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Ukraine

Hello, Freunde der Ukraine,

schrecklich, wenn der Freiheitswille eines Volkes von waffenstarrenden Männerhorden niederkartätscht wird.

Warum hatte die weiblich dominierte Maidan-Bewegung so gut wie keine realistische Chance, ihre ukrainische Heimat ungeteilt in eine selbstbestimmte Zukunft zu führen? Weil die Ukraine im Schatten eines staatlichen Giganten liegt, dessen Männereliten sich nicht anders profilieren können als ihre feindlichen Gegen-Giganten jenseits der Meere: durch frauen- und kinderfeindliche Gewalt, durch Überwältigen des freien Denkens.

Von China abgesehen – dessen entscheidende Rolle noch in der Zukunft verborgen liegt –, gibt es zwei Kolosse in der Welt, die sich die Herrschaft über die Erde aufteilen: die neucalvinistischen und die russisch-orthodoxen Politerlöser.

Maidan hätte nur eine Chance gehabt, wenn die beiden Kolosse den gemeinsamen Weg in eine humane Zukunft gegangen wären.

Dieser Weg war die hoffnungsvolle Entwicklung der Nachkriegsjahre, als die Völker der Welt aus dem Grauen des Zweiten Weltkriegs die richtigen Schlussfolgerungen zogen und internationaler Verständigung auf allen Ebenen den Vorzug vor dem für immer überwunden geglaubten Waffengang gaben.

Höhepunkt dieser heute utopisch scheinenden politischen Aufwärtsentwicklung der Menschheit war die friedliche Selbstauflösung des sowjetrussischen Reiches, die Befreiung der osteuropäischen Staaten, die deutsche Wiedervereinigung und die allgemeine Hoffnung der Völker, dass die Demokratisierung der Welt unumkehrbar geworden sei.

In seinem Weltbestseller „Das Ende der Geschichte“ hatte der amerikanische Politwissenschaftler Francis Fukuyama die verheißungsvolle Perspektive beschrieben als das grundsätzliche Ende aller totalitären Bestrebungen,

Andersdenkende zu unterdrücken und gesellschaftliche Probleme mit Gewalt zu lösen:

„Totalitäre Systeme, wie z. B. der Kommunismus und der Faschismus, stellen keine politischen Alternativen mehr dar. Vielmehr ist der Weg frei für eine liberale Demokratie. Totalitäre Systeme sind zum Scheitern verurteilt, weil sie dem Grundgedanken des Liberalismus widersprechen.“

Das Ende der Geschichte sollte das Ende jener Zeit sein, die die Probleme der Menschheit mit Macht und Gewalt lösen will. Dem optimistischen Amerikaner war vermutlich nicht bewusst, dass sein Begriff der Geschichte identisch war mit dem christogenen Begriff der Heilsgeschichte.

Wenn der Westen von Geschichte spricht, meint er immer die Geschichte Gottes mit der sündigen und erlösungsbedürftigen Menschheit, mit der Spaltung derselben in Lieblingskinder – auch in Form erwählter Nationen wie der Juden, Amerikaner, Engländer, Deutschen, Russen und anderer – und in verworfene, menschenähnliche Teufelsbraten.

Griechen, Chinesen und andere naturreligiöse Völker kennen keine von einem übernatürlichen Gott gesteuerte Heilsgeschichte.

Doch der Begriff trügt: präziser wäre von Heils- und Unheilsgeschichte zu sprechen. Da die Majorität der Menschheit der Hölle anheimfallen wird, wäre Unheilsgeschichte ehrlicher als der trügerische Begriff Heilsgeschichte. Christliche Unheilsgeschichte wälzt sich mit langsamer aber tödlicher Sicherheit dem Ende entgegen: ewige Folter (Fireboarding) für 99% der Menschheit und ewige Freuden für den heiligen Rest, der an der reichgedeckten Tafel Gottes Platz nehmen – oder sich mit himmlischen Frauen dauervergnügen darf, wenn er Anhänger Mohammeds ist.

Ohne es zu wissen, hat Fukuyama der christlichen Unheilsgeschichte das Ende bescheinigt. Da sein Vater aus Japan stammt, wäre es nicht verwunderlich, dass bei dem Erfolgsautor eine uralte japanisch-chinesische Zeitvorstellung unbewusst eine Rolle gespielt hätte, die mit der griechischen vergleichbar wäre. Ein Althistoriker beschreibt den Unterschied zwischen griechischer und christlicher Zeit:

„Das Gesetz der Zeit, dem das Geschehen nach Herodot gehorcht, ist nicht chiliastisch (= „tausendjährig“), nicht hinausdrängend in eine Zukunft, nicht eschatologisch (endzeitlich), sondern kyklisch (kreisförmig), in sich selbst zurücklaufend, periodisch, jedesmal vom Umschweifen vom Ende wiederum zurück zum Anfang biegend. Herodots Weisheit ist, dass es einen Kreislauf der menschlichen Dinge gibt. Es gibt keinen einzigen griechischen Historiker, der sein Werk mit einem Ausblick in die Zukunft schlösse. Zeit in unserem Sinn ist der Antike unbekannt.“ (Karl Reinhardt, Herodots Persergeschichten)

Die christliche Heils- & Unheilsgeschichte hat das normale Zeitempfinden der Moderne tiefengeprägt. Schau nicht zurück, schau nach vorn, blick in die Zukunft: diese dogmatisch gewordene moderne Lebensgestaltung ist heilsgeschichtlich fundiert – ob sie es weiß oder nicht.

Es gibt keine religionslose Säkularisation der Gegenwart, die Welt ist in toto christianisiert. Alle Probleme der Menschheit, unlösbar für den ungläubigen Menschen, werden erst in Zukunft lösbar, wenn der erwartete Messias sein Versprechen wahrmachen und auf Erden zurückkehren wird, zu richten die Lebendigen und die Toten.

Fukuyama hat als erster prominenter Intellektueller der christlichen Heilsgeschichte widersprochen – nolens oder volens. Kein gläubiger Verweis auf den Automatismus der von Gott festgelegten Geschichte, nicht die leiseste Assoziation an ein Finale der Menschheit, an apokalyptischen Schwefelgestank, an Zerstörung der ersten Natur zugunsten eines neuen Himmels und einer neuen Erde.

Diese neuheidnische Blasphemie musste vom rechtgläubigen jüdisch-christlichen Block aus Neukanaan mit Vehemenz bekämpft werden.

Auftritt Robert Kagan, seines Zeichens Wortführer der Neokonservativen, die nicht im Traum daran dachten, das ausgerufene Ende der Heilsgeschichte zu unterschreiben. Im Gegenteil. Rein zufällig ist Kagan verheiratet mit Victoria Nuland, einst Beraterin von Dick Cheney, heute stellvertretende Außenministerin und zuständig für Europa und Eurasien. („Fuck the EU“)

In einem abgehörten Telefongespräch hatte Nuland gesagt, sie hätte sich für den Hardliner Jazenjuk und gegen Klitschko eingesetzt. Die neokonservative Nuland verwirft die Fukuyama-Perspektive gleichberechtigter Völker oder gar einer menschheitlichen Friedensordnung. Welche Ukraine-Politik wird sie vor und hinter den Kulissen verfolgt haben? Klingt das nicht verdammt nach Verschwörungstheorie?

Einschub: Stichwort Verschwörungstheorie. Alles, was mächtigen Leuten nicht in den Kram passt, muss eine Verschwörungstheorie sein. Zum Ritual der Verschwörungstheorie-Bekämpfer gehört die List: wer zuerst Verschwörungstheorie ruft, der hat Recht. Für Anti-Verschwörungstheoretiker müsste selbst Adam Smith ein Anhänger von Verschwörungsthesen sein, der den Kapitalisten verbieten wollte, bei harmlosen Geselligkeiten über Geschäfte zu sprechen, um illegale Vorteile gegen Rivalen herauszuschlagen.

Dass es eine amerikanische Judenlobby gibt, war vor Jahren eine antisemitische Verschwörungstheorie. Heute lässt Netanjahu höchstselbst vor der Weltpresse keinen Zweifel daran, wer in der amerikanischen Politik das Sagen hat. Dass EINPROZENT der Weltbevölkerung einen Großteil des Weltreichtums einkassiert hat, wäre noch vor kurzem als Verschwörungstheorie abgemeiert worden.

In der Tat gibt es bei dubiosen und merkwürdigen Vorfällen mit weitreichenden Folgen – bei denen man schwerlich an Zufall denken kann – oft ebenso skurrile Erklärungen, mit mehr oder weniger plausiblen, oft phantastisch wirkenden „Argumenten“. Doch der bloße Schein phantastischer Kausalität genügt den Kritikern, sie ohne weitere präzise Gegenargumente vom Tisch zu wischen.

Verschwörungstheorien sind Hypothesen oder Thesen neugieriger Menschen, die – wenig wissend, viel vermutend und spekulierend –, von anderen Theoretikern, die noch weniger wissen (nämlich gar nichts, weil sie von vorneherein wissen, dass es sich um Zufälligkeiten handelt und nicht um beabsichtigte Kausalitäten), als Verschwörungstheoretiker beschimpft werden.

Welche Gruppen sind verschwörerischer? Diejenigen, die ihre Hypothesen mit empirischen Hinweisen – die widerlegbar sind – zu beweisen versuchen? Oder diejenigen, die in exorzistischer Magie den Begriff Verschwörung ausrufen, um etwas im Keim niederzuschlagen – was ihrem Weltbild zu widersprechen wagt?

Nach Popper sind die ersteren widerlegbar, also wissenschaftlicher als die zweiten, die in unwiderlegbarem Ton daherkommen. Es soll schnüffelnde Gelehrte geben, die gewissen Behauptungen schon von weitem anriechen, ob sie Verschwörungstheorien sind oder nicht.

Im deutschen Feuilleton tummeln sich Heere ausgewiesener und unfehlbarer Verschwörungstheorie-Killer. Deren eigene Lieblings-Verschwörungstheorien sind: der technische Fortschritt ist unausweichlich und der westliche Kapitalismus alternativlos. Ende des Einschubs.

Was nicht sein darf, kann nicht sein. Technische Utopien bis zur aberwitzigen Unsterblichkeit dürfen, ja müssen sein; moralisch-politische hingegen sind des Teufels.

In sämtlichen Angelegenheiten der Macht, des Reichtums und der sexuellen Attraktivität besser sein zu wollen als der Rest der Welt ist nicht nur erlaubt, das ist alltägliche Rivalitätspflicht. Doch besser zu sein in Moral und politischer Verantwortung: das ist arrogante Impertinenz.

Als Gorbatschow in vorbildlicher Friedensliebe und rationaler Dialogbereitschaft dem Westen die Hand entgegenstreckte und eine Epoche globaler Humanität ausrief, ohne einen Himmel anzurufen oder sich auf einen Geschichtsgott zu berufen, währte die westliche Gegenliebe nur einen Sommer lang.

Zuerst machten die Amerikaner noch gute Miene zum Liebeswerben aus dem Osten, schrieben sich das Verdienst des Friedens auf die eigene Fahne und redeten – von der anbrechenden pax americana. Doch schnell begann die christlich-jüdische Geschichtsgläubigkeit sich aus dem Schock humanen Überrumpeltwerdens zu befreien – und sich auf die uralten Werte einer siegreichen ecclesia militans zu besinnen.

Das war die Stunde der wortmächtigen Neokonservativen, die den idealistischen Lockrufen der ungläubigen Friedensutopisten den Garaus machten. In vorderster Front Robert Kagan, der in einem SPIEGEL-Interview erklärte:

„Die Großmächte kehren zurück, obwohl alle dachten, ihre Ära und die der Geopolitik sei beendet. Das zweite Element ist die Rückkehr ideologischer Konkurrenz. Der Originaltitel meines Buches lautet: „The Return of History and the End of Dreams“ – die Rückkehr der Geschichte und das Ende der Träume. Das spielt natürlich auf Francis Fukuyamas Artikel „The End of History“ an. Er sagte, die Demokratie als Regierungsform habe triumphiert, es gebe keinen Wettkampf mehr. Mir scheint aber, dass die Autokratie in China und Russland überlebt hat: Es gibt also eine andauernde Konkurrenz zwischen der Demokratie und der Art von Autokratie, wie wir sie seit Jahrhunderten kennen. Es gibt Großmächte – und es gibt einen Wettkampf dieser Großmächte.“ (SPIEGEL-Interview mit Robert Kagan)

Auch das Internet, bis dato als neues Zaubermittel internationaler Verständigung gerühmt, bekam sein Fett ab und musste seitdem zum Orwell‘schen Superinstrument der globalen Überwachung mutieren:

„Das Internet weckte lange die Hoffnung, dass ein globaler kultureller Liberalismus zu einem politischen Liberalismus führen werde. Der Traum scheint beendet zu sein.“

Zukunftsperspektiven der Völker ohne Kriege? Welch ein gefährlicher Kindertraum:

„Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass Menschen meinen, es könne keinen Krieg zwischen Nationen mehr geben. Wir sollten nicht zu selbstgefällig sein. Militärische Macht spielt weiterhin eine Rolle. Das beste, um Krieg zu verhindern, ist, die Gefahr zu erkennen.“

Dass Putin sich als Kraftprotz mit nacktem Oberkörper präsentierte, war für Kagan die Bestätigung, dass der nationale Egoismus der Russen Gottseidank noch immer vorhanden war:

„Putin macht sich ein Thema sehr zunutze: das nationalistische Gefühl für Russlands Macht und Rolle in der Welt. Das meine ich mit „wieder normal“: So verhalten sich Großmächte traditionell.“

Putin bestätigte Kagan, dass die Welt wieder intakt war. Intakt verkommen. Nach dem unerträglichen Friedensgesäusel des gottlosen Gorbatschow kehrte sein Nachfolger zur orthodoxen Glaubensgewissheit zurück, dass die Erde im Argen liegt. „In der Welt habt ihr Angst, siehe, ich habe die Welt überwunden.“ Was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde. Moralisches Tun ohne Glauben ist Empörung wider Gott. Putin bestätigte den christlich-jüdischen Hardlinern aus Amerika, dass Diabolo im Triumph zurückgekehrt war und das satanische Paradiesgeplärr aus dem Weg geräumt hatte.

„Wir leben nicht in einem internationalen Paradies, in dem es nur darum geht, wie sehr wir uns am Internet erfreuen oder wie viel Geld wir verdienen können. Wenn Panzer durch die Straßen Moskaus rollen, müssen wir erkennen, dass der russische Nationalismus zurück ist. Lasst uns nicht so tun, als würde das nicht existieren! Der Wettkampf dauert an! Wir müssen den Traum vom Ende der Konkurrenz beiseite schieben und realisieren: Wir können Frieden haben, wir sollten versuchen, Frieden zu schaffen – aber dazu müssen wir begreifen, dass die alten Kräfte noch immer aktiv sind!“

Mit anderen Worten, wir sollen Frieden schaffen, wohl wissend, dass er aus menschlicher Kraft nicht machbar sei. Nur Gott kann die Probleme der Menschen lösen, indem er die Menschen erlöst. Putin & Kagan waren das zur Religion regredierte komplementäre Heiligen-Duo, das der Welt aufatmend den unverbesserlichen bösen Menschen zurückbrachte.

Die amerikanische Nation begann, sich ihrer alten militaristischen Glaubensstärke zu besinnen, um sie nach Belieben der ungläubigen Welt aufzuzwingen. Sei es mit wirtschaftlicher Überlegenheit oder mit militärischer Gewalt. Amerika, Gottes Liebling unter den Nationen, raffte sich zusammen und begann erneut, der Welt seine imperiale Ordnung aufzuzwingen. Verbunden mit der Drohung, alle an die kurze Leine zu nehmen, die sich dem eschatologischen Vorhaben entgegen stellen würden:

„Und wir müssen realisieren, dass, wenn nicht wir das internationale System gestalten, andere Leute dies tun werden – Leute, die nicht mit unserer Lebensweise übereinstimmen.“

Diese anderen standen schon fest: die antiwestlichen Muslime, die 9/11-Terroristen, die Länder mit wertvollen Ressourcen, die sie dem hochtechnisierten Westen vorenthalten wollten – und die hochnäsigen Gorbatschow-Russen, die wieder zur „belanglosen Regionalmacht“ degradiert werden sollten. Wenn nicht anders, dann in einem neuen Kalten Krieg.

Mit dieser Regression in altbekannte Schwarz-Weiß-Muster war‘s um die Ukraine geschehen. Der Freiheitswille des ukrainischen Volkes wurde zwar unterstützt, aber nicht uneigennützig. Mit Hilfe des noch jungen Staates sollte die westliche Grenze Russlands demontiert werden. Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Durch ständige, offensichtliche und unterschwellige Diskriminierungen hatte der postpubertierende Kraftlackl Putin sich exakt in jenen Bösewicht verwandelt, den der Westen als Legitimation benötigte, um den Gernegroß mit Hilfe der ukrainischen Freiheitsliebe zur Kenntlichkeit zu stutzen. Zuerst wurde die Ukraine vom Westen instrumentalisiert, inzwischen wird sie von Putin gegen-instrumentalisiert.

Weder West noch Ost geht es um den autonomen Freiheitswillen des geschundenen Volkes. Bedenkenlos wird die gespaltene Nation zum Faustpfand zwischen den Welten erniedrigt.

Wer nicht konsequent dem Weg vernunftgeleiteten Friedens folgt, bleibt nicht etwa stehen – er fällt unvermeidlich zurück ins Lager des überwunden geglaubten Schismas: hie die erwählten Guten, da die verworfenen Bösen. Wer sich der moralischen Utopie verweigert, regrediert unter die Herrschaft der Hüter der Heilsgeschichte.

Nach Zerstörung der rationalen Utopie Gorbatschows sehen wir erneut die Machtsignale der Erlöser aufschießen, die in neuen Kreuzzügen ermitteln wollen, wer den wahren Ring des Glaubens ererbt hat. Wirtschaftlich und technisch überlegenen Juden & Christen stehen re-aktionäre hinterwäldlerische Muslime gegenüber. Asymmetrische Kriegsführung im religiösen Finale um die Weltherrschaft.

Wer unter die Mahlsteine Gottes gerät, hat keine Appellationsinstanz mehr im ganzen Universum. Es sei, der Mensch entsagt dem selbstzerstörenden religiösen Opiat und vernimmt das Flehen – der leidenden Menschheit.