Kategorien
Tagesmail

Klugheit

Hello, Freunde der Klugheit,

“auf dass wir klug werden“ (Kirchentag). Merkel muss an diese Tugend nicht erinnert werden. Schon lange ist sie klug – wie eine listige Schlange. Mit der Arglosigkeit der Taube hat sie es nicht. Sie gehört zu den klugen Jungfrauen, die nie ohne Öl ausgehen, um die Rückkehr ihres Herrn nicht im Tiefschlaf zu verpassen. Als die törichten Jungfrauen, denen der Saft ausgegangen war, bei den klugen um Öl nachsuchen, kriegen sie von den vorbildlichen eine Klatsche:

„Da antworteten die klugen und sprachen: Nicht also, auf daß nicht uns und euch gebreche; geht aber hin zu den Krämern und kauft für euch selbst. Und da sie hingingen, zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür ward verschlossen. Zuletzt kamen auch die anderen Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf! Er antwortete aber und sprach: Wahrlich ich sage euch: Ich kenne euch nicht.“

Der Herr selektiert und seine eifrige Jüngerin Angela hinterdrein. Wer nicht clever ist, hat in himmlischen Geschäften keine Chance. Klug sein im gläubigen Sinn, heißt listig sein und sich der größten Macht des Universums unterwerfen. Wer der Allmacht im Diesseits und Jenseits folgt, wird in Ewigkeit gewinnen. Die Törichten und Unklugen werden ausgeschlossen: die Tür ward verriegelt. Ich kenne euch nicht.

Warum wird in der Grexit-Affäre täglich die Formel wiederholt: die Zeit läuft ab? Diese Woche läuft sie wirklich ab? Weil Politik ecclesiogenen Mustern folgt. Griechenland ist das Land der Törichten, die borniert in den Tag hineinleben, vor lauter Trägheit und schlaffer Lust einschlummern. Merkel ist klug und hält ihre Piepen zusammen. Doch für leichtsinnige Lebenskünstler hat sie kein Verständnis: Kauft selbst, wenn ihr

was braucht. Ihr habt kein Geld? Selber schuld, hättet ihr nicht so viele Schulden auf euch geladen.

Schulden, das ist Schuld vor Gott und den Menschen. Merkel spielt die Rolle Luthers gegen alle Welt, weil sie den Himmel auf ihrer Seite wähnt. Sie und ihr göttlicher Vater trotzen dem Dolce far niente der törichten Welt. Die Welt kann man nicht verbessern. Mit der neunschwänzigen Geldpeitsche aber kann man sie disziplinieren.

Man kann sie aber auch selbst in Tiefschlaf versetzen, indem man Demokratie in ein Kasperle-Theater verwandelt. Hauptdarstellerin die Kanzlerin als Briefkastentante, die ihre Untertanen zur unmündigen Kita-Gruppe degradiert – und die lassen sich lustvoll degradieren.

Wenn Deutsche den Dialog mit Regierenden suchen, wollen sie dieselben nicht in die Pfanne hauen. Sie wollen durch deren Zuspruch geliebt werden. Mögen sie in weiter Entfernung noch so gemosert haben: wenn sie ins Allerheiligste der Kanzlerinnenmacht eingelassen werden, wollen sie die Stimme von Oben hören: Ihr seid meine geliebten Untertanen. Was wäre ich ohne euch?

Zum Bürgerdialog kam Merkel ohnehin nicht, um Antworten zu geben. Ihre Briefkastentantefunktion besteht im Zuhören. Antworten wäre Streiten, Rechenschaft ablegen. Das hat die Herzenskönigin Luise von Berlin nicht nötig. Ihr Amt ist nicht mehr von Volkes Gnaden.

Luise II „schwimmt hoch auf der Flut, wie die Taube und der Ölzweig. Sie bringt Hoffnung dem Lande, wie dort.“ (Wie dort in der Sintflut, als die Taube Noah Land meldete.) Luise II vereinigt das Land, indem sie die Spaltungen der schrecklichen Verweltlichung, des Aufklärichts und der Vernünftelei verheilt, um zur ökumenischen Einheit der einen christlichen Volksfamilie zurückzukehren:

„Was zuerst die Reformation in eine Vielheit von Konfessionen zerspalten und dann die Aufklärung teilweise ganz vernichtet hat, sollen Glauben und Liebe, gegründet auf die Erkenntnis einer vorbildlich-eigensüchtigen Ökonomie, wieder zu einer Einheit binden.“ (Frei nach H. W. Kuhn: Studien zur Staatsphilosophie des Novalis)

Wenn Merkel ihr Volk beehrt, kennt sie keine Fraktionen. Nur Menschen, die zu ihr aufschauen – und gute Zensuren nach Hause bringen wollen. Ein persönliches Wort von der mächtigsten Frau der Welt und die Frager fühlen sich mehr geehrt als durch Bundesverdienstorden. Wie kann man jemanden kritisieren, dessen Segen man zum eigenen Seelenheil benötigt?

Was deformiert unsere Demokratie im tiefsten Kern? Die schnappatmende obrigkeitsorientierte Untertänigkeit deutscher Seelen, die kein eigenständiges Selbstbewusstsein entwickeln. Und mögen sie am Stammtisch noch so herumpöbeln, der höchste Lohn ihrer außengeleiteten Kritik bleibt das Eiapopeia von Oben. Von Dialog auf Augenhöhe kann keine Rede sein. Die Psyche der Unmündigen hechelt aufwärts.

Nun aufwärts froh den Blick gewandt
und vorwärts fest den Schritt!
Wir gehn an unser Meistrin Hand,
und Angela geht mit.

Die Teilnehmer des Bürgerdialogs sind handverlesen. Wer nicht ins Claqueurenprofil passt, wird aussortiert. Na und? Auch nicht anders als in öffentlich-rechtlichen Talg-Runden, wo die 100 immergleichen Mitglieder der Creme de la Creme ihre einstudierten Texte repetieren dürfen.

In der Anne-Will-Show über Elmau kein einzig frisches Gesicht von der Gegenfront. Nur ausgebuffte Profis aus dem gastierenden Politzirkus. Selbst über die Blatter-Affäre, in die sie selbst verstrickt sind, nur Leute, die ARD und ZDF nicht gefährlich werden können. Ja, die Sender bringen die Chuzpe auf, eigene Alibikritiker als neutrale Sachverständige ins Spiel zu bringen. Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich, wenn das Bramarbasieren im Klamauk verendet.

Der beste Experte für FIFA-Bakschisch, Thomas Kistner von der SZ, durfte nur bei Sprüchemacher Markus Lanz un peu zur Sache reden. Alle Themen sind vorsortiert und handverlesen. Keine Gefahr für Merkel, die Aaron, dem Bruder des Mose, insofern ähnelt, dass sie eine schwere Zunge hat.

„Und das Thema Datenschutz, das derzeit wegen der BND-Affäre ja eine gewisse Brisanz hat, wird überhaupt nicht erwähnt. Dazu zumindest muss die Kanzlerin also keine kritischen Fragen fürchten. Was der Veranstaltung jedoch gänzlich fehlt, ist alles, was echte Demokratie eigentlich ausmacht: der Streit ums konkrete Detail. Die Diskussion um den besten Weg, der zu einem bestimmten Ziel führt.“ (Katharina Schuler in ZEIT.de)

Die Kanzlerin spielt Demokratie und lässt zum Spaß abstimmen. Sie hört nur zu – Streiten ist ihr wesensfremd – und verteilt Spitzenzensuren:

«Wenn Sie sagen, das ist wichtig, muss man das aufnehmen», betont sie ein andermal. Immer wieder verspricht sie: «Ich nehme das mit.»“ Am Ende ein kollektives Lob: die Kanzlerin hat einen Einblick in die Welt ihrer Untertanen erhascht. Für welche Welt hat sie die ganze Zeit Politik gemacht?

Erstaunt stellt sie fest, dass es verschiedene Meinungen gegeben habe. „Sie haben sich gut vorbereitet.“ Wenn Deutsche gelobt werden, heulen sie vor Rührung. Einige Deutsche schämen sich nicht, wie in einer Privataudienz bei Königin Luise persönliche Gnadengaben zu erflehen. Am Ende ist das deutsche Publikum erstaunt, dass die göttliche Obrigkeit ihre kostbare Zeit für unbedeutende Untertanen geopfert hat. „«Danke, dass Sie uns ein Ohr leihen. Das finde ich total super», sagt ein junger Mann.“

Merkel beherrscht das Metier der Pöbelbesänftigungsmethode aus dem Effeff. Der Propagandaminister des Dritten Reichs benötigte noch aufwendige Schnulzen- und Operettenfilme, um das desolate Ruinenvolk von der Rebellion abzuhalten (die Sorge war unbegründet, Deutsche rebellieren nicht. Sie schlagen tot und lassen sich totschlagen), Merkel muss nur persönlich anwesend sein, um ihre intrigante Lindigkeit dem Publikum zukommen zu lassen. Merkel – eine politische „Indifferentistin und echte Zynikerin“ à la Novalis – wird zur Gefahr für die deutsche Demokratie. Dafür lieben sie die Deutschen.

In ein bayrisches Naturschutzgebiet fallen die Mächtigsten des Globus mit ihren grobschlächtigen Kohorten ein. Ein finanzielles Sodom und ein politisches Gomorrha. Eine Handvoll Potentaten, die alles tun, nur nicht, was sie sollten: ihrem Job nachzugehen. Sie lassen den Planeten vor die Hunde gehen. Sie sind die schlimmsten Berufsverweigerer und Pflichtverächter auf dem ganzen Erdenrund. Gewählt, um die Überlebensfähigkeit der Gattung zu garantieren, unterlassen sie nichts, um in vorauseilendem Gehorsam zu schaffen, woran sie glauben: die Apokalypse.

Warum schauen die meisten Menschen zu, wenn die Natur verwüstet, die Gemeinschaften zerstört, die Demokratien zum Einsturz gebracht werden? Weil sie daran glauben. Die Amerikaner bewusst, die Deutschen durch Aufklärungsreste eingetrübt.

Wirtschafts-Verträge der reichsten Blöcke sollen die Gewalt der Oligopole gegen den Rest der planetarischen Loser unangreifbar machen. Anstatt den Raubbau der Natur zu schwächen, soll er angeheizt werden. Persönliche Gespräche der Mächtigen, so hören wir, würden alle Unkosten und Widrigkeiten der bayrischen Einigelung rechtfertigen.

Warum lassen sie sich nicht elektronisch vernetzen? Bejubeln sie nicht ständig den phänomenalen Fortschritt ihrer superintelligenten Maschinen? Die NSA überwacht die ganze Welt – und ist nicht in der Lage, die Machogruppe mit Dame elektronisch zu verbinden?

Elmau wird zur Schaumschlägerei, wie alle G7-Treffen. Die Mächtigen sind in ein Wachkoma mit pathologischem Redezwang verfallen. Möglicherweise haben wir es gar nicht mit sensitiven Organismen zu tun, sondern mit Golems, denen man die Physiognomie bekannter Politiker übergestülpt hat.

Jean Ziegler ist ein moralischer Gigant der Menschheit – mit altmarxistischen Schwierigkeiten, moralisch sein zu dürfen. Es ginge, beteuert er, um die Bekämpfung von Strukturen, nicht um moralischen Idealismus. In der Tat, die lebensfeindlichen Strukturen der Moderne müssen verschwinden. Doch der Entschluss, diese Strukturen zu bekämpfen, ist ein moralischer.

Ohne moralische Entscheidung keine politische Leidenschaft. Politik ist nichts anderes als überprivate moralische Betätigung. Wenn nicht ich es bin, der sich in Autonomie zu einem Tun entschieden hat, bin ich der Automat einer unbekannten Macht. Ich muss es für richtig halten, ich muss es wollen, dass die Erde von menschenfeindlichen Krebsgeschwüren befreit wird. Seit Solon nennt man das einen moralischen, einen tugendhaften Akt.

Moral ist nicht auf privates Wohltun reduziert. Das Private ist nur eine geschützte Sonderinsel im weiten Meer des Politischen. Moral bezieht sich auf meine private Existenz – und auf meine Polis, meinen Staat, ja, auf die ganze Menschheit. Wirtschaftsfürsten mögen über die beste private Moral verfügen. Gleichwohl haben sie nicht das Recht, sich einem unmoralischen System widerstandslos zu unterwerfen. Sonst machen sie sich mitschuldig. Moralische Wirtschaftskapitäne haben Partei zu ergreifen im Kampf gegen den Kapitalismus.

Das Interview mit Ziegler in der SZ zeigt die professionelle Dementia präcox der Medien, die sich als Schutz neoliberaler Weltgewalten verstehen. Kein deutsches Interview mit aufrechten Moralisten, das nicht von Stereotypen galoppierender Geistesabwesenheit geprägt wäre. Die Medien leiden an instrumenteller Schizophrenie, die sich verselbständigt hat.

Unter der Nötigung zur „objektiven“ Distanz und mangels eigener Argumente halten sie dem Befragten fremde Zitate unter die Nase. Werden die Zitate zerpflückt, können die Frager sich von ihnen distanzieren. Werden sie nicht zerpflückt, können sie von den Fragern als eigene adoptiert werden. Da sie nicht in der Lage sind, in eigener Kompetenz ein Streitgespräch zu führen und mit eigener Zunge zu sprechen, hüpfen sie von Zitat zu Überzeugung, von Überzeugung zu Zitat. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, heißt bei ihnen: habe Mut, dich hinter den Zitaten anderer zu verstecken.

Obgleich es um Sein oder Nichtsein der Gattung geht, glauben die Tagesschreiber das Privileg zu besitzen, die Kalamitäten der Erde aus einer außerplanetarischen Voyeursperspektive zu beobachten. Objektivität ist für sie nicht der Versuch, sich der Wahrheit anzunähern – Wahrheit haben sie abgeschafft –, sondern sich von allen Positionen gleichweit entfernt zu halten. Die Neutralen sind die Lauen, die der Herr als erste aus dem Munde speien wird – selbst wenn der Herr eine Phantasmagorie ist.

Warum nimmt Ziegler an einer Antikundgebung gegen Elmau teil, obgleich dort alle der gleichen Meinung wären „Tatsächlich sind dort doch nur Menschen mit der gleichen Meinung, die sich diese Meinung nochmal vorerzählen.“ (Süddeutsche.de)

In der Politik geht‘s nicht um äffische Neuerfindungen, sondern um die immer gleichen alten und ungelösten Probleme, die mit den wirksamsten, moralisch vertretbaren Methoden gelöst werden müssen. Popper wurde nur Philosoph, weil er mit gedanklicher Klarheit Probleme lösen wollte. Wer glaubt, die besten Methoden gefunden zu haben, sie eingehend überprüft und sie als unüberwindbar befunden hat, der muss eisenhart an ihnen festhalten.

Nicht christliche Gier nach Neuem, sondern die sokratische Wiederholung der ewig gleichen Wahrheit muss wieder zur Ehre kommen. Wer ständig neue Alfanzereien wünscht, sollte in die Modebranche oder in den Zirkus. (Auch dort gibt es nur regelmäßige Wiederholungen des Uralten.)

Die nächste Klischeefrage:

„Aber machen Sie es sich nicht zu einfach, wenn Sie die G7 allein für die Probleme der Welt verantwortlich machen: für Krieg und Hunger, für soziale Ungleichheit und den Islamischen Staat?“

Die genialsten Lösungen waren oft die einfachsten. Lösungen erkennt man nicht daran, dass sie einfach oder komplex, sondern wahr oder falsch sind. Es gehört zur Ideologie der Postmoderne, dass alles hyperkomplex sein muss. Das ist die moderne Version der christlichen Denkfeindschaft, die sich hinter dem Glauben verschanzt. Nicht weil Glauben einfach und erkennbar wäre, sondern für menschlichen Verstand uneinsehbar sein soll.

Der fanatische Glaube an das Überkomplexe entspricht dem Satz des Kirchenvaters: ich glaube, weil es absurd ist. Die Strategien der Mächtigen verfolgen das Ziel, ihre Macht durch überkomplexes Einnebeln unsichtbar zu machen. Sie imitieren die Methode Gottes, durch Bilderverbot unerkennbar zu sein. Macht euch kein Bildnis noch Gleichnis von den irdischen Problemen. Sonst versucht ihr noch, sie aus menschlicher Kraft zu lösen.

Alle Probleme der Menschheit sind vom Menschen gemacht. Vom Menschen müssen sie auch durchschaut werden. Wer metaphysische Rätsel vermutet, sollte Gottesgelehrter werden.

Gewiss, die Probleme sind in vielen, schwer durchschaubaren Ablagerungen zusammengebacken. Man muss arbeiten, um auf den Grund der Kalkschichten vieler Generationen zu kommen. Wer sich diese Arbeit ersparen will, gehört nicht zur Kategorie kantischer Selbstdenker. Er bleibt ein „Gipsabdruck“ seiner Umgebung.

Was schwer ist, ist nicht unlösbar. Wir brauchen Aktivisten der Tat, die zuvor Aktivisten des Denkens waren. Agitieren mit leerem Kopf ist selbstzermürbend. Erst, wenn Denken das Tun beflügelt, Tun den Kopf korrigiert, werden wir nachhaltig zur Sache kommen.

Nächste Klischeefrage: „Aber warum gegen die G7 demonstrieren? In diesen Ländern herrscht Demokratie, die Menschen sind frei. Deshalb wollen so viele Flüchtlinge nach Europa. Sollte man nicht gegen Diktatoren und Unrechtsregime protestieren?“

Sind Demokratien per se perfekt? In welcher heilen Illusionswelt lebt der Frager – sofern er solchen Stuss überhaupt ernst meint? Wenn kritische Demonstranten alle Probleme dieser Welt nicht auf einen Schlag lösen: sollten sie dann unfähig sein, ein einziges Problem zu lösen? Alles oder Nichts? Entweder Oder? Hier spielen kindische Allmachtsvorstellungen eine verhängnisvolle Rolle.

Wenn nichts mehr hilft, um den Befragten in die Knie zu zwingen, muss das letzte As aus dem Ärmel gezogen werden: „Wenn Sie jetzt behaupten, die letzte Schlacht stehe bevor – ist das nicht eine Strategie, um Ihre Bücher zu verkaufen? Es hat sich doch nichts getan in den letzten Jahrzehnten.“

Das Leben des Jean Ziegler liegt transparent jedem vor, der es nachvollziehen will. Was er denkt, hat er sein ganzes Leben lang in authentische Politik verwandelt. Politikern wirft man Wankelmut und charakterlosen Sinneswandel vor. Hier ist einer, der sein ganzes Leben lang aufrecht und unbeugsam für Gerechtigkeit in der Welt eingetreten ist – hilft nichts: auch dieser Tropf muss ins Feuer.

Eine solche Frage ist nichts als eine Rotzlöffeldreistigkeit. Früher hätte diese Unverschämtheit zum Duell geführt. Wer glaubt, unmoralische Motive vermuten zu dürfen, muss Indizien liefern und Beweise bringen. Davon ist hier weit und breit nichts zu sehen. Seinem Chefredakteur will der Schreiber nur seine hyperkritische Kompetenz beweisen. Doch sie beweist nur seine Hohlheit, die sich mit Aggression aufpeppen muss.

Am Schluss noch ein bisschen Bildungsgut, das den Befragten ultimativ in den Staub zwingen soll: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“  

Das Fragen entlarvt sich endgültig als Pawlow‘scher Reiz, um den Speichelfluss des Befragten zu provozieren. Vielleicht lässt der Gutmensch seine idealistische Masche fallen und entlarvt sich als Choleriker, der dem Interviewer zornig die Fresse poliert.

„Auf dass wir klug werden“. Da müssen die Schäfchen ziemlich unklug gewesen sein, dass sie pflichtgemäß klug werden sollen. Für Matthias Drobinski, Kirchenredakteur der SZ, ist Klugheit alles, was seine Assoziationen im postmodernen Schlussverkauf zu bieten haben. Wie alle frei flottierenden Schriftdeuter will Drobinski nicht wissen, was der Text des Psalmisten wirklich zu sagen hat. Er will den Urtext nur solange mit zeitgeistgemäßen Einfällen strangulieren, bis dieser jene Wahrheiten erbricht, die der Folterknecht des Buchstabens im Besitz des heiligen Geistes hören will.

Klugheit „stellt aber auch nicht das Himmelreich auf Erden in Aussicht; sie lässt im Gegenteil den moralischen Aufgeblasenheiten die Luft ab. Sie kennt die Grenzen der Kraft und respektiert das Vorläufige.“ (Matthias Drobinski in Süddeutsche.de)

Das Wort der Schrift gegen moralische Autonomie der Welt. In der Welt gibt es keine altarmäßige Unterscheidung zwischen Vorläufigem und Jenseitigem. Alles ist Diesseits. Auch hier walten die Götter, all die guten Götter der Mutter Natur. Zu welchen moralischen Leistungen der Mensch fähig ist, kann kein Phantast des Himmels ex cathedra bestimmen. Lust und Leidenschaft sind die Fittiche zu großen Taten. Wer von vorneherein den Skeptischen mimt, wird skeptisch auf der Strecke bleiben.

Die Menschheit hat ihre moralischen Fähigkeiten noch gar nicht entfalten können. Die welthassenden Mundstücke des Himmels haben nichts Besseres zu tun, als dem homo sapiens die Lizenz zur Humanität abzusprechen. Das ist Verrat an der Welt im Namen eingebildeter Jenseits-Autoritäten.

Was bedeutet der fragmentarische Satz aus dem 90. Psalm in buchstäblerischer Pedanterie? Es genügt, den Kontext zu lesen. Dann erfahren wir: klug werden, bedeutet, den baldigen Tod zu erkennen – um vor Gott, dem Herrn des Todes, rechtzeitig in die Knie zu gehen:

„Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen, und dein Grimm, daß wir so plötzlich dahinmüssen. Denn unsere Missetaten stellst du vor dich, unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht. Darum fahren alle unsere Tage dahin durch deinen Zorn; wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz. Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon. Wer glaubt aber, daß du so sehr zürnest, und wer fürchtet sich vor solchem deinem Grimm? Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.“

Memento mori, gedenke des Todes. Für Platon war Philosophieren Sterben lernen. Nicht um sein Leben in Trübsinn zu verbringen, sondern im Gegenteil. Wer seine Endlichkeit nicht verdrängt, kann sein Leben in Eudaimonie verbringen. Wer sich klar gemacht hat, dass keine rachsüchtigen Götter nach dem Tode warten, um die Menschen zu bestrafen, der kann sein irdisches Leben in ungetrübter Freude verbringen – davon war Epikur überzeugt.

Bei Christen hat das Memento mori den entgegengesetzten Zweck. Ein freudloses Leben in Leid und Schmerz soll vom Richter des Jüngsten Gerichts mit himmlischer Seligkeit belohnt werden. Das ganze Leben muss in Furcht vor höllischen Strafen verbracht werden. Nur Glauben und Hoffen können die Qualen der Furcht ein wenig dämpfen.

„Denn wir vergehen durch deinen Zorn, fahren plötzlich dahin durch deinen Grimm“.

Die Gläubigen bilden sich ein, einen gnädigen Gott gefunden zu haben. Ihre vom Teufel eingeflüsterten Zweifel bekämpfen sie, indem sie ungläubige Zweifler in die Hölle schicken. Wie verteufelt klug!