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System und Moral

Hello, Freunde des Fischkopfs,

der Kapitalismus hat seine Chance gehabt, er muss gehen. Der Fisch stinkt vom Kopf her und die Köpfe des Kapitalismus stinken rund um die Welt. Mindestens 200 Jahre lang hatte der Kapitalismus Zeit, sich zu bewähren. Er versinkt in seinen Widersprüchen.

Nein, er versinkt nicht in seinen Widersprüchen, denn einen Kapitalismus gibt es nicht. Es gibt überhaupt keinen Begriff, der unabhängig von uns ein Eigenleben führen könnte. Es gibt nur Menschen, die kollektiven Handlungsdevisen folgten, die sie auf Automatik stellten.

Der Mensch muss sich ändern, der dem kapitalistischen Automatismus folgt, den er selbst erfunden und installiert hat. Der Mensch versinkt in seinen Widersprüchen.

Wenn wir sagen, der Kapitalismus muss sich ändern, schauen wir in den blauen Himmel und warten, bis ein neu möblierter Luxuskäfig von oben eingeflogen wird, der den alten verrotteten Käfig ersetzen soll. Der Wechsel der Käfige wird doch nichts mit uns zu tun haben? Das alte System muss weg, ein neues her – ohne, dass wir selbst uns ändern müssten.

Kapitalismus ist die zum System erfrorene Kollektivmoral einer Gesellschaft, inzwischen vieler Gesellschaften, ja der gesamten Menschheit.

Habe ich gesagt, der Mensch müsse seine private Moral verändern, dann werde sich alles ändern? Nein. Der Mensch darf seine Moral nicht länger in private und politische aufspalten. Mit ihrer privaten Moral stehen die

meisten Menschen in Opposition zu ihrer politischen und wirtschaftlichen. Dass es ihre abgespaltene öffentliche Moral ist, die ihre unmoralische Politik und Wirtschaft absegnen, wollen sie nicht sehen.

Moral ist für sie nur private Moral. Alles andere ist – das System, draußen in der bösen Welt, von unbekannten bösen Mächten erfunden und privaten Moralisten aufs Auge gedrückt. Würden sie ihre private Moral ändern, glauben sie, würde sich am System kein Jota ändern.

Es komme doch nicht auf Privatmensch X an, sagen gewiefte Systemkenner: das System muss geändert werden. Ändere sich das System, ändere sich auch der Mensch. Ändere sich aber nur der Mensch, ändere sich nichts auf der Welt.

So denken die Linken, die nicht an die Kraft der Moral glauben: sie glauben an automatische Geschichtsabläufe, die eines unbestimmten Tages das System verändern werden. Zwar muss der Mensch kooperieren und Barrikaden errichten, aber nur, wenn der Ruf der Geschichte ihn auffordert.

Das eigentliche System der Linken ist nicht der Kapitalismus, sondern die Geschichte. Es gäbe keinen Kapitalismus, wenn Geschichte ihn nicht erfunden hätte. Nur wenn Geschichte eines Tages befindet, der Kapitalismus habe seine Schuldigkeit getan, darf er gehen. Dann muss er abtreten, auch wenn er nicht will. Und ist er nicht willig, braucht Geschichte Gewalt.

Der Gott der Linken ist die Geschichte. Das verbindet sie mit den Frommen, deren Gott die Heilsgeschichte lenkt. Auch für Linke ist Geschichte Heilsgeschichte. Allerdings brauchen sie keinen Gott, der über der Geschichte steht, um sie von oben zu leiten. Ihr Gott ist mit der Geschichte verschmolzen.

Hassen die Linken den Kapitalismus? Nein, sie bewundern ihn. Besser: sie bewunderten ihn, denn jetzt bewundern sie ihn nicht mehr. Für sie ist der Kapitalismus alt und tatterig geworden. Er bringt‘s nicht mehr, er muss aufs Altenteil. Was er mit der linken Hand erschafft, fegt er mit der rechten vom Tisch. Ein Kapitalismus in Widersprüchen ist ein Kapitalismus in Demenz.

Der Sozialismus ist der eingeborene Sohn des Kapitalismus, der das Werk des hinfälligen Alten mit geringfügigen Änderungen fortsetzen soll. Auch hier die Wiederholung der christlichen Heilsgeschichte: auch der Sohn schafft‘s nicht, das Heilswerk des Vaters durch Veränderung zu retten. Wie Gott-Vater und Gott-Sohn, so versagen Gott-Vater-Kapitalismus und Gott-Sohn-Sozialismus. Jetzt müssten wir auf den Heiligen Geist warten, der uns klüger macht als Vater & Sohn zusammen.

Hätte der Sozialismus sich durchgesetzt und den Kapitalismus besiegt, was wäre heute? Wäre der Kapitalismus spurlos vom Erdboden verschwunden?

Ach wo. Ungerührt würde er – als Produktionsmethode – die Natur weiter ausbeuten. Die Menschen müssten genau so viel malochen wie die ganze Zeit. Nur das Verteilungsproblem wäre besser gelöst, die Früchte der Arbeit würden gleichmäßig und gerecht allen Menschen zukommen.

Erst, wenn das Reich der Freiheit am Horizont erschiene, würde die Arbeitszeit allmählich verkürzt werden. Doch selbst im sozialistischen Paradies müsse der Mensch – so Paradiesexperte Marx – noch etwa vier Stunden arbeiten. Den Rest des Tages darf er sich langweilen, pardon, ein Leben in Muße führen. Für heutige Kapitalisten eine Horrorvision.

Theoretisch war der Sozialismus naturfreundlicher als der Kapitalismus, Natur war für ihn das Materielle, das den Menschen trägt und ernährt. Praktisch aber wollte der Sozialist der Natur genau so die Gräten brechen wie der Kapitalist. Auch der Sozialist fühlte sich als uneingeschränkter Herr der Natur, dessen Heilsgeschichte auf Kosten der Natur ablaufen musste.

Der Kapitalismus kennt auch eine Heilsgeschichte. Dafür hat er verschiedene Namen. Ist der Kapitalist wiedergeborener Amerikaner, ist seine Heilsgeschichte identisch mit der christlichen. Woran er glaubt, das stellt er selber her. Er glaubt an das Ende der Welt, also muss er das Ende der Welt durch seine Taten selbst herbeiführen.

Wenn er von Welt spricht, meint er zumeist die Natur. Da es aber hässlich klingt, vom absichtlichen Ende der Natur zu reden, spricht er lieber vom Ende der Welt. Welt hat für die meisten Christen und Postchristen einen Pesthauch von Sünde an sich. Die schnöde, böse, verworfene, wertlose, vergängliche, zerrüttete Welt, sie soll zum Teufel gehen. Aber doch nicht die Natur, die hat bei den meisten einen guten Klang.

Deutsche Christen, also jene, die vom christlichen Glauben keine Ahnung haben, wissen nicht, dass Natur in der heiligen Schrift das Reich des Teufels ist, das Christus am Kreuz besiegt hat und am Ende der Tage die Flatter machen muss.

Die Übersetzer der Schrift haben Natur zumeist mit Welt übersetzt. Dann klingt es nicht so brutal, wenn es heißt: ich habe die Welt überwunden. Habt nicht lieb die Welt, noch, was in der Welt ist. Die Welt vergeht mit ihrer Lust. Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.

Übersetzen wir mal wörtlich: Habt nicht lieb die Natur, noch was in der Natur ist. Unser Glaube ist der Sieg, der die Natur überwunden hat.

Für Menschen, die nicht an eine jenseitige Übernatur glauben, ist Welt ohnehin mit Natur identisch. Kosmos ist das Ganze. Dazu gehört der Mensch und alles, was er in der Welt vollbringt.

Auch für den christlichen Kapitalisten ist das eigentliche System, vom dem er abhängt, nicht die Wirtschaft, sondern die Heilsgeschichte, deren wichtigster Motor allerdings die Wirtschaft ist, in der sich durch Erfolg und Misserfolg zeigt, wer zu den Erwählten und wer zu den Verworfenen gehört.

Für den christlichen Amerikaner muss nicht das System Wirtschaft überwunden werden, denn das gehört zum unersetzlichen Inventar der Heilsgeschichte. Er will nur das System des Teufels zum Teufel jagen und das ist die Welt der Verworfenen, die am Ende der Tage im Feuersee verschwinden.

Für den diffusen Deutschen ist Kapitalismus ein zwiespältig Ding. Sein amerikanisches Über-Ich kniet vor dem Kapitalismus, sein altdeutsches Es hasst den Kapitalismus. Sein Ich schließt einen Kompromiss: Kapitalismus ist schlecht, aber heilsnotwendig. Das Böse ist Motor des Guten, Mephisto ist Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Auch Hayek, einer der Gründerväter des modernen Neoliberalismus und althabsburgisch-adliger Katholik, hat ein System, an dem er nicht rütteln lässt. Inhaltlich ist sein System identisch mit der amerikanischen Heilsgeschichte, doch lieber redet er von Evolution. Was Evolution auch immer tut und macht, für Hayek ist es das Nonplusultra.

Kapitalismus ist der treue Knecht der Evolution. Alles sozialistische Gerede von Gerechtigkeit ist Nonsens, denn Evolution tut, was sie will. An menschlichen Moralvorstellungen orientiert sie sich nicht.

Der eine mag eine tolle ökologische Idee haben und den Markt mit einem Spitzenprodukt beglücken wollen, doch Evolution sagt rüde Nein und schon war‘s um den Gutmenschen geschehen. Der andere macht Google und ähnliche faschistische Spähsysteme und siehe, die unberechenbare Madame Evolution winkt den Schrott durch und macht ihn zum Welterfolg. Gott gibt, Gott nimmt, der Name Gottes sei gepriesen.

Wir sehen: westliche Welt will kein System verändern, die sozialistische liegt im Dreck, ihr Heilssystem hat versagt. Die meisten Kapitalismuskritiker sind Ex-Linke, die unbewusst an Marx festhalten, ihr tägliches Handeln aber mit einer Prise schlechten Gewissens am Kapitalismus orientieren.

Schröder ist mit seiner willfährigen Partei voll auf den neoliberalen Zug aufgesprungen, mit ein wenig Sozialschminke fürs proletarische Poesiealbum. Hollande wollte es besser machen und liegt seit Sonntag im Morast. Die europäischen Parteien mit dem sozialen „Wieselwort“ im Namen reden von Gerechtigkeit, in Wirklichkeit konkurrieren sie ums höchste BSP, als hätten sie nie etwas anderes getan.

Woher soll nun Hilfe kommen, wenn nicht von Monsieur Piketty, dem neuen linken Star, der schon als zweiter Marx gepriesen wird! Hat Piketty eine Alternative zum System?

Upps, das fängt ja gut an: Piketty bewundert den Kapitalismus. (FAZ-Interview von Gerald Braunberger)

„Mir ist in Besprechungen meines Buches vorgeworfen worden, ich würde Pessimismus verbreiten. Das stimmt nicht, vielmehr verbreite ich viele gute Nachrichten. Ich bewundere den Kapitalismus, ich bewundere das Privateigentum und ich bewundere die Marktwirtschaft. Natürlich sehe ich, dass Wirtschaftswachstum vornehmlich im Kapitalismus entsteht. Natürlich hänge ich am Privateigentum, weil es eine Grundlage unserer Freiheit darstellt. Es gab noch niemals so viel Kapital wie heute. Ich war 18 Jahre alt, als die Berliner Mauer fiel. Ich gehöre einer Generation an, die niemals Sympathie für den Kommunismus besaß.“

Muss, wer Kapitalismus kritisch sieht, gleich ein Kommunist sein? Hat der Kapitalismus das Privateigentum erfunden? Haben wir noch eine Marktwirtschaft, also eine Wirtschaft auf einem transparenten Markt?

Oder beherrscht uns eine geheimnisvolle, abgeschottete, von Computern gesteuerte Finanzwirtschaft, die mit Tauschen auf dem Markt nichts mehr zu tun hat?

Was hat Warren Buffett mit Adam Smith zu tun? Wovon spricht Piketty, wenn er von Kapitalismus spricht?

Jetzt hören wir sinnvollere Sätze: „Mir kommt es darauf an, dass die wirtschaftliche Kraftentfaltung des Kapitalismus im Dienste des Gemeinwesens stattfindet. Mit anderen Worten: Der Kapitalismus soll nicht die Demokratie beherrschen, vielmehr soll die Demokratie für den Kapitalismus einen Rahmen setzen.“

Was folgt daraus? Piketty will die Superreichen hoch besteuern. Aus Gerechtigkeitsgründen? Iwo.

Frage: „Das heißt: In Europa befürworten Sie eine Vermögenbesteuerung nicht, weil Sie in der Konzentration der Vermögen eine Gefahr sähen, sondern weil eine Besteuerung der Vermögen aus Ihrer Sicht der geeignetste Weg ist, die hohe Staatsverschuldung zu bekämpfen?“

Antwort: „Genau. Wir haben ein sehr niedriges Wirtschaftswachstum und wir müssen mehr für unsere Zukunft tun, indem wir mehr in Bildung und in moderne Technologien investieren. Das ist auch eine Staatsaufgabe, aber die hohe Verschuldung vieler Staaten in Europa verhindert notwendige Investitionen.“

Piketty kritisiert nicht mangelnde Gerechtigkeit oder die beklagenswerte Lage der Schwachen und Abgehängten, er kritisiert das geringe Wirtschaftswachstum. Die Steuern der Reichen sollen den wirtschaftlichen Motor ankurbeln.

Es ist zum Steineerweichen. Wie oft kann man Artikel lesen, die vor suizidalem Wachstum warnen. Natur sei nicht grenzenlos, also könne es auch kein grenzenloses Wachsen der Wirtschaft und des Wohlstandes geben. Kommt‘s aber zum Schwur oder zu einer entscheidenden Wahl, hört man von diesem Thema nichts mehr. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Das ist es, was die Menschen vom Urnengang abhält, nicht ein etwaiges Desinteresse an der Politik. Sie ertragen nicht den Abstand zwischen dem, was sie für notwendig halten, und dem, was sie in der Alltagspolitik erleben. Ihre dauerenttäuschte kognitive Dissonanz hält sie von politischem Engagement ab.

Auch Piketty erwähnt das ökologische Argument mit keiner Silbe. Ist Ökologie noch immer kein Bestand der Ökonomie? Haben selbst kritische Wirtschaftler keinen Zugang zur gefährdeten Kooperation zwischen Natur und homo oeconomicus?

Was sind Wirtschaftstheorien wert, wenn sie das Naturproblem ausklammern? Piketty kann sich nicht vom Dogma des linearen Fortschritts durch Wachstum lösen. Das einzig Kritische, das er bietet, ist der Satz, Wirtschaft müsse für die Demokratie da sein und nicht umgekehrt.

Was dringend notwendig wäre, ist eine Zusammenführung von Ökonomie und Ökologie, wie es bereits vor Dekaden der alternative Ökonom Ernst Friedrich Schumacher in seinem Buch: „Small is beautiful, die Rückkehr zum menschlichen Maß“, eindringlich versucht hat. Dort trat er für eine „Miniaturisierung der Technik“ ein und für ein „Maximum an Glück mit einem Minimum an Konsum“.

Diese Thesen sind heute vom Winde verweht. Kaum ein alternativer Ökonom, von den Grünen ganz zu schweigen, traut sich zu sagen: der Sinn der Wirtschaft besteht in sicherer Ernährung der Menschheit und in einem naturverträglichen, gerecht verteilten Wohlstand, der den Menschen das „Sein in der Sorge“ vertreibt und die Chance zu einem heiteren Leben verleiht.

Piketty bleibt dem Wahn einer ins Grenzenlose rivalisierenden Nationalwirtschaft verpflichtet.

Das System Kapitalismus ist eine kollektive Moralversteinerung der Menschen, die sich mit pseudokritischer Privatmoral darüber hinweg mogeln, dass sie selbst die Macher und Produzenten des Kapitalismus sind und deshalb dafür zuständig wären, die Versteinerung in seine Bestandteile aufzulösen und wegzuschwemmen.

Wenn ich selbstberauschende kritische Gefühle gegen das System in mir spüre, gestatte ich mir, gegen das konkrete Ungetüm ohnmächtig zu sein. Ich benutze meine Privat-Moral, um meine öffentliche Unmoral zu rechtfertigen.

Die Kirchen mit ihrer folgenlosen Appellationsmoral (oder Symbolpolitik) haben Macht über die Menschen, weil sie ihnen das Gefühl vermitteln, das Äußerste an Moral in der sündigen Welt zu tun. Dass Kirchen gar nicht daran denken, die Welt zu verändern und zu verbessern – sie würden ja ihren Erlösungsauftrag unterlaufen –, wollen ihre autoritätssüchtigen Schäfchen nicht erkennen.

Als dem Zauberlehrling der Besen über den Kopf wuchs, war er zu seinem System geworden. Systeme können nur entstehen, wenn der Mensch seine Verantwortlichkeit auf den privaten Bereich beschränkt und den gesellschaftlichen Rest dem Zufall, Gott oder der Evolution überlässt.

Der Mensch wird Kapitalismus und andere Selbstschädigungen erst überwinden, wenn er die Zuständigkeit seiner Moral auf den Bereich seines planetarischen Schicksals ausdehnt.