sind die schlimmsten? Poppers Sozialpolitik blieb im Vagen. Anstatt sich von Hayek zu distanzieren, schlüpfte er bei ihm unter. Nicht mal Poppers deutsche Meisterschüler bemerkten den riesigen Widerspruch zwischen Poppers Stückwerk-Technologie und dem Neoliberalismus seines großen Gönners Hayek. Die „Kritischen Rationalisten“ haben sich mit diesem Thema nie beschäftigt.

Helmut Schmidt war vor Zeiten ein begeisterter Popperianer, von Popper hat man aus seinem Munde schon lange nichts mehr gehört. Versteht sich, dass solche Debatten das Parteivolk nie erreichten. Es wäre ein Wunder, wenn Sigmar Gabriel Auskunft gebe könnte über die Irrungen und Wirrungen seiner schizophrenen Partei. Die Theorie der Gerechtigkeit ist auf Talkshowniveau geschrumpft. Rentenerhöhung ja oder nein? Mindestlohn ja oder nein? Familiensplitting ja oder nein? Das war‘s. Der Rest ist Schweigen.

(Wiki ist die beste Erfindung des Internets, eine Enzyklopädie aus Volkes Hand. Gleichwohl scheinen Lobbyisten großer Institutionen ihre Sicht der Dinge durch anonyme Lexikonartikel in die Öffentlichkeit lancieren zu wollen. Wer den Gerechtigkeitsartikel liest, um vielleicht zu erfahren, was unsere Gesellschaft falsch macht, der wird das Gelände mit Grauen verlassen. Er wird derart mit Schlagworten bombardiert, dass er die Hoffnung aufgeben muss, über Gerechtigkeit etwas Sinnvolles zu erfahren. Wenn schon die Gelehrten nur Bahnhof verstehen, wie soll er sich vermessen, die Realität gerechter zu machen? Der Aufklärungszweck der Enzyklopädie ist zur Verdunkelung verkommen. (Wikipedia: Gerechtigkeit)

Debatten über Wirtschaft, Gerechtigkeit, Gott und die Welt sind spurlos verschwunden. Die Menschen sind so ausgelaugt, dass sie keine Energie mehr für Lesen und Denken übrig haben. Das ist gewollt. Früher wurden Menschen mit Religion zugeschüttet, dass sie nicht zum Nachdenken kamen, heute werden sie mit Wirtschaft zugemüllt.

Wer sich ständig ängstigen muss, ob er die Seligkeit verpasst (früher) oder wirtschaftlich absteigen muss (heute), der hat keine Reserven mehr frei, um über die wichtigsten Fragen seines Lebens nachzudenken. In den Gesellschaften mit dem größten Wohlstand der Geschichte ist Denken zum Luxus geworden, den sich kaum noch jemand leisten kann.

Die SPD ist nicht in der Lage, ihre uralte und widersprüchliche Biografie aufzuarbeiten und mit sich ins Reine zu kommen. Sie ist nicht mal fähig, die neoliberalen Steigbügelhalter Schröder & Co in den Senkel zu stellen und die Riesenfehler ihrer Vergangenheit richtig zu stellen. Es bedarf heute keiner Großen Koalition mehr, um vertretbare oder faule Kompromisse in die Welt zu setzen. Das Profil der Parteien ist so ausgefranst und unscharf geworden, dass sie ohne viel Federlesen auf der Stelle miteinander koalieren könnten – ohne ihre Kompromisse überhaupt zu bemerken.

Peer Steinbrück entfachte als Kanzlerkandidat ein großes Gebläse, um die Republik auf Vordermann zu bringen. Nach der verlorenen Wahl denkt er über einen Rückzug aus der Politik nach. Mit der Begründung, er sei noch nie ein Politjunkie gewesen. Ein Junkie?

Als Junkie wird ein Mensch bezeichnet, „der im fortgeschrittenen Stadium von Drogen wie Heroin oder Crack abhängig ist. Der Begriff bezeichnet weniger sozial unauffällige, als vielmehr stark von ihrem Drogenkonsum gezeichnete Süchtige.“

Da haben wir noch mal Glück gehabt, dass kein verwahrloster Drogenabhängiger Kanzler geworden ist und dass der forsche Peer das Vokabular der Jugendsprache beherrscht.

Doch kann es sein, dass Peer etwas ganz anderes meinte? Dass Politik für ihn gar keine Leidenschaft, geschweige eine moralische Pflicht ist? Dass sie ihm nur dazu dient, seine Lebenskrisen mit Event-Abenteuern zu übertünchen?

Max Weber erkannte einen guten Politiker an dessen Leidenschaft und Augenmaß. Warum geht Steinbrück nicht ins Kabinett, um seine Vorstellungen in Form von Kompromissen zu realisieren? Gibt es bei ihm nur Alles oder Nichts? Entweder Oder? Entweder Kanzler oder Nichts? Das soll politische Leidenschaft mit Augenmaß sein?

Ist es nur pubertäre Eitelkeit, die den Verlierer daran hindert, mit der Gewinnerin zusammenzuarbeiten? Hat er Angst, dass er ihr nicht gewachsen ist? Und was gedenkt er nun als Privatier zu tun? Vorträge halten?

Angeblich erst mal nicht. Braucht er eine Schamphase, um sich nicht völlig zu entblößen? Eines Tages aber könnte er sich Vorträge durchaus wieder vorstellen. Vermutlich keine hochdotierten vor Bankern, sondern kostenlose vor Hartz4-Heloten, denen er zeigen könnte, wie man sich köstlich, gesund und diätetisch ernähren kann, wenn man über das Privileg eines leeren Geldbeutels verfügt. Freilich, einen guten Tropfen über 5 Euro: den könne man sich nur leisten, wenn man seine Trägheit überwindet und die Gnade eines Arbeitsplatzes erfährt.

Für Gnadengaben freilich seien SPD-Politiker nicht zuständig. Rechtzeitig zum Beginn des Wahlkampfes hatte der ungläubige Steinbrück sein ganz persönliches Verhältnis zum himmlischen Vater geordnet. Ohne Gang nach Canossa hätte ihn die fromme Aufsteigerpartei nicht akzeptiert.

Ob er nach der verlorenen Wahl zum rechtgläubigen Atheismus zurückkehren wird? Es ist zu befürchten.