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Hello, Freunde der TAZ,

Vorhang auf, die Linke wird fromm. Offiziell. Fromm war sie schon immer. Doch nun werden alle Jalousien hochgelassen, alle Maskierungen entfernt. Die TAZ wird zur Kirchenpostille, zum medialen Bodyguard des Kirchentages.

Ines Pohl, die vorbildlich verlorene und zum VATER zurückgekrochene Tochter, hat ihr neutestamentlich gefordertes Maß an antiklerikalem Widerstand geleistet. Erleichtert darf sie wieder zum Begleitschutz des heiligen Geistes aufrufen. „Auch Ungläubige“ seien aufgerufen. Aber nur, wenn sie „neugierig und offen dafür sind, dass man gerade auf Kirchentagen immer wieder auch positiv überrascht werden kann.“ Wehe, wer sich von der ewigen Wiederholung des Gleichen bei den Frommen nicht überrascht zeigt. Der hat das Wehen des Geistes, der sich täglich neu erfindet, in verstockter Absicht ignoriert.

„Die TAZ gibt es aber auch, weil sie im Kampf für eine gute Sache Bündnisse schmiedet. Im Kontext des Kirchentags mit Gläubigen, die sich für eine gerechtere, eine nachhaltigere, ja für eine bessere Welt einsetzen. Danach suchen wir in den kommenden Tagen, mit offenem Herzen und wachem Verstand.“ (Ines Pohl in der TAZ.de)

Die ewige Wiederholung des Heiligen unterscheidet sich diametral von der ewigen Wiederholung des Vernünftigen. Im Gorgias formuliert Platon die Wiederholung der irdischen Vernunft.

„Kallikles: Wie du doch immer wieder dasselbe vorbringst, Sokrates!

Sokrates: Nicht nur das, o Kallikles, sondern auch, wohl zu merken, von derselben Sache.

Kallikles: Bei den Göttern, du hörst auch gar nicht auf, immer von Schustern und Gerbern und Köchen und Ärzten zu reden, als wenn davon die Rede wäre unter uns.“

Wenn etwas wahr ist, ist es immer wahr. Das zeitlose Wahre verändert sich

nicht und darf nicht verändert werden. Ist der Mensch zu zeitlosen Wahrheiten fähig? Selbstredend: der Mensch ist irrtumsfähig. Er ist aber auch wahrheitsfähig. Der Mensch ist sterblich. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Der Mensch ist liebesbedürftig, aber auch liebesfähig. Er kann Gemeinschaften bilden, aber auch Menschen und Völker ausrotten.

Die Wiederholung des Heiligen ist die unaufhörliche Repetition, dass wir aus menschlicher Kraft nichts tun und nichts wissen können. Wir müssen glauben.

Was ist der Glaube? „Eine Zuversicht auf das, was man hofft, eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht.“ Glaube ist etwas, das mit menschlichen Sinnesorganen und irdischem Denkvermögen nicht erfassbar ist. Noch nicht erfassbar ist. Eines Tages aber erfassbar sein wird – als eine himmlische Offenbarung im Diesseits.

Der ungläubige Thomas glaubte in minderwertiger Weise, denn er vertraute – nach Art der Heiden – nur seinen Sinnen. Der auferstandene Herr kommt seiner Schwachheit entgegen und bietet ihm Evidenz durch körperliche Berührung an:

„Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und siehe meine Hände, und reiche dein Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein HERR und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Dieweil du mich gesehen hast, Thomas, glaubest du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“

Im Mittelpunkt griechischen Erkennens stand das Sehen, die Schau, die Theoria. Selbst abstraktes Denken war geistiges Sehen, Schauen vollkommener Ideen. Die Verlässlichkeit der Natur zeigte sich in der beruhigenden Wiederholung ihrer Rhythmen. Auf Mutter Natur war Verlass, weil sie auf unveränderlichen Prinzipien beruhte, mit denen sie Mensch, Tier und Pflanze behütete, hegte und pflegte. Zwar gab es Singuläres. Darauf aber konnte das Leben nicht bauen.

„Süßes Leben! schöne freundliche Gewohnheit des Daseins und Wirkens!“ Sagt Goethes Egmont. Wenn der Mensch in den Wirren seiner Konflikte sich als fehlbar, verletzlich, unstet und hinfällig erlebte, empfand er die sich stets wiederholende Gleichmäßigkeit der Natur als orgasmische Geborgenheit. Als Kosmos, als unzerbrechbar schöne Ordnung.

Im Mittelpunkt der christlichen Offenbarung steht Manjana, die Hoffnung auf das Morgen, auf die Wiederkehr des Herrn, der den Glauben in Schauen verwandeln wird. Das Schauen war eine Übernahme aus der griechischen Philosophie, die von Paulus in entscheidender Weise verändert wurde. Schauen bezog sich nicht mehr auf Gegenwärtiges, sondern auf Zukünftiges. Heute muss es geglaubt werden, manjana kann der Fromme es sehen. Wenn der Herr kommt:

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in rätselhafter Gestalt; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt worden bin.“

Sehen von Angesicht zu Angesicht ist persönliches Sehen des wiedergekehrten Herrn. Die ewige Wiederholung des Heiligen ist die Botschaft, dass alles Irdische sich ständig verändern muss, bis der Messias die endgültige Form aller Dinge, die unwiederbringliche Wahrheit vollständig ans Licht bringen wird. Bis dahin muss das Alte und Vergängliche sich permanent verändern. Denn die Natur ist in Sünde gefallen. Durch ununterbrochenes Häuten muss sie ihre sündige Vergänglichkeit abstreifen, bis der wiedererschienene Herr sagen wird:

„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind verschwunden.“ Bis zu dieser endgültigen Offenbarung gilt die Pflicht der Gläubigen, in mühseliger Arbeit und selbsterfüllender Prophezeiung das Neue herbeizuschaffen. Durch unermüdliche Vernichtung des Alten.

Die Moderne spricht von täglichem Neuerfinden. Moderne Kreativität ist nichts als die Vorwegnahme des ultimativen Neuen am Ende der Tage.

Ines Pohl spricht vom Neu-Gierigen. Es ist die Gier nach dem Neuen. Am Anfang des Erkennens stand für die Griechen das Staunen über die verlässliche Wahrheit des Alten, das identisch war mit dem Neuen. In der Natur gab es nichts objektiv Neues. Nur für den erkennenden Menschen gab es Neues als ständiges Dazulernen. Altes und Neues waren Kategorien des Menschen, der die Identität der beiden noch nicht erkannt hatte. Weisheit war daran erkennbar, dass subjektive Schwankungen immer mehr abnahmen zugunsten einer stabilen Schau des immergleichen Objektiven.

Ines Pohl spricht nicht vom Staunen des vernünftigen Lernens. Sondern vom Neuen, das sich durch Vernichtung des Alten einstellt. Der Kern der postmodernen Wahrheit, identisch mit der Wahrheit der christlichen Botschaft: das Wahre muss sich ständig ändern. Wahr ist, was neu ist. Deshalb muss die herrschende Zeitphilosophie sich regelmäßig in eine neue verwandeln. Das Neue ist nicht wahr, weil es wahr, sondern weil es neu ist. Was neu ist, ist automatisch wahr.

Die postmoderne Philosophie ist zugleich die Philosophie der modernen Medien. Was gestern war, ist alt geworden. Das Alte ist vergangen. Siehe, es muss täglich eine neue Sau durchs Dorf gejagt werden.

Neu-gierig und offen soll der Besucher des Kirchentages sein. Offen heißt hier nicht unbefangen. Es ist ein Synonym für die Bereitschaft, das vertraute und bewährte Alte ohne Gründe zu verwerfen, um das Neue in blindem Vertrauen als neue Wahrheit anzunehmen.

Alle Neuigkeiten auf dem Jahrmarkt kreativer Eitelkeiten sind unvermeidbar. Stumm müssen sie als Fortschritt akzeptiert werden. Eine Überprüfung findet nicht statt. Debatten sind lächerlich. Die Völker werden nicht gefragt, ob sie vom zwangsbeglückenden Fortschritt überrollt werden wollen. Blind haben sie zu schlucken, dann werden sie sehen. Werden sie nicht sehen, müssen sie erneut glauben: dass der nächste Fortschritt die Mängel des alten kompensieren wird. Und wenn sie nicht gestorben sind, werden sie sich in tausend Jahren noch immer täglich neu erfinden, das Alte auf den Müll werfen und auf den neuesten Allotria moderner Alchemisten warten, die das Gelbe vom Ei in der Materie entbinden, um Mensch und Natur zu erlösen. Denn Christus ward Fleisch. Fleisch ist Materie, die von Christus erlöst werden will.

Für Ines Pohl ist links sein und christlich sein identisch. Einst war links marxistisch. Marx hatte das Ende aller Religion als Opium des Volks erklärt – ohne zu bemerken, dass seine eigene Geschichtsphilosophie der christlichen Heilsgeschichte eine unbemerkte Zuflucht gewährte.

Das Heil des religiösen Bewusstseins hatte sich in das Heil des Seins verwandelt. Was im Geiste gewesen war, war materiell geworden. Religion hatte sich in ein Naturgesetz der Geschichte verwandelt. Glauben war Erkennen geworden. Doch ein Erkennen, das mehr Glauben forderte als sinnliche Vergewisserung bot. An das Reich der Freiheit musste man ebenso glauben wie an das Kommen des Reiches Gottes.

Marx wollte der Newton der Geschichte sein. Wie Newton die ehernen Gesetze der Natur erkannte, wollte Marx die unveränderlichen Gesetze der Geschichte erkennen. Geschichte sollte von Geschichtsgesetzen in gleichem Maße determiniert sein wie Natur von Naturgesetzen.

Der Mensch ist zwar ein Naturwesen, aber nicht vollständig determiniert. Indem er moralisch oder unmoralisch handelt, beweist er die Freiheit seiner Entscheidungen.

Wer die Freiheit des moralischen Menschen leugnet, kann sich jede Erörterung ersparen. Alles, was er sagt, ist von anonymen Mächten bestimmt und hängt nicht von seiner Erkenntniskraft ab. Er ist eine Maschine des Seins, der Geschichte, der wirtschaftlichen Gesetze, der Evolution. Maschinen argumentieren nicht. Sie agieren auf Knopfdruck.

Ines Pohl sucht Verbündete für eine bessere Welt. Wunderbar. Doch wie kommt sie auf die Idee, der christliche Glaube wolle die Welt verbessern? Er will die Welt überwinden, um das finale Paradies zu erreichen. „Denn alles, was aus Gott gezeugt ist, überwindet die Welt. Und das ist der Sieg, der die Welt überwunden hat, unser Glaube.“ „In der Welt habt ihr Angst. Aber siehe, ich habe die Welt überwunden.“

Wie kann man Schöpfung bewahren, wenn der Schöpfer selbst sie als Abbruchunternehmen definiert? Die irdische Welt kann nicht verbessert werden. Schon der Versuch ist blasphemisch und strafbar. Der Versuch der Verbesserung der irdischen Welt wäre ein Misstrauensantrag gegen den Herrn, der das Alte vernichten muss, um dem Neuen Platz zu schaffen. Die sündige Welt aus eigener irdischer Kraft verbessern zu wollen, ist Empörung wider Gottes Willen.

Weiß das die Chefin der TAZ nicht? Ist ihr schwäbischer Pietismus nicht bibelfest? Sucht sie Moral, wo es keine geben kann? Für den Glauben ist nur moralisch, was aus Glauben geschieht. Eine glaubensunabhängige Moral gibt es nicht. Glaube – und tu, was du willst. Ines Pohl müsste jeden Kirchentagsbesucher missionarisch zum Glauben auffordern. Der Fromme wäre automatisch moralisch. Die Gesinnung macht die Moral. Ungläubige Moral ist goldener Tand.

Eine gemeinsame Moral zwischen Gläubigen und Ungläubigen kann es nicht geben. Demokratische Moral ist aber eine allgemeine Moral. Sie verbindet alle Wesen der Natur, die mit Vernunft eine gemeinsame Moral der Völker erstreiten. Vernunft ist die Fähigkeit, das allgemeine Wahre durch einsames Denken und gemeinsamen Dialog nach und nach herauszukriegen.

Mit der richtigen Parole, die Welt durch Moral verbessern zu wollen, lockt Ines Pohl die Menschen in die Falle eines Glaubens, der die Verbesserung der Welt für fluchwürdig hält. Weiß das Ines Pohl nicht? Ist ihr das gleichgültig? Kennt sie nicht die dogmatischen Bücher der Theologen? Sind ihr die Bücher der Gottesgelehrten gleichgültig? Fühlt sie sich den Stellvertretern Gottes überlegen – weil sie selbst das Wehen des Geistes an sich erfahren hat?

Welch glücklicher Zufall, dass in derselben Ausgabe der TAZ ein Interview mit dem schwäbisch-pietistischen Über-Ich Ines Pohls – dem SPD-Urgestein Erhard Eppler – erschienen ist. Hier werden wir fündig.

Sie haben sich immer dagegen gewehrt, als Moralist in der Politik zu gelten?

Ich war nie ein Moralist! Ich habe immer eine ungeheure Allergie dagegen gehabt, wenn in der Politik moralisch argumentiert wurde. Denn das passiert ja meistens, um andere abzuwerten. Und das ist extrem unmoralisch“.

Eppler spricht aus, was bislang für alle Theologie galt. Die Offenbarung ist keine Morallehre. Sondern eine Glaubenslehre. Wer glaubt, ist moralisch. Und wäre er der größte Verbrecher.

Eine Moral der Vernunft schließt Unmoralisches aus. Eine Moral des Glaubens schließt nichts aus. Sie hat Freiheit zu tun und zu lassen, was sie in täglicher Neuerfindung für richtig hält. Heute A, morgen Non-A. Sündige tapfer, aber glaube. Christliche Moral ist antinomisch. Sie hält sich an keinen Nomos, sondern nur an den Glauben, der jedes Tun heiligt. Im Namen der Liebe kann jeder Mensch beglückt – oder abgeschlachtet werden. Liebe macht jede Unmoral zur Pflicht, wenn Gott zu dieser Pflicht ruft.

Moral mache unmoralisch, so Eppler, weil es andere abwerte. Ebenso gut könnte man sagen, das Reden der Wahrheit sei verboten, weil es Lügner der Lüge überführe. Wahrheit ist verboten, weil es andere der Unwahrheit bezichtige?

Das erinnert an Böckenfördes Aufforderung, der DDR nicht den Status des Rechtsstaates zu verweigern. Um die ehemaligen Ossis nicht zu kränken, dass sie in einem Unrechtsstaat gelebt hätten. Einer der anerkanntesten Juristen der BRD weiß nichts von einem totalitären Staat. Mag dieser Staat durch viele Paragraphen noch so stranguliert sein: wenn die Nomenklatura nach Belieben herrschendes Recht in Unrecht und Unrecht in Recht verwandeln kann, wird die rechtsetzende Autonomie des Volkes mit Füßen getreten. Sollte man NS-Schergen nicht ebenfalls eine moralische Bewertung ersparen und ihnen einen Rechtsstaat zugestehen, nur um sie nicht mit einem moralischen Totalverriss zu kränken?

In Deutschland geschieht Ungeheuerliches. Nicht nur im Fußball, wo Gladiatoren des Balls unter allen Umständen auf Geld und Glamour bestehen. Gleichgültig, ob zu diesem Zweck die Menschenrechte vieler Slumbewohner in Brasilien, vieler Sklavenarbeiter in Katar, oder zwanghaft Umgesiedelter in Sotschi verletzt werden.

Moralischer Kampf ist Benennen unmoralischer Umstände – um sie zu verändern. Nicht irgendwie zu verändern, sondern sie zu verbessern und zu humanisieren. Moral hat so eindeutig zu sein, dass sie politische Macht werden kann, die unmissverständlich angeben kann, was sie will und was sie nicht will.

Unmoralisches muss bekämpft werden. Mit demokratischen Methoden des Argumentierens, Streitens und mehrheitlichen Entscheidens. Nicht mit der Attitüde der Verachtung. Der Unmoralische ist nicht der Böse, sondern der Irrende, der durch Bekämpfen ernst genommen wird. Wer nicht mit anderen streitet, hält sie nicht für satisfaktionsfähig.

Wohl gibt es Grenzfälle – das Lieblingsfeld der überaus skeptischen Deutschen, die in Ausnahmen vernarrt sind –, doch das Leben besteht nicht aus Grenz- und Ausnahmefällen. Ausnahmen werden von der Regel bestimmt, nicht Regeln von der Ausnahme.

Eine Moral, die vernünftig sein will, unterscheidet in falsch und wahr, in moralisch und unmoralisch. Horribile dictu, sogar in schwarz und weiß – sofern nichts Metaphysisches darunter verstanden wird. Das Falsche und Unmoralische ist nicht das Produkt einer teuflischen List, sondern das unglückliche Fazit vieler Irrungen und Wirrungen, die aus ihrem schrecken-erregenden Labyrinth nicht herausfinden.

Plädiert Eppler nicht für Frieden? Für Verstehen der politischen Gegner? Für Entschärfen der Konflikte? Für objektive Darstellungen der weltpolitischen Lage? Für „vernünftiges Denken“? Für eine Politik, die Gutes bewirken soll? Sind das alles amoralische Sätze? Ist die deutsche Verwirrung im Denken noch zu steigern?

Ohne es zu bemerken, gesteht Eppler, dass klerikale Moral nichts zur Veränderung der Welt beiträgt:

„Wenn ein Bischof oder ein Papst sagt, dass es nicht sein kann, dass die Armen immer ärmer werden, dann muss er nicht sagen können, wie das zu machen ist. Ein Kirchenmann kann ja nicht anders, als an moralische Maßstäbe zu erinnern.“ (TAZ.de)

Doch, er muss es sagen. Sagt er es nicht, bestätigt er den Vorwurf, dass er die Welt nicht verbessern will. Kein Kirchenmann erinnert an moralische Maßstäbe. Sondern an die Pflicht, zu glauben. Im Glauben handelt jeder moralisch.

Kennt der Schwabe seine Bibel nicht? Wie kommt er darauf, weltliche Vernunft und Glauben seien vereinbar? Obgleich die Weisheit der Welt von der Torheit Gottes in Grund und Boden verdammt wurde? Gott will die Weisen der Welt – die Vertreter der Vernunft – zuschanden machen. „Denn das Törichte von seiten Gottes ist weiser als die Menschen. Paulus predigte nicht in Weisheit der Rede, damit das Kreuz Christi nicht entwertet werde.“ Durch Vernunft wird das Kreuz entwertet! Soll das Epplers Vertrauen in Vernunft sein?

Doch jetzt kommt die Auflösung aller Rätsel. Mag sein, dass Eppler und Pohl bibelfest sind. Es wäre einerlei. Was immer in der Schrift steht, es ist in seinem Wortlaut für keinen Gläubigen verbindlich. Der wahre Erleuchtete steht nicht unter, sondern über dem Buchstaben. In geistbegabter Omnipotenz bestimmt er, was der Buchstabe zu bedeuten hat.

„Nicht, daß wir tüchtig sind von uns selber, etwas zu denken als von uns selber; sondern daß wir tüchtig sind, ist von Gott, welcher auch uns tüchtig gemacht hat, das Amt zu führen des Neuen Testaments, nicht des Buchstaben, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.

Das Ganze in Eppler-Diktion:

„Wir führen unser Gespräch ja an Christi Himmelfahrt. Die Vorstellung, dass Christus in den Himmel aufgestiegen ist, ist ja an ein Weltbild aus dem 3. Jahrhundert gebunden. Deshalb hat dieser Feiertag für mich sehr wenig mit dem zu tun, was mir an der christlichen Botschaft wichtig ist. Sie sehen daran, dass man religiöse Texte heute nicht wörtlich nehmen muss. Diese Erkenntnis fällt allen Fundamentalisten, auch den christlichen, schwer.“

Wer Texte wörtlich liest, macht sich dem Buchstaben untertan. Der Buchstabe aber tötet. Hier stehen wir an der antisemitischen Wurzel des Neuen Testaments. Es waren die jüdischen Buchstabenversteher, die durch den neuen Geist der Christen übertroffen und dem Tode des Buchstabengehorsams überantwortet wurden. Indem sie ihr ganzes Leben dem Buchstaben folgten, um das Gesetz zu erfüllen, machten sie sich der Hybris der Gesetzeserfüllung durch eigene Kraft schuldig. Sie „töteten sich selbst“, indem sie den Text lasen, wie er objektiv vor ihnen lag.

Der neue Geist der Christen verhöhnte den Sklavendienst am Buchstaben und wollte von kategorischer Buchstabenfixiertheit nichts wissen. Die neue Freiheit der Kinder Gottes bestand in der Freiheit vom Gesetz und von allen Werken des Gesetzes.

Die Erfindung der Schrift, die Eindeutigkeit der Texte, die Klarheit der Buchstaben – das waren die Hauptwerkzeuge der griechischen Philosophie. Waren diese nicht eindeutig, bestand die Kunst des Dialogs in der gemeinsamen Klärung der Texte, Begriffe, Thesen und Definitionen. Geist verhalf dem Buchstaben zur Klarheit, der Buchstabe aber zwang den Geist zur Präzision.

Was verstehst du unter Tugend, oh Freund? Unter Weisheit, Gerechtigkeit, Logik, Gleichberechtigung, Pietät, Moral? Jedes Gespräch musste zuerst zu klären versuchen, wovon überhaupt die Rede war.

Was wäre, wenn heute jeder das Grundgesetz läse, wie es ihm gerade gefiele? Oder Texte der Straßenregeln, Bücher der Physik, der Geisteswissenschaften? Die Programme der Parteien oder die Feiertagsreden der Politiker? Im Nu wäre unsere Zivilisation wegen babylonischer Sprachenverwirrung im Chaos verschwunden.

Das Chaos im projektiven Deuten heiliger Bücher nennen die Christen die Freiheit des göttlichen Geistes. Solche Freiheit ist die schrecklichste Attacke eines religiösen Narzissmus gegen die notwendige, brückenbauende Klarheit menschlichen Redens und der präzisen Kodifizierung unserer kulturellen Überlieferung.

Es dauerte in der Geschichte des Abendlandes mehr als 1500 Jahre, bis die Textverhöhnung in Gestalt einer Religion sich in weltliche Philosophie verwandelte. Der Prozess der Säkularisierung ist keine Verweltlichung, sondern eine Wandlung der Offenbarung in weltliche Struktur. Die Aufklärung war noch eine treue Buchstabenverehrerin. Kant mühte sich unermüdlich um die präziseste, unmissverständlichste Formulierung. Nur von daher ist sein schwerer Stil verständlich. Erst ab Fichte und den Romantikern erhob sich der frei flottierende Privatgeist über den minderwertigen Buchstaben der Texte.

„Die Darstellung erkläre ich selbst für höchst unvollkommen und mangelhaft, teils weil sie für meine Zuhörer, wo ich durch den mündlichen Vortrag nachhelfen konnte, in einzelnen Bogen, so wie ich für meine Vorlesungen eines bedurfte, erscheinen mußte; teils weil ich eine feste Terminologie – das bequemste Mittel für Buchstäbler, jedes System seines Geistes zu berauben, und es in ein trockenes Gerippe zu verwandeln – soviel als möglich zu vermeiden suchte.“ (Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre)

Für Schleiermacher war jeder wahre Christ fähig, seine eigene Bibel zu verfassen. Auch er hatte den Heiligen Geist in sich. Sich an den Buchstaben klammern, hieß, sich an das Gemeine, Abstrakte, Ordinäre zu halten.

Was war der Sinn des Romantisierens?

„Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzen-Reihe sind. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man andere nie wahrhaft verstehen lernen.“ (Novalis)

Der ursprüngliche Sinn der Welt ist durch die Sünde verloren gegangen. Romantisieren bedeutet, den verlorenen Sinn durch den Geist der Erleuchtung wieder zu finden. Der vollkommene Geist des Garten Edens muss wieder zur Herrschaft kommen. Das Weltliche ist ordinär und gemein. Das Gemeine muss wieder seinen „hohen Sinn“, das Gewöhnliche sein „geheimnisvolles Ansehen“, das Bekannte wieder unbekannt werden (damit nicht jeder weltliche Schnösel das Heilige verstehe), das Endliche zum Unendlichen, das Irdische zum Göttlichen erhoben werden.

Die Fraktion der Buchstäbler wollte die „Romantisierung der Welt“ verhindern und vorlieb nehmen mit dem Ordinären, Gewöhnlichen, Geheimnislosen und Gemeinen.

Die gesamte Deutungskunst der postromantischen Theologie bis heute beruht auf dem Hass gegen die Klarheit und Eindeutigkeit der Buchstabenfraktion. Der omnipotente Geist der Erwählten stampft die Buchstäbler in den Boden. Die Antibuchstäbler lassen sich von keinem Text zur Raison bringen. Was der Text bedeutet, bestimmen die charismatischen Gläubigen.

Buchstäbler beherrschen nur schnöde Grammatik. „Grammatische Übersetzungen sind die Übersetzungen im gewöhnlichen Sinn. Zwar erfordern sie sehr viel Gelehrsamkeit – aber nur diskursive (= minderwertig-logische) Fähigkeiten. Zu den verändernden Übersetzungen gehört, wenn sie echt sein sollen, der höchste poetische Geist (identisch mit dem romantischen). Sie streifen leicht in die Travestie (Persiflage, Satire). Der wahre Übersetzer muss in der Tat der Künstler sein und die Idee des Ganzen beliebig so oder so geben können.“ (Novalis, Fragmente und Studien)

Die TAZ, insofern sie bewusst moralisch sein will, projiziert ihren Humanismus in die Heilige Schrift. Die humane Moral der Griechen verwechselt sie mit totalitären Antinomien der Bibel. Ines Pohl propagiert ein Christentum, das sie durch Wunschdenken in eine philosophische Moralpostille verwandelt hat. Sie meint Vernunft – und spricht vom Glauben.

Was Buchstabenfeinde übersehen: je mehr sie Vernunft in die Schrift hineinprojizieren, je mehr werden sie unbewusst infiziert mit dem totalitären Sinn der Urtexte. Nach außen sind sie Demokraten und Menschenfreunde, nach innen Erwählte, die die Nichterwählten dem Teufel übergeben.

Was würden die TAZler tun, wenn man ihre journalistischen Texte so willkürlich interpretierte, wie sie die heiligen Bücher?