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Unkraut unter dem Weizen

Hello, Freunde lupenreiner Demokraten,

Schröder relativiert nicht. Für ihn ist Putin nach wie vor ein lupenreiner Demokrat. Auf die wachsende Kritik an seinem Freund lässt er sich gar nicht erst ein: „Ich relativiere meine Haltung zu Putin nicht. Und ich nehme ihm ab, dass er sich die Demokratie als seine Perspektive vorstellt, das ist meine Überzeugung aus vielen Gesprächen.“(BILD)

Gemessen an Vorstellungen und Perspektiven wäre Dabbelju Bush noch ein größerer Demokrat als Putin gewesen. Warum hat Schröder dessen demokratiefördernden Krieg gegen Saddam nicht unterstützt? Antwort: weil Gazprom kein amerikanischer, sondern ein russischer Konzern ist, der Schröder mit lupenreinen Rubeln bezahlt.

Jeder Abteilungsleiter, der sein widerrechtliches Tun mit Zukunftsabsichten und guten Vorsätzen legitimiert hätte, wäre von einem Kanzler Schröder an die Luft gesetzt worden.

Warum müssen es ausgerechnet Ex-Kanzler aus der SPD sein – wie Helmut Schmidt und Schröder –, die ihre Freundschaften am liebsten unter Autokraten und Menschenrechtsverächtern suchen? (Schmidts Augen beginnen nur bei Mao Tse Tung und Singapurs Herrscher Lee zu leuchten.) Auch Henry Kissinger, der sich in Chile als lupenreiner Imperialist gebärdete, gehört zu Schmidts besten Freunden.

Menschenrechte in internationaler Politik? Davon halten westliche elder statesmen nicht viel. Für Proletenaufsteiger ist Moral eine familiäre, eine nationale Angelegenheit. Fremde Völker, weit ab von allem Christentum, kennen keine

Menschenrechte. Ob sie überhaupt vollwertige Menschen sind?

Rent-seeking – schon mal gehört? Wiki übersetzt den Begriff aus dem modernen Wirtschaftslatein mit „politischer Rente“. Die Wirtschaftsartikel in Wiki sind reine Volksverdummungen. Wer sie wohl verfasst hat?

„Rent-Seeking[1] (von engl. „rent“ = Pacht, Miete und „to seek“ = erstreben, begehren) bezeichnet nach der neoklassischen Theorie ein Verhalten ökonomischer Akteure, das darauf zielt, staatliche Eingriffe in die marktvermittelte Ressourcenallokation herbeizuführen, um sich hierdurch künstlich geschaffene Renteneinkommen aneignen zu können.[2] Einfach ausgedrückt fasst man darunter Aktivitäten Einzelner oder von Interessengruppen zusammen, die im politischen Prozess Einfluss nehmen. Sofern Rent-Seeking nicht mit der Bestechung von Entscheidungsträgern verbunden ist (im Sinne von Korruption), bezeichnet man den Prozess auch als Lobbying.“

Man könnte auch von Betrug sprechen. Von Verstoß gegen Marktregeln, die niemanden bevorzugen dürfen. „Künstlich geschaffene Renteneinkommen“ sind illegale oder verbrecherische Profiterschleichungseinkommen.

Rent-Seeking ist mit Bestechung nicht verbunden, es ist die Bestechung selbst. Der Staat wird – mit oder ohne Geld – bestochen, die Einen zu bevorzugen und die Anderen zu benachteiligen. Wenn das im Sport passiert, ist es Betrug. Wenn in der Wirtschaft, ist es „politische Rente“.

Der Grünen-Abgeordnete Gerhard Schick hat ein Buch über „Macht-Wirtschaft – nein, danke! Für eine Wirtschaft, die uns alle dient“ geschrieben, in dem er den Begriff des Rent-Seekings beschreibt:

„Ob Energiewende, Finanzbranche oder Agrarsektor: In all diesen Branchen geht es Unternehmen vor allem darum, durch Nähe zur Politik den fairen Wettbewerb auszuschalten.“ (Christian Rickens im SPIEGEL)

Markt ist ein Wirtschaftsspiel, in dem die Regeln für alle gleich sein sollen. Schiedsrichter und Aufpasser soll der Staat sein. So weit die Märchenversion.

Für Schick ist Markt kein faires Spiel, sondern ein Machtinstrument. Marktteilnehmer mit der größten Macht bestimmen die Regeln oder legen sie in ihrem Interesse aus.

Die Parallelen zur theologischen Deutungsmacht liegen auf der Hand. Gottesmänner bestimmen die Regeln der Schriftdeutung, Geldmänner die Deutungsregeln des Marktes. Ohne Macht wären die hermeneutischen Regeln im Dienst eigener Interessen nicht beliebig veränderbar. Mit anderen Worten: Geldmänner sind Gottesmänner des heiligen Marktes.

Wer Begriffe und Regeln „besetzen“ kann, der ist imperialistischer Herr über die Gedanken der Menschen. Edward Bernays, Neffe Freuds und einer der Begründer der modernen Werbe-Ideologie, hat seine Gedankenbesetzungsmethoden noch in Klardeutsch beschrieben:

„Wenn wir den Mechanismus und die Motive des Gruppendenkens verstehen, wird es möglich sein, die Massen, ohne deren Wissen, nach unserem Willen zu kontrollieren und zu steuern“.

Die Marktregelnbestimmer tun dasselbe wie die Werbepsychologen. Da sie Macht besitzen, den Pöbel hinters Licht zu führen, erwecken sie den Eindruck, als funktionierten die Regeln des Marktes regelgerecht. Die Wiki-Schreiber reden sogar von rational – auch wenn es Betrug sein sollte: „Rent-Seeking, das erfolgreich ist, ist also individuell rational und vorteilhaft, aber kollektiv irrational und für die Volkswirtschaft schädigend.“

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Erfolgreich ist rational auf persönlicher Ebene, auch wenn es kollektiv irrational und gesellschaftlich schädigend ist. Hier haben wir unsere doppelte Moral à la Mandeville. Öffentliche Laster – private Tugenden. Individueller Egoismus ist immer rational, auch wenn er auf öffentlichem Betrug beruht. Merci für die Klarheit, ihr Wiki-Begriffsbesetzer vom BDI.

Moral ist für die Kinderstube, im öffentlichen Bereich der Wirtschaft und Politik hat sie nichts zu suchen. Das ist die Botschaft der Amoralapostel, die ihre Rent-Seekings-Regeln verteidigen müssen, wohl wissend, dass sie jenseits von Gut und Böse sind.

Die beiden Moralen haben ihren Ursprung bei Augustin, der zwischen der hochmoralischen Kirche und der moralfreien staatlichen Räuberhorde unterscheidet. Das moralische Privatleben entspräche der Kirche, der amoralische Bereich umfasste die räuberischen Horden aus Wirtschaft und Politik.

Die Amoral beginnt bereits bei der Definition des Marktes. Paul Samuelson, ein berühmter Ökonom, definiert Markt: „Ein Markt ist ein Mechanismus, mit dessen Hilfe Käufer und Verkäufer miteinander in Beziehung treten, um Preis und Menge einer Ware oder Dienstleistung zu ermitteln.“

Was ist ein Mechanismus? Eine Maschine, ein Werkzeug. Der Markt ist eine Maschine. Kennt jemand moralische Maschinen oder ethisch eingestellte Werkzeuge? Kein Hammer kümmert sich um den kategorischen Imperativ, unterschiedslos schlägt er guten und bösen Menschen den Schädel ein.

Es gehört zu den katastrophalen Wirkungen des Karl Markx, pardon Karl Marx, dass er jedwede Moral verhöhnte und eine gerechte Gesellschaft auf moralfreie, naturgesetzliche Art erreichen wollte. Alle Moralisten hielt er für rückwärtsgewandte Mondanbeter, die das Wesen der Geschichte nicht kapiert hätten – die er, Marx, ans Licht gebracht hat.

Dass Geschichte nach unveränderlichen Gesetzen verläuft wie die Natur, halten einige Linke heute noch für richtig. Weshalb sie ihr revolutionäres Engagement für eine wissenschaftliche Angelegenheit halten, die alle privaten Tugendpredigten widerlegt. Die Linken nehmen nicht zur Kenntnis, dass Marx in dieser Frage zu den Romantikern gehört, welche Geschichte als Heilsgeschichte anbeten.

„Revolutionären Attentismus“ hat ein Marx-Kritiker den Linken bescheinigt: eine fiebrige Abwartehaltung, ein ungeduldiger Quietismus. Kein Wunder, dass man 68er Studenten eine sterile Aufgeregtheit bescheinigt hat. Immer mit eruptiven Revolutionsreden – unbeweglich auf der Couch!

Seit dem Fall der Mauer ist die Hysterie verflogen und hat sich bei erfolgreichen Proleten in eiskalten SPD-Machiavellismus verwandelt. Sie wissen Bescheid in der Welt, die Tricks und Brutalitäten der Mächtigen kennen sie auswendig. Wer Moral hat, ist ein utopischer Schwärmer.

Nach Hegel soll Philosophie nicht erbaulich sein – schließlich bestimmt der Weltgeist die Geschichte und nicht der Einzelne –, nach Marx sollen wirtschaftliche und politische Wissenschaft nicht moralisch sein. Schließlich bestimmt die Geschichte das Geschick der Menschheit.

Wie kann eine gefühl- und gedankenlose Maschine für „Marktgleichgewicht“ sorgen? Angebot und Nachfrage immer zum Ausgleich bringen? Das ist so abenteuerlich, dass man die klassischen Vertreter des Marktgleichgewichts für meschugge erklären muss. Woher weiß der Markt – ein bloßer Begriff ohne Blut, Gehirn und Knochen –, wie viele Marktbesucher heute mehr Broccoli und morgen mehr Spargel nachfragen?

Vor allem: mit welch genialen Methoden sollte er wechselnde Nachfragen und Angebote automatisch zum Ausgleich bringen? Das wäre, als ob ein Auto einen Raser selbständig zur Mäßigung und einen Schleicher auf Normaltempo bringen könnte.

Hier sehen wir, dass Markt ein göttliches Instrument sein muss oder – wie bei Hayek – ein Instrument der allwissenden Evolution. Bei Adam Smith ist Markt die Unsichtbare Hand, die den sichtbaren Markt auf Vordermann bringt und alle egoistischen Widersprüche der Gesellschaft in Harmonie auflöst. (Bei Adam Smith kommt der Begriff Markt fast nicht vor.)

Marx musste das Kunststück vollbringen, den amoralischen Markt des Kapitalismus so zu schildern, dass dieser moralfrei – seine teuflische Unmoral offenbart. Wer dies verstanden hat, wird nachempfinden, warum der geniale Trierer so dunkel schreibt wie Heidegger vor und nach der Kehre.

Doch genau die Dunkelheit seiner Werke brachte ihm seinen Welterfolg. Die nach Gerechtigkeit dürstenden Völker und Proleten hielten ihn für den Messias des Reichs der Freiheit, weil sie ihn nicht verstanden haben.

Jahrhundertelang hatte man ihnen eingebläut, dass theologische Dogmen wahr sein müssen, weil sie ihnen absurd erschienen. Credo, quia absurdum: der Satz des Kirchenvaters gilt noch heute für die Riege der 12 letzten Marxgläubigen – und für die vielen Exlinken, die im Grunde ihres Herzens noch immer auf die Wiederkehr des toten Propheten hoffen und warten.

Natürlich haben die Mächtigen von der ersten Sekunde an die Regeln des Marktes in ihrem Sinn bestimmt und willkürlich verändert. Wer Macht hat, kann nicht glauben, dass er sie zu Unrecht hat. Also hat er Macht, sie nach Belieben einzusetzen.

Wir befinden uns in einer Kultur religiöser Macht. Dem Gläubigen wird von Gott Macht gegeben. Er gab ihnen Macht über alle Teufel. Macht, auf Schlangen zu treten. Zu heilen, Wunder zu tun. Macht über Plagen, über die bösen Geister, Macht über die Heiden. Macht über Tod und Teufel: Ich habe euch gesetzt über jede Gewalt und Macht und Kraft und Hoheit, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen.

Ist der Markt aber ein Machtunternehmen, kann es keine Gerechtigkeit geben. Wenn die Eliten durch einseitige Gesetze einen überproportionalen Anteil des Gesamtprofits abschöpfen, müssen die Machtlosen nehmen, was übrig bleibt.

Nur, wenn die Verteilungsregeln des national erworbenen Wohlstands – ja, des internationalen – von der Menschheit festgelegt werden, kann man von Gerechtigkeit sprechen. Wer kollektiv festgelegte Regeln einseitig zu seinen Gunsten dreht, hat Gerechtigkeit verraten.

Wer Macht hat, bestimmt das Recht. Keine Macht und Gewalt, die nicht von Gott wäre.

Es ist ein Schnitter, der heißt Tod,

Hat Gewalt vom höchsten Gott,

Heut wetzt er das Messer,

Es schneidt schon viel besser

Bald wird er drein schneiden,

Wir müssens nur leiden.

Hüte dich schöns Blümelein!

Das gilt nicht nur für politische Faschisten, sondern auch für Faschisten des Marktes. Sie kennen keine Regeln. Ihre grenzenlose Freiheit ist die voluntaristische Freiheit ihres Gottes, der sich an keine zehn Gebote halten muss.

(Nur nebenbei. Die Zehn Gebote sind keine moralischen Regeln, sondern ein Glaubensbekenntnis. Wer die Gebote hält, ohne das erste Gebot zu glauben, dem wird alles zum Verderben gerechnet, so Luther. Das erste Gebot:

„Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus herausgeführt habe. Du sollst keine andern Götter haben neben mir. – Du sollst dir kein Götterbild machen, auch keinerlei Abbild dessen, was oben im Himmel oder was unten auf der Erde oder was in den Wassern unter der Erde ist. Du sollst dich vor ihnen nicht niederwerfen und ihnen nicht dienen.“

Wer dieses Credo nicht mitbetet, braucht die restlichen Gebote nicht zu halten, es wird ihm nichts nützen. Die heilige Schrift kennt so viele Moralen – die man wählen kann wie der Organist die Register –, dass sie es zur eindeutigen Moral bis heute nicht gebracht hat.)

Der Markt ist wie die heilige Schrift. Wer die Definitions- und Deutungshoheit über sie besitzt, der bestimmt über wirtschaftliche Seligkeit und Verdammung. Wer Macht hat über den Markt, bestimmt die Moral des Marktes.

Wenn Papst Franziskus den kapitalistischen Markt als Tötungsinstrument attackiert, soll jeder denken, er werde alles unternehmen, um den Killer selbst zu killen. Davon kann keine Rede sein. Der Markt mag noch so böse sein, nach dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen darf das Böse vor der Wiederkunft des Herrn nicht eigenmächtig ausgerottet werden. Das Böse überwältigen ist Vorrecht des großen Schnitters, und der heißt Gott.

Als die Leute schliefen, hatte Satan Unkraut unter den Weizen gesät. Als es herangewachsen war, wollten die Knechte es ausreuten. Doch der Herr des Ackers wehrte es ihnen, sie sollten das Unkraut wachsen lassen bis zur Ernte: damit sie nicht mit dem Unkraut zusammen den Weizen ausrauften: „Lasset beides miteinander wachsen bis zur Ernte, und zur Zeit der Ernte will ich den Schnittern sagen. Suchet zuerst das Unkraut zusammen und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne, den Weizen aber sammelt in meine Scheune.“

Papst Franziskus wird sich eine Weile gedulden müssen, bis er den Kapitalismus und seine Geldknechte in einem fröhlichen Feuer verbrennen darf.