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Minsk

Hello, Freunde von Minsk,

Atem anhalten, wir warten auf Sarajewo. Heute Minsk genannt.

„Das Treffen in Minsk kann über die europäische Friedensordnung der nächsten Jahrzehnte entscheiden“, schreibt Stefan Cornelius in der SZ.

Minsk, Hauptstadt Weißrusslands (Belarus), 1067 zum ersten Mal urkundlich erwähnt, liegt an der Swislatsch, einem Nebenfluss der Bjaresina. Das Minsker Wappen „zeigt in Blau die dem Betrachter zugewendete betende heilige Muttergottes mit blauem Kleid und rotem Mantel, Kappe und Schuhen auf einer silbernen Wolke stehend“, umgeben von vier silbernen Engeln mit goldenem Nimbus.

   Kirchenhistoriker sind sich uneins, ob die unermüdlich sich um den Frieden aufopfernde Angie die Gottesmutter darstellt oder ob sie zu den vier Engeln gehört, deren Namen in ehernen Lettern die Geschichtsbücher schmücken werden. In objektiv-alphabetischer Reihenfolge: Hollande, Merkel, Poroschenko und Putin.

Sarajewo lag im serbisch-orthodoxen Randgebiet des heiligen Abendlands, Minsk liegt an der Grenze zwischen katholisch-protestantischem Westeuropa und dem russisch-orthodoxen Russland. Unwahrscheinlich, dass heute Schüsse fallen werden, zumal Gavrilo Princip schon lange tot ist. Doch Merkel & Hollande als herrschendes Fürstenpaar von Europa zu bezeichnen, wäre gar nicht so falsch.

Atem anhalten, 100 Jahre nach Sarajewo warten wir auf die Ereignisse in Minsk, die über das Schicksal Eurasiens der nächsten Jahrzehnte entscheiden werden! Atem anhalten? Nein, weiterträumen und schlafwandeln.

Was geschehen wird, wollen wir nicht wissen.

Was wir tun, wollen wir nicht gewesen sein.

Was wir getan haben, des wollen wir nicht schuldig sein.

In seinem berühmten Werk über den Ersten Weltkrieg hebt Historiker Clark

„die außerordentliche Komplexität der Krise hervor, die durch die vielschichtigen und teilweise intransparenten Entscheidungsprozesse der involvierten Mächte zurückzuführen ist. Clark lehnt es ab, einen Schuldigen zu benennen: „In dieser Geschichte gibt es keine Tatwaffe als unwiderlegbaren Beweis, oder genauer: Es gibt sie in der Hand jedes einzelnen wichtigen Akteurs. So gesehen war der Kriegsausbruch eine Tragödie, kein Verbrechen.“(S. 716)

Der Australier Clark wurde zum Lieblingshistoriker der Deutschen. Wenigstens von der Schuld am Ersten Weltkrieg hat er sie weißgewaschen.

Allmählich verstehen wir das von den Eliten der Gegenwart purgatorisch eingesetzte Dogma der Komplexität. Komplex ist, woran wir begehren, nicht schuldig zu sein. Womit wir es – fortschrittlich, wie wir sind – bereits ins Jahr 1778 geschafft haben, als Pastor Matthias Claudius das Unlösbar-Komplexe und Böse dem Engel anheimstellen musste. Mit menschlichem Tun ist nichts getan, wir sind gar bald verloren, es streit für uns der rechte Mann, den Gott selbst hat erkoren – heut muss es ein gottesfürchtig Weib sein:

‚s ist Krieg! ‘s ist Krieg!
O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
‘s ist leider Krieg –
und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!

Kein schuldhaftes Verbrechen, sondern eine Tragödie? War Tragödie nicht das Drama eines Schuldlos-Schuldigen? Wieder so eine deutsche Seifenformel: ist der nun schuldig – oder unschuldig? Wer so fragt, will es einfach haben und ist dem Komplexen der deutschen Geschichte nicht gewachsen.

Für Hegel besteht der Konflikt in der Tragödie „nicht zwischen Gut und Böse, sondern zwischen einseitigen Positionen, von denen jede etwas Gutes enthält“.

Jetzt haben wir das deutsche Komplexe am Wickel: es ist gut und böse. Da es weder schuldig noch unschuldig sein kann, ist es jenseits von Gut und Böse.

Die theologische Antinomie hat die gesamte Realität der deutschen Geschichte infiziert. Gibt es keine Schuldigen mehr? Und wie es die gibt. Es sind jene Simpel, die sich einbilden, das Gute vom Bösen eindeutig zu unterscheiden.

Der Erste Weltkrieg forderte nur lumpige zehn Millionen Todesopfer und 20 Millionen Verwundete – allein unter den Soldaten. Die Zahl der zivilen Opfer wird auf sieben Millionen geschätzt – macht nach Adam Riese 17 Millionen Tote, die ohne Schlafwandeln hätten weiter leben können. Ab wie vielen Toten beginnt für Clark die Schuld?

Jetzt kommt ein merkwürdiger Satz von Clark: „Der Beginn des Krieges sei die Folge in einer Kette von Entscheidungen verschiedener Akteure, die keinesfalls unausweichlich waren.“ Wenn sie nicht unausweichlich waren, warum wich mensch diesen Entscheidungen nicht aus?

In heutigen Tagen ist es schon erhebend, wenn Fachleute dem Menschen einen halbwegs freien Willen zubilligen und ihn nicht als determinierte Fress- und Kill-Maschine hinstellen. Hat der Mensch aber einen freien Willen – wo bleibt da die schuldlose Tragödie? Besitzt der Mensch seinen freien Willen, um ihn vor „Schicksalsentscheidungen“ rechtzeitig einzumotten?

Noch rätselhafter der folgende Satz: „Der Titel des Buches, „Die Schlafwandler“, entspricht dieser Interpretation: Gemeint sind Akteure, die mit nachtwandlerischer Sicherheit lange auf einem Seil über einem Abgrund balancieren, bis die Balance jäh zusammenbricht.“

Wer zum Teufel hat den Abgrund erschaffen? Wer das Seil besorgt? Wer den Menschen zum Somnambulen gedrillt und ihn fahrlässig aufs Seil gestellt?

Kann es sein, dass Großhistoriker allzu komplex – also verwirrt und paranoid – denken?

(Großhistoriker Winkler geht gar mit seiner neuen „Geschichte des Westens“ auf Missionsreise für das Christentum, indem er mit erbaulichen Lügen nachweist, dass die europäische Demokratie auf jesuanischen Worten beruht. Es ist eine bewährte Tradition deutscher Gelehrter, dass sie – selbst wenn sie gottlos sind – auf ihren arischen Jesus nichts kommen lassen. Dürfen sie den antisemitischen Begründer des Christentums den Juden überlassen? (Siehe die Weherufe über die Juden in Matth. 23,13 ff)

Sollte Minsk der Beginn eines eurasischen, gar eines planetarischen Krieges sein, oh deutsche Menschen: ihr seid auf jeden Fall ohne Schuld. Ihr seid wie eure Mutter, die tapfere Johanna von Mecklenburg-Vorpommern. Und wie sich in letzter Sekunde reinhängt, dass sie schon ganz traurige Augen bekommen hat! Die ganze Zeit hat sie, nein, nicht zugeguckt, sondern in westlicher Infallibilität geschürt und geschürt, bis der Ofen glühend heiß geworden ist. Schließlich muss sich ihr – und Obamas – Glauben erfüllen, dass der Mensch eine Bestie war, ist und bleiben wird in alle Ewigkeit, Amen.

Sollte Minsk scheitern, wird die schlaue Fromme unschuldig sein, sie hat ihr Bestes gegeben. Sollte das Vierertreffen zum Erfolg werden, wird sie im Nu verwandelt zum Minsker Friedensengel mit silbernem Flügel auf goldenem Grund. Welch gottwohlgefälliger Machiavellismus.

Hegel, mit demselben lutherischen Gott wie Merkel, betete den allmächtigen Machiavellisten im Himmel an, der mit List der Vernunft und Unvernunft über alle Opfer der Menschen hinweg seinen Siegeskurs steuerte. Schwache und Überflüssige werden vom Herrn des Himmels gnadenlos verbannt und untergepflügt:

„Hier kann von keiner Wahl der Mittel die Rede sein: brandige Glieder können nicht mit Lavendelwasser geheilt werden; ein Zustand, worin Gift, Meuchelmord gewöhnliche Waffen geworden sind, verträgt keine sanften Gegenversuche. Der Verwesung nahes Leben kann nur durch das gewaltsamste Verfahren reorganisiert werden.“ (Hegel, „Die Verfassung Deutschlands“)

Hegel-Merkel auf altdeutsch-poetisch:

Es ist ein Schnitter, der heißt Tod,
Hat Gewalt vom höchsten Gott,
Heut wetzt er das Messer,
Es schneidt schon viel besser
Bald wird er drein schneiden,
Wir müssens nur leiden.
Hüte dich schöns Blümelein!

Trotz! Tod, komm her, ich fürcht dich nicht,
Trotz, eil daher in einem Schnitt.
Werd ich nur verletzet,
So werd ich versetzet
In den himmlischen Garten,
Auf den alle wir warten.
Freu dich du schöns Blümelein.

Die prä-minsker Epoche Europas, die sich nun ihrem Ende nähert, war schon zu sehr von brandigen Gliedern vergiftet, von Verwesung gezeichnet – Zeit für eine himmlische Generalreinigung, die die Guten von den Bösen scheiden wird.

70 Jahre Frieden in der Nachkriegszeit, wer kann solch eine leichtsinnige Zeit ertragen, ohne verwegen und hybrid zu werden? Schon seid ihr satt und selbstzufrieden geworden. Das duldet kein Himmel, der mit dem Gottseibeiuns die trägen Sünder anstacheln muss, auf dass der – deutsche Exportüberschuss nicht abstürzen möge. (Auch ein Exportüberschuss ist ein Schuss ins Gemächte überflüssiger und verwesender Völker wie der Griechen, die, außer Frechheit und Dreistigkeit, nichts zu exportieren haben.)

Ein drohender Heißer Krieg sorgt wieder für Klarheit und macht Kleinigkeiten zu Petitessen. Was sind schon einige Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken, wenn atomare Spitzenprodukte ganze Völker mit Auslöschen bedrohen. Lasst uns zufrieden mit Frontex. Bei uns geht’s um das Schicksal Europas. Was ist schon die ach so gefährliche NSA, wenn sie uns die nächtlichen Machenschaften Putins an der russisch-ukrainischen Grenze aufdeckt? Was sind schon die Foltereien und Menschenrechtsverletzungen Obamas, wenn wir in Zeiten der Gefahr mit dem Großen Bruder wieder kuscheln dürfen? (Michael Braun in der TAZ)

Peter Cornelius weiß, was auf uns zukommt, wenn Minsk zum Desaster wird:

„In Minsk wird also entschieden: Gibt es einen letzten Funken Rationalität und findet sich damit ein Ausweg, der die Interessen aller Seiten bedient? Oder gilt ab Donnerstag das Gesetz der ungehemmten Eskalation? Dem Westen ist der Preis bewusst, der dann zu zahlen sein wird: Spaltung, Streit, mehr Krieg, mehr Waffen.“

Ein Gesetz der ungehemmten Eskalation könnte sich nur durchsetzen, wenn es sich bereits die ganze Zeit durchgesetzt hätte. Von nichts kommt nichts. Woher aber die Eskalation, die nicht von gestern sein kann, sondern die europäischen Völker (die andern nicht ausgeschlossen) schon lange im Griff haben muss?

Keine Frage von Cornelius, keine Ursachenforschung, nicht der kleinste Ansatz einer Analyse. Das ist deutsche Kommentarkunst vom Feinsten. Wer dem Jetzt, Jetzt und Jetzt verhaftet ist, kann nicht mal von gestern Abend Rechenschaft ablegen. Es gibt keine Geschichte mehr, die man erinnern und durcharbeiten könnte.

Clark lässt den Europäer in seiner Vergangenheit dauerpennen und tiefschlafen. Richard von Weizsäcker, der angeblich zur Erinnerung aufgefordert hat – „Erinnerung ist das Geheimnis der Versöhnung“ – hat die irdische Geschichte mit dem himmlischen Lasso eingefangen und der Heilsgeschichte Gottes einverleibt. Aus seiner berühmten Rede vom 8. Mai:

„Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergißt, verliert den Glauben.“ (Aus der Rede Richard von Weizsäckers vom 08. Mai 1985)

Weizsäckers politische Rede war eine larvierte christliche Missionspredigt: Deutsche, wenn ihr nicht an Gottes geschichtsmächtiges Wirken glaubt, werdet ihr eure Verbrechen nie „bewältigen“. Aus euren Menschheitsverbrechen (von seinen und seines Vaters Menschheitsverbrechen sprach er nicht) gibt es nur eine einzige Schlussfolgerung: ihr müsst zu Gott zurückzukehren. Seid untertan der Obrigkeit, denn es gibt keine ohne von Gott.

Weizsäckers Predigt ist identisch mit Merkels Glauben. Würden die Deutschen, die Russen, die ganze Menschheit an den Gott des Evangeliums glauben – dann gäbe es kein Elend in dieser Welt. Wie aber erklärt sie sich die Kleinigkeit, dass Gottes Endgericht erst eintreten wird, wenn zuvor die schrecklichsten Gräuel die Erde verwüsten müssen?

Man könnte sich die spekulative Frage stellen: wäre der jetzt drohende Krieg auch eingetreten, wenn die Jahrhundertfigur Gorbatschow noch am Ruder wäre? Und nicht der kleine verbissene Faustkämpfer aus dem Leningrader Proletariat?

Spekulative Antwort: der christliche Westen hätte die humane Utopie Gorbatschows noch weniger ertragen als die bösen Unartigkeiten eines Putin – die sie selbst provoziert und insgeheim herausgekitzelt haben, um einen Vorwand zu besitzen, den lästigen Pinscher von der Tenne zu fegen.

In seiner Erd-Charta hatte Gorbatschow, der Sohn eines russischen Arbeiters, die Vision seiner globalen Politik entworfen:

„Wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit fordert uns unser gemeinsames Schicksal dazu auf, einen neuen Anfang zu wagen. Die Grundsätze der Erd-Charta versprechen die notwendige Erneuerung. Das erfordert einen Wandel in unserem Bewusstsein und in unserem Herzen. Wir müssen die Vision eines nachhaltigen Lebensstils auf lokaler, nationaler und globaler Ebene entwickeln. Wir müssen den globalen Dialog vertiefen und ausdehnen; denn wir können bei der andauernden Suche nach Wahrheit und Weisheit viel voneinander lernen.“

Das sind Sätze, die kein neucalvinistischer Präsident und keine lutherische Kanzlerin ertragen können. Eine humane Utopie aus reiner Vernunft ist ein Faustschlag ins untergangs-süchtige Credo monotheistischer Erlöser. Die Hybris der sündigen Vernunft und praktischen Urteilskraft kann nur mit Gottes Verfluchungsdrohung beantwortet werden.

Gorbatschows religionsfreie Vernunft wäre mit dem naturvernichtenden und menschheitsfeindlichen Gott des Westens unvereinbar gewesen. Schon auf dem Weltgipfel 2002 in Johannesburg, schreibt Gorbatschow inMein Manifest für die Erde“, hatte der Westen, vor allem die USA, alle Ziele einer armutsbekämpfenden, ökologischen und gerechten Weltneuordnung mit List und Tücke desavouiert und bekämpft. Das religiös-politische Unheilsmotto des Westens lautet unmissverständlich: wer nicht für uns ist, der ist gegen uns.

In einem SPIEGEL-Interview hatte Gorbatschow den Deutschen ins Stammbuch diktiert: „Nun werden neue Mauern hochgezogen, die Lage droht zu eskalieren. Ich sehe tatsächlich alle Anzeichen eines neuen Kalten Krieges. Alles kann uns jederzeit um die Ohren fliegen. Wenn wir nicht handeln. Der Vertrauensverlust ist katastrophal. Moskau glaubt dem Westen nicht mehr, und der Westen glaubt Moskau nicht. Das ist fürchterlich.“

Wie viele deutsche Kommentatoren haben sich mit diesen eindringlichen Warnungen auseinander gesetzt? Wie viele deutsche Politiker haben sich gefragt, woher der Vertrauensverlust zwischen Ost und West „plötzlich“ gekommen ist? Niemand.

Wer Gorbis Stimme der Weisheit derart schändlich missachtet, muss zu Putin nach Minsk.