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Tagesmail

Utopischer Kannibalismus

Hello, Freunde der Revolution,

„die Demonstrationen gegen die korrupten Politiker und die gekauften Eliten weiten sich aus. Die Protestierenden wenden sich vor allem gegen die Korruption der Behörden und fordern wie anderswo auch den Rücktritt der „Diebe“ und verantwortlichen Politiker. Die friedlichen Demonstrationen sind seit dem Wochenende vor allem durch die bürgerlichen Mittelschichten geprägt.

Am Wochenende hat sich ein Plenum der Demonstranten formiert, indem mehrere hundert Frauen und Männer – Arbeiter, Studenten, Ingenieure, Professoren und Kriegsveteranen – über die Lage diskutieren und Vorschläge für eine Reform erarbeiten. Es soll dort ebenfalls ein Kabinett aus parteilosen Experten gebildet werden.“ (Erich Rathfelder in der TAZ)

Wo, was, wie? In Bosnien. Leider nur in Bosnien. Doch bald bei uns. 

In Deutschland herrscht Sportruhe. Von morgens bis abends Sportbetäubung und Jubeldroge. Goebbels ließ Operettenfilme drehen, um das Volk ruhig zu halten. Wir haben Endlos-Sport, Repressions-Sport und Kalmierungs-Sport. Wir haben Putinfreund Bach & Katarfreund Beckenbauer, Schalmeien-ARD & Fanfaren-ZDF, Einseifer Lanz & seriösen Einseifer Jauch, die störrische Schwarzer & den geschmeidigen Wowi. Selbst die heilige Tagesschau wird verschoben, um den multiplen Axel nicht zu versäumen.

Nach einem Geheimpapier, das der Redaktion vorliegt, planen die Öffentlich-Rechtlichen sportliche Endlosspiele. Dann sind sie von lästiger Programmgestaltung für immer befreit. Die Kirchen haben bereits Zustimmung signalisiert – wenn

zwischen Pirouetten und Rodeln das Wort zum Sonntag zur täglichen Bußpredigt reserviert wird.

Ganz schwarze Verschwörung: ist SPD-Edathy nicht Opfer der NSA geworden, weil er zu kess war? Ein paar Aktfotos in seinen Rechner geschmuggelt, dann die befreundeten Kanadier zum Vollzug gebeten – und wieder ein Kritiker weniger? Sie klauen deine Identität und machen damit, was sie wollen.

Es ist wie in der Tundra, wenn der Schnee schmilzt: die stinkenden Müllberge und Naturverwüstungen der Menschen zeigen sich und offenbaren ihre Fratzen. Die Eliten entlarven ihr ekelhaftes Elend, das sie seit Dekaden anrichten.

Kinder, macht den Aufstieg – zu den Gazpromfreunden, den globalen Ausspähern, den Drohnen-Kapitänen, den Amoralaposteln, den Vernunfthassern, den franziskanischen Beschwichtigern, die durch knallharte Kritik – alles beim Alten lassen.

Was war noch mal repressive Toleranz? Dulden als Unterdrücken? Ach was, heute wird durch Bußpredigten toleriert. Willst du wissen, was sich niemals ändern wird, höre dir die härteste Kritik auf Kanzeln und im Bundestag an.

Wir lieben, was wir schmähen. Wovor uns schauert, davon kriegen wir den Hals nicht voll. Fremdschämen ist der kleine Bruder der Ekelfaszination. Was wir für unmöglich hielten, das zieht uns hinab. Abgesehen von diesen Kleinigkeiten, ist alles in Ordnung bei uns. Deutschland ist eine Insel der Seligen. Das haben wir uns redlich erschuftet und erbuckelt – äh, verdient. Natürlich kommt schuften von Schuft.

Machen wir‘s kurz, machen wir‘s den Bosniern nach, den Ukrainern, Spaniern, Griechen, selbst den Franzosen. Allons, mes amis, wo ist die nächste Bastille?

Ach, beinahe den Herrn SPD-Schulz vom EU-Parlament vergessen. Eben schrieb er noch einen flammenden Aufruf an das Proletariat, die NSA so tapfer zu beseitigen, wie es einst den Kapitalismus beseitigte. (Leben wir schon im beseitigten Kapitalismus?)

Heute heißt es: die EU-Abgeordneten wenden sich von Snowden ab, dem sie eben noch Asyl angeboten haben. Aus Angst vor dem Druck aus Washington. Es sind vor allem die christdemokratischen Konservativen und viele aus der SPD-Fraktion. Also die GroKo auf europäischer Ebene.

„Seit Ausbruch der Spionageaffäre haben allerlei EU-Abgeordneten flammende Reden gehalten, sich als Vorkämpfer für Bürgerrechte dargestellt. Aber nun, da es hart auf hart kommt, knicken sie ein.“ (Claus Hecking im SPIEGEL)

„Bei uns herrscht die Meinung vor, man sollte auf gar keinen Fall die US-Partner noch mehr vergrätzen,“ sagte ein Christdemokrat aus Luxemburg. Solch entlarvende Sätze wird man von Merkel nie hören. Aber sie denkt so. Wo aber bleibt die flammende Berichtigung des Herrn Schulz?

Ach, beinahe Herrn Obama vergessen. Natürlich lehnt er ein No-Spy-Abkommen ab. Das Abkommen hätte auch nicht den geringsten Sinn. Wer sollte denn die Meisterspäher bespähen und überprüfen? Auch den Journalisten will Herr Obama immer mehr an den Kragen. Die Maßnahmen gegen kritische Schreiber werden immer harscher:

„«In den USA hat die staatliche Verfolgung von investigativen Journalisten und ihren Hinweisgebern aus den Sicherheitsbehörden ein nie gekanntes Ausmaß erreicht», berichtete ein Sprecher der Journalisten-Organisation in Berlin. «Dass Länder mit einer langen Tradition freier Medien in ähnliche Sicherheitsreflexe verfallen wie Diktaturen, ist unerträglich.» Vor allem die Jagd auf Whistleblower Snowden solle offenkundig davor abschrecken, Journalisten brisante Informationen über Fehlverhalten von Regierung und Behörden zuzuspielen.“ (DER SPIEGEL)

Ach, beinahe unsere gloriose Zukunft vergessen, die wir in Amerika besichtigen können. Die Endzeitvisionen der Hollywoodfilme werden in rasantem Tempo zur Realität. Jeder sechste Amerikaner ist abhängig von Lebensmittelkarten, lebt also von der Hand in den Mund. Das sind sage und schreibe 47,4 Millionen Amerikaner. Im Januar 2009 waren es erst 32,2 Millionen. Dreisatz: wie lange wird es dauern, bis 99% aller Amerikaner von den Brosamen der Reichen leben?

Zur Illustration: Bill Gates, Menschenfreund, versteht nicht, wie man mit weniger als 100 000 Dollar im Jahr auskommen kann.

Hannes Stein berichtet in der WELT, Amerika befinde sich auf Weg zur Plutokratie – der Herrschaft der Tycoons. Die amerikanische Mittelklasse werde bald verschwinden. Die Mittelklasse, das ist jene, die nach unten tritt und nach oben buckelt, nicht weiß, wann sie endgültig abrutschen wird, weil sie nicht im richtigen Viertel wohnt, ihre Kinder nicht in teure Kitas, Privatschulen und Eliteunis schicken kann und sie aus dem vornehmen Golfclub rausgeschmissen werden. In der Nähe der Superreichen wohnen ihre Lakaien, die ihnen die Schuhe putzen und auf ihre Bälger aufpassen. „Vor diesem Hintergrund tobt in Amerika zurzeit eine Debatte über soziale Ungleichheit.“

Wieso kriegen wir solche Debatten in unseren Breiten nicht mit? Hat man uns nicht eingebläut, in Amerika hätten sozialistische Gleichheitsideen keine Chancen? Robert Reich, ehemaliger Arbeitsminister Clintons, ist dennoch optimistisch:

„Im Moment hätten die Leute zwar noch zu viel Angst um ihren Arbeitsplatz, als dass sie revoltieren würden – und die amerikanischen Studenten seien zurzeit vor allem damit beschäftigt, ihre Studiengebühren abzuzahlen. Aber auf lange Sicht lasse sich die Reform oder Revolution nicht stoppen“. (Hannes Stein in der WELT)

Wer ist schuld an der Malaise? Die Armen selbst, niemals die Reichen. Um ihre Lage zu ändern, müssten die Armen sich erstmal selbst ändern:

„Das Allererste, was die Armen brauchten, sei also eine moralische Veränderung („transformation“). Das zweite Bedürfnis sei dann materielle Hilfe, ein soziales Netz – aber keine Almosen („relief“).“

Das klingt interessant, weil es an die Deutschen erinnert. Friedrich Schiller wandte sich enttäuscht von den Gräueltaten der Französischen Revolution ab und wollte den Deutschen die Chance bieten, sich erst selbst zu verändern, bevor sie Revolution machten. Im Theater, durch die schönen Künste sollten sie erst volle und ganze Menschen werden, bevor sie – flammende Forderungen an die Despoten richteten. „Geben Sie, was Sie uns nahmen wieder!“ sollten sie dem neuen Feudaladel entgegenschleudern.

Sorry, würde der amerikanische Verteidiger des Systems sagen. Wir haben euch gar nichts genommen. „Die Wirtschaft ist bekanntlich kein Nullsummenspiel, also kein Kuchen, bei dem weniger für die einen übrig bleibe, wenn die anderen sich ein großes Stück herausschneiden.“

Vor einiger Zeit noch erklärten die Apologeten des Systems, wenn die Flut steige, höben sich alle Boote. Offensichtlich sind zu viele Boote mittlerweilen abgesoffen. Also die nächste Metapher: wenn die Wirtschaft kein Kuchen ist, bei dem die einen zu viel abschneiden und die anderen zu kurz kommen, was ist sie dann? Ein unendlich wachsender Berg von Grießbrei, bei dem jeder sich nach Belieben bedienen kann?

Das deutsche Märchen geht so: „Ein Kind, das allein mit seiner armen Mutter zusammenlebt, geht um Essen betteln. Eine alte Frau schenkt ihm einen Zaubertopf, der auf das Kommando „Töpfchen, koch“ süßen Hirsebrei zubereitet und bei den Worten „Töpfchen, steh“ wieder damit aufhört. Von da an müssen sie nie wieder hungern. Eines Tages ist das Mädchen aus dem Haus, und die Mutter befiehlt dem Topf „Töpfchen, koch“, und der Topf kocht Brei. Den zweiten Spruch hat sie sich nicht gemerkt, und er hört also nicht wieder damit auf. Die ganze Stadt ist bereits unter Brei begraben, als das Kind nach Hause kommt und zu ihm „Töpfchen, steh“ sagt. Da hört es auf, zu kochen.“

Wie kommt ein solches Märchen zustande und welche Botschaft will es uns sagen? Unglaublich, aber wahr: „Das Motiv des Märchens war ehedem wohlbekannt, weit verbreitet und bitter: Hunger.“

Die amerikanischen Systemverteidiger scheinen das deutsche Märchen nicht nur zu kennen, offensichtlich glauben sie, in diesem Märchenland zu wohnen. Was nicht anders sein kann, nennen sie ihr Land doch Gottes eigenes Land. Im Himmel muss die Produktion von Grießbrei wohl grenzenlos sein.

Vermutlich ist das ganze Land schon erstickt unter dem süßen Brei. Es wird höchste Zeit, dass unschuldige Kinder kommen und die Erwachsenen retten: amerikanische Töpfchen, steht! Und schon ist der Kontinent von seinem Märchenbrei erlöst.

Das amerikanische Problem besteht nicht darin, dass es zu wenig, sondern, dass es zu viel im Lande gibt. Der Überfluss überschwemmt den Kontinent. Die Armen aber sind zu faul, schlicht und einfach zuzugreifen. Sie stehen vor der Qual der Wahl und können sich nicht entscheiden, ob sie Hamburger oder Cheeseburger essen wollen. Es ist wie bei Buridans Esel, der gleichweit von zwei Heuhaufen entfernt stand und sich nicht entscheiden konnte, welchen er zuerst verspeisen sollte. Darüber ist er verhungert.

Die Armen Amerikas sind noch dümmer als europäische Esel. Nein, mit Gleichheit kommen wir nicht weiter, sagt ein strenger Professor. Und wie amerikanische Professoren es so gern tun: er konstruiert ein einleuchtendes Beispiel, um das dumme Gerede von der Gleichheit vom Tisch zu wischen:

„Wenn gerade genug Medikamente da sind, um acht von zehn Patienten zu retten, aber alle zehn Patienten sterben müssten, wenn man die Medikamente gleichmäßig unter ihnen aufteilen würde, wird Gleichheit zu einem Verbrechen.“

Wenn, wenn, hätte, hätte, Fahrradkette, würde unser SPD-Kanzlerkandidat sagen. (Wo ist der eigentlich abgeblieben? Kann die SPD auf ihre besten Männer verzichten?)

Es gehört zu den Geniestreichen amerikanischer Sozialwissenschaften, die Welt auf eine Nussschale zu reduzieren. Wer die Nussschale retten kann, hat auch die Welt gerettet. Vorbild dieser hübschen IQ-Rätsel ist der heilige Gleichniserzähler im Neuen Testament. Doch seine Nachahmer scheinen den Sinn des Gleichniserzählens nicht begriffen zu haben:

„Deshalb rede ich in Gleichnissen zu ihnen, weil sie mit sehenden Augen nicht sehen und mit hörenden Ohren nicht hören und nicht verstehen. Denn das Herz dieses Volks ist verstockt.“

Jetzt kommt der Clou. Ausgerechnet ein europäischer Gründervater des Neoliberalismus wird zitiert, um die Probleme des Neoliberalismus zu lösen. Mit anderen Worten: der amerikanische Neoliberalismus hat die Brutalitäten seiner Erfinder schon beträchtlich überschritten.

Wie Milton Friedman, der eine negative Einkommensteuer vorschlug, um die Armen mit staatlicher Hilfe über Wasser zu halten, befürwortet auch F. von Hayek eine Art BGE (Bedingungsloses GrundEinkommen) zur notdürftigen Rettung der Loser:

„Es gibt keinen Grund“, schrieb Hayek einst, „warum es in einer Gesellschaft, die einen Grad von Reichtum erreicht hat wie die unsrige, keine Grundsicherheit für alle geben sollte, ohne dass dadurch die allgemeine Freiheit gefährdet würde: ein Minimum an Essen, Behausung und Kleidung, genug, um die Gesundheit zu erhalten. Es gibt auch keinen Grund, warum der Staat kein umfassendes Sozialversicherungssystem für jene Gefährdungen des Lebens einrichten sollte, gegen die sich nur wenige adäquat schützen können.“

Nicht mal die deutschen Sozialdemokraten können sich durchringen, ihre protestantische Arbeitsreligion an den Nagel zu hängen, um den Abgehängten ein materiell angstfreies Leben zu gönnen. Aus christlicher Besorgnis, die Empfänger dieses BGE würden sich auf die faule Haut legen und der Gesellschaft nur noch eine Last sein.

Falsch, wahre Muße ist die Voraussetzung, um sich frei für ein sinnvolles Tun zu entscheiden. Menschen wollen gebraucht und von der Gemeinschaft anerkannt werden, wenn sie ihren Beitrag freiwillig leisten.

In Amerika hat die Zukunft der Menschheit längst begonnen, sollte der außer Rand und Band geratene Neoliberalismus seinen Kurs nicht ändern. Eine winzige Oberschicht wird den Planeten beherrschen, ein Umkreis von Heloten wird sie bedienen, der riesige Rest der Menschheit wird überflüssig sein und von der Gnade der Herrenmenschen abhängen.

Der Zukunftsklassiker „Jahr 2022, die überleben wollen“ mit Charlton Heston könnte grausame Realität werden:

„Es ist das Jahr 2022. In New York leben 40 Millionen Menschen. Es mangelt an Wasser, Nahrung und Wohnraum. Lediglich einige Politiker und reiche Bürger können sich sauberes Wasser und natürliche Lebensmittel zu horrenden Preisen leisten.“ Die Armen werden notdürftig von künstlichen Lebensmitteln (Soylent Grün) ernährt, deren Geheimnis der Protagonist aufdeckt:

„Der sterbende Sol kann kurz vor seinem Tod noch erzählen, dass die Ozeane (und damit das Plankton) schon lange tot sind. Thorn folgt dann dem Abtransport der Leichensäcke bis zur Müllverwertungsanlage. Nachdem er in die Maschinerie eingedrungen ist, in der die Leichen entsorgt werden, entdeckt er, dass diese Anlage am anderen Ende „Soylent Grün“ ausgibt.

Er wird bemerkt, kann jedoch schwer verletzt entkommen. Er ist fest entschlossen, die grausame Wahrheit „Soylent Grün ist Menschenfleisch!“ („Soylent Green is people!“) zu den Menschen zu bringen.“ Um die Überflüssigen zu ernähren, werden die toten Überflüssigen mit kannibalistischen Industriemethoden zu Nahrungsmitteln verarbeitet.

Verglichen mit solch apokalyptischen Horrorszenarien wären die Verbrechen der Deutschen eine Marginalie der Geschichte.