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Simone de Beauvoir

Hello, Freunde der ungeborenen Kinder,

ungeborene Kinder sind nicht gefährdet. Sie leben im Schutz der Natur, die sie nicht zwingt, Einzelne unter Einzelnen zu werden. In Deutschland bleiben immer mehr Kinder im Dunkel der Natur. Sie können nicht scheitern, denn niemand hat sie genötigt, das Licht der Welt zu erblicken. Sie weigern sich, ungefragt in die Welt geworfen zu werden.

Wäre es nicht an der Zeit, sie – bevor sie gezeugt werden – zu befragen, ob sie den Parcours der Leiden überhaupt wiederholen wollen?

Manchmal kannst du lange über Wege und Nebenwege gehen und hörst keinen einzigen Kinderlaut. Da vorne kommt eine Mutter mit zwei Kindern, das dritte ist schon im Bauch, und muss sich gehässige Worte anhören. Wie leblos, oft verkommen, die meisten Spielplätze. In der betonierten Mitte die Rutsche des Lebens, erst muss man klettern, dann geht’s abwärts. Eine vereinsamte Tischtennisplatte, keine Menschen. Selten Gruppen von Müttern, die sich ihres Lebens freuen, schwatzen und lachen. Väter? Väter gibt es keine.

Warum sollte man Kinder in die Welt setzen? Warum sollten sie mit Dasein bestraft werden, wenn irdisches Dasein sich am Horizont verdüstert? Wüssten wir, dass die Menschheit Bankrott machte: wäre es zu verantworten, kleine Menschen in die Welt zu setzen und sie sehenden Auges dem Bankrott entgegenziehen zu lassen?

Wer Kinder zeugt, darf kein Pessimist sein. Pessimisten gibt es keine mehr, sie haben sich zu Depressiven weitergebildet. Jetzt dürfen sie Pillen schlucken, um wieder optimistisch zu werden. Die Dosis macht den kleinen Unterschied zwischen

Zuversicht und Verdüsterung.

Wollen die Deutschen aussterben? Sind sie Kinderfeinde geworden? Das wäre ja eine klare Diagnose. Die Deutschen sind ein bemühtes, aber kein helles Volk. Der alte, verdiente Politiker will auf seinem Grabstein lesen: Er hat sich bemüht.

Wie lange schon gibt es Menschen auf der Erde und noch immer ächzen und mühen sie sich und können nicht heiter und freudig sein? Oder konnten sie es früher und haben es wieder verlernt?

Es gibt kein Zurück, sagen Gelehrte mit linearen Kalendern, die Menschen könnten ja lernen, was sie in Urzeiten gekonnt. Dann wäre der Fortschritt eine Illusion, wir müssten den Rückwärtsgang einlegen, um vorwärts ins Helle zu kommen.

Wäre es nicht unterlassene Hilfeleistung, Kinder zu zeugen, der Welt zu überlassen und dann den Abgang zu machen? Bestünde wahre Kinderliebe nicht darin, die Kinder im Bauch der Natur zu lassen und ihnen das Schicksal des Menschseins zu ersparen?

Dorothee Siems hat in der WELT einen traurigen und ratlosen Artikel geschrieben. Das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern, so Siems, sei noch nie so gut gewesen:

„Nie war das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern besser. Je größer der Anteil der Kinderlosen und zunehmend auch der Enkellosen in dieser Gesellschaft wird, desto weniger können Familien auf Verständnis für ihre Anliegen hoffen. So passt es ins Bild, dass die derzeitige Familienpolitik vor allem dem Arbeitsmarkt und weniger Eltern mit kleinen Kindern dient.“ (Dorothea Siems in der WELT)

Frau Siems ist Wirtschaftskorrespondentin und Mutter von vier Kindern. Hat sie die Mär von der Verträglichkeit aufgegeben? Der Verträglichkeit zwischen Kind und außerhäusigem Beruf?

Moderne Frauen müssen dem Herd entfliehen und Heimchen am Schreibtisch werden. Dort verkümmern sie seelisch, sehen nicht, wie ihre Kinder sich entwickeln und können sie nicht ins Leben begleiten. Vor allem können sie von ihren Kindern nichts lernen. Für diese Demütigung müssen sie auch noch zahlen, indem sie viel weniger verdienen sie als die Männer, die durch Zeugen ihre Väterverpflichtung hinter sich gebracht haben. Väter sind jene Wesen, die ihre Familie subventionieren, damit sie ihr guten Gewissens fern bleiben dürfen.

Wenn etwas verträglich sein soll, kann es ja noch nicht verträglich sein. Verträglich ist Kind und Beruf genauso, wie Orgasmus mit Telefonieren verträglich ist. Werden wir genauer: das Leben an sich ist mit der herrschenden Erwerbsarbeit unverträglich. Auch für die Männer. Doch die lassen sich nichts anmerken, wenn sie nur für ihre Maloche bezahlt werden und sich wichtig fühlen dürfen.

Irgendjemand muss die Kohle doch beischaffen – oder? Gewiss doch, besonders die Kohle für jene, die innerhalb weniger Monate 200 Milliarden gut gemacht und demnächst ihre rostfreien Schätze erneut verdoppelt haben werden. Gut zu wissen, dass es einem Prozent der Weltbevölkerung gut geht, da nehmen wir doch hin, dass ungeborene Kinder den irdischen Wahn durch Geburtsstreik boykottieren.

Der moderne Feminismus, der Maloche und Kinder, Männeridiotie und Kinder, Reichtumsidiotie und Kinder, Hasthetzestress und Kinder, vereinbaren wollte, ist tot. Friede seiner Asche. Es geht nicht darum, dass Frauen zu Hause bleiben. Wer auch immer zu Hause bleibt, er kann elterliche Zuwendung nicht mit elterlicher Abwendung unter einen Hut bringen. Wenn eins und eins zwo ist, kann eins und eins nicht drei sein.

Die Männer veränderten und rührten sich nicht. Sollten die Frauen die Welt verändern, mussten sie aktiv werden. Die Frauen mussten zwei Welten addieren, wenn sie Veränderung wollten: ihre uralte-weibliche und die neue männliche. Das war die Falle für Frauen, die mit Herkulesleistung die Männer in den Schatten stellen wollten.

Es ist nicht so, wie Siems behauptet, dass die Deutschen kinderfeindlich wären. Doch sie haben Angst, Kinder einer Zukunft auszusetzen, die keine Gegenwart kennt. Leben findet in der Gegenwart statt. Wenn Gegenwart nichts gilt, kann Leben nichts mehr gelten.

Kinder leben in keiner Zukunft. Wollen sie groß und stark werden, sind sie es bereits durch ihre Vorstellungskraft. Was sie imaginieren, was sie sind, wird zur Einheit. Eine Zeitentrennung ist Kindern unbekannt. Jede Erinnerung ist für sie plastische Gegenwart. Jede Phantasie ist für sie proppenvolle Realität. Kind, warum liegst du immer am Rand des Bettchens? Papa, siehst du nicht, dass meine besten Freunde neben mir liegen?

Wer immer die Zeitentrennung erfunden hat, er kann kein Kinderfreund gewesen sein. Nicht mal ein Freund der Erwachsenen, die ihr Glück in ein erhofftes Glück am Ende aller Tage zerstäuben müssen. Die leere Gegenwart müssen sie ertragen, indem sie sich auf eine ominöse Zukunft vertrösten lassen, die am Sankt Nimmerleinstag eintritt, also nie und nimmer.

Die Deutschen sind nicht kinderfeindlich. Sie müssen granteln, weil sie sich schämen, dass sie Kinder lieben – und ihnen keine lieblose Welt zumuten wollen.

Warte nur ein Weilchen, mein Kind. Worauf denn, Papa? Auf den Besuch der Freunde, aufs Spielen im Schwimmbad, auf den ersten Schultag, auf das Glück. Auf das Glück? Aber ich bin doch schon glücklich, worauf soll ich warten?

Immer sollen die Menschen warten. Nie soll eintreten, worauf sie gewartet haben. Warten auf Godot, nannte einer den Schwachsinn der Erwachsenen. Warte nur, balde ruhest du auch.

Das Leben geht vorbei und sie haben die ganze Zeit auf das Leben gewartet. So weit hat‘s die Menschheit gebracht: auf ein globales Leben im Wartezustand. Verglichen mit abgrundtiefer Verzweiflung ein Fortschritt. Verglichen mit vitalem Leben ein Betrug. Nichts gegen Hoffen. Doch alles gegen eine Hoffnung, die nie eintreten wird. Am Hoffen und Harren erkennt man den Narren.

Die Frau kann nicht zum vollwertigen Menschen werden, solange niemand in der Welt ein vollwertiger Mensch geworden ist. Die Männerwelt soll das Ziel aller Frauenträume sein? Dann wären die Frauen nicht mehr zu retten.

Simone de Beauvoir wusste, dass die befreite Frau ohne den befreiten Mann nicht möglich ist. Also müsste der Mann befreit werden, damit die Frau Mensch werden kann. Von der Befreiung des Mannes ist beim heutigen Karrierefeminismus nichts zu bemerken. Die Frau wähnt, frei zu werden, wenn sie dem unfreien Mann wie aus dem Gesicht geschnitten ist.

Ursprünglich verband de Beauvoir die Emanzipation der Frau mit dem Marxismus. Als dieser sich als Stalinismus entlarvte und von der Bühne verschwand, wo blieb das befreite Paar aus Mann und Weib?

Bei Bebel nicht anders. Die emanzipierte Frau konnte er sich erst im Reich der Freiheit vorstellen. Solange musste sie als Magd des Mannes durchhalten. Wenn das Reich der Freiheit sich als Fata Morgana erweist, war alles Hoffen und Sehnen ein Wahn.

Der moderne Feminismus will nichts als die Gleichheit elitärer Frauen in der Vorstandsetage. Die Mütter der Unterschichten kommen gar nicht vor. Man müsste von einem neoliberalen Feminismus reden, der alle sozialen Probleme ignoriert und nur dem „Arbeitsmarkt“ dient, wie Siems schreibt.

Die Französinnen warfen ihren deutschen Schwestern Mutterkult vor, die sich zum Heimchen am Herd degradieren ließen. Wie merkwürdig: ausgerechnet in Frankreich besinnen sich viele junge Mütter darauf, dass ihr Glück nicht in den Büros der Männer liegen muss. Sie vermissen ihre Kinder, selbst das verpönte Stillen kehrt zurück. Um ihrer selbst willen wollen sie dabei sein, wenn ihre Kinder in die Welt wachsen. (Geneviève Hesse im SPIEGEL)

Jede sinnvolle Erziehung ist Selbsterziehung. Indem ich mein Kind begleite, verstehe ich mein eigenes Kindsein. Ich sehe die Welt tiefendimensional, mit den Augen des Erwachsenen und mit denen des Kindes.

„Als Frau wird man nicht geboren, man wird es“: das Motto de Beauvoirs gilt nicht nur für Frauen, sondern für alle Menschen. Als Kind wird man nicht geboren, man wird dazu gemacht. Als Mann wird man nicht geboren, die Gesellschaft macht dich zum Mann.

Hatte Sartres Gefährtin nicht den Mutterinstinkt geleugnet? „Alle diese Beispiele dürften genügen, um zu zeigen, dass es keinen „Mutterinstinkt“ gibt. Auf die Gattung Mensch findet jedenfalls diese Bezeichnung keine Anwendung. Die Haltung der Mutter wird durch die gesamte Situation und durch die Art bestimmt, wie sie sie auf sich nimmt.“

Zuvor hatte die Autorin viele Beispiele missglückter Mutterliebe gebracht. Naiver und undurchdachter geht’s nicht. Natürlich gibt es Mutter-, ja Elterninstinkte. Natürlich werden diese von persönlichen Erfahrungen und von der Umwelt geprägt. Wenn Mutter als Kind eine lieblose Mutter hatte, wird sie Mühe haben, ihre eigene Mutterliebe zu entdecken. Als Mutter wird man nicht geboren, zur Mutter wird man gemacht. De Beauvoir hätte ihr Motto nur auf die eigene Mutterthese anwenden müssen.

Unberührte Instinkte gibt es in keiner Kultur, die alle Instinkte zu kulturellen Artefakten macht. Verändert die Kultur – und ihr bekommt veränderte Instinkte. Unmittelbare Naturgaben müssen erzogen werden, damit sie erzogen sind. Pure Instinkte gibt es nicht mal bei den Wilden. De Beauvoir, deren Erinnerung an die eigene Mutter nicht die beste war, hat jede clarté vermissen lassen, um die Mütter über sich selbst aufzuklären. Das Glück der Frauen liegt nicht automatisch im Muttersein, noch weniger im Gegenteil.

Bekanntlich bewunderte die Feministin ihren genialen Gefährten, den Philosophen Sartre und seine unermüdliche Schaffenskraft. Kann es sein, dass sie ihr ideales Frauenbild unbewusst nach dem Vorbild des Gefährten gestaltete? Je emanzipierter die Frau bei Beauvoir, je mehr ähnelte sie dem Vorbild aller Existentialisten.

Ein Existentialist verweigert sich der „Essenz“ der Wahrheit, er lebt dem je wechselnden Augenblick der Existenz. Auch hier das postmoderne Muster, das der dänische Theologe und Philosoph Kierkegaard dem nachhegelschen Europa vermachte. Ewige und zeitlose Wahrheiten gibt’s nicht. Der Mensch bewegt sich „existentiell“ von Augenblick zu Augenblick. Es ist die Geschichtstheorie des Christentums, die – im Gegensatz zur unveränderlichen griechischen Wahrheit – der Offenbarung Gottes in jedem Moment der linearen Geschichte Einlass gewähren muss.

Und nun geschieht das Erstaunliche. De Beauvoir sieht den Mann als Repräsentanten der existentiellen, veränderlich-linearen Zeit, die Frau jedoch ordnet sie dem griechisch zeitlosen Denken zu:

„Die Zeit bedeutet für die Frau keine neue Dimension … Weil sie der Wiederholung anheim fällt, sieht sie in der Zukunft nichts als einen Abklatsch der Vergangenheit. … Der Kreislauf jeder Schwangerschaft, jedes Blühens wiederholt sich genau wie die vorhergehenden. In dieser kreisenden Bewegung ist die einzige Aufgabe der Zeit ein langsamer Verschleiß. Sie weiß nicht nur nicht, was wirklich eine Handlung ist, die das Gesicht der Welt umzugestalten vermag, sondern ist auch inmitten der Welt verloren wie im Herzen eines unendlichen wirren Nebelflecks. Sie versteht es schlecht, sich die männliche Logik zunutze zu machen.“ Nur die Zeit ist ein „schöpferisches Sprudeln“.

Da die Frau der platonischen Zeitlosigkeit anhängt, kann sie nicht im elementaren Sinne kreativ sein wie der Mann, der sich in jedem Augenblick neu erfindet. De Beauvoir hat die postmoderne Philosophie Sartres als Urphänomen des Schöpferischen betrachtet. Da konnte die Frau, die sich immer nur wiederholt, weil sie im Zirkeldenken der Griechen stehen geblieben ist, nicht mehr mithalten.

Historisch war es genau umgekehrt. Gerade das zirkuläre Denken der Griechen war der natürliche Rhythmus der Mutter Gäa. De Beauvoir hat es geschafft, das Urmütterliche der Griechen zu degradieren und das männlich Lineare der Gottvaterreligion der Frau als Norm vorzuhalten. Im Namen des allmächtigen Christenschöpfers sprach de Beauvoir das Urteil über die Frau und siehe, sie fiel durchs maskuline Examen.

„Wenn man die Situationen der beiden Geschlechter miteinander vergleicht, wird es klar, dass die des Mannes unendlich vorzuziehen ist, d.h., dass er viel mehr konkrete Möglichkeiten hat, seine Freiheit in die Welt zu projizieren. Daraus folgt notwendigerweise, dass der Mann sich ganz wesentlich mehr in der Welt verwirklichen kann als die Frau.“

Beauvoir misst die Frau am unerreichbaren Modell des großen Denkers Sartre, der seinen Existentialismus, ohne es zu wissen, der linearen Geschichtstheorie des christlichen Credos nachgebildet hatte. Die Frau findet erst dann zu sich, wenn sie den Spuren des exemplarischen Mannes folgt.

Genau dies hatte Beauvoir selbst gemacht. Frauen der Welt, so lautete die Botschaft Beauvoirs an ihre unterdrückten Schwestern: folget uns beiden nach. Wie ich Mensch wurde, indem ich mich an Jean-Paul orientierte, so müsst ihr euch an mir orientieren, damit ihr gleichberechtigte Wesen werdet. Die befreite Frau ist identisch mit dem existentialistischen Denker.

„Der Mann hat zur Aufgabe, in der gegebenen Welt dem Reich der Freiheit zum Sieg zu verhelfen. Damit dieser höchste Sieg errungen wird, ist es notwendig, dass Mann und Frau … rückhaltlos geschwisterlich zueinander finden.“

Geschwisterlich? Aber nur, wenn die Schwester den Bruder zum unbedingten Vorbild nimmt. Beauvoir definierte die Emanzipation der Frau als Entwicklung zum vorbildlichen Mann. Die vorbildliche Frau ist die Imitation des vorbildlichsten Mannes. Die Frau muss ins Reich des Mannes, um wahrhafte Frau zu werden.

Der heutige Feminismus ist antiphilosophisch. Dennoch bewegt er sich auf den Spuren der Vermännlichung der Frau. Die emanzipierte Frau, so die heutige Botschaft der Frauenrechtlerinnen, ist identisch mit dem erfolgreichen kapitalistischen Mann.

Die babylonische Gefangenschaft der Frau ist noch nicht beendet. Die Akte Simone de Beauvoir darf nicht geschlossen werden.