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Deutsch-jüdisches Streitgespräch

Hello, Freunde der Menschheit,

„es war einfach passiert“, schreibt Kabarettist Dieter Hildebrandt über den 9. November 1938 in der SZ, als es im Reich zu „spontanen“ judenfeindlichen Aktionen gekommen war, wie Goebbels die Pogromnacht erklären ließ. Der Pogrom – so das Propagandaministerium – müsse als Protest des Volkes gegen die Juden verstanden werden.

Der elfjährige Dieter Hildebrandt war verstört und „rätselte, was vor sich ging“. „Ich habe diesen Tag nie verstanden – im Grunde genommen verstehe ich ihn bis heute nicht.“ ( Protokoll: Oliver Das Gupta / http://www.sueddeutsche.de/politik/dieter-hildebrandt-ueber-die-pogromnacht-es-war-einfach-passiert-1.1812855″ href=“http://www.sueddeutsche.de/politik/dieter-hildebrandt-ueber-die-pogromnacht-es-war-einfach-passiert-1.1812855″>Dieter Hildebrandt in der SZ)

Ein Kind darf rätseln und nicht verstehen. Wenn Erwachsene nicht verstehen, ist ein Ende des Judenhasses nicht abzusehen. Erinnern, Verstehen und Durcharbeiten schützt uns vor der Wiederholung des Unmenschlichen. Wer der Meinung ist, auch Verstehen helfe nicht, gibt dem Unheil freien Lauf. Sei es hilflos und unwillentlich, sei es latent oder in unverhülltem Antisemitismus.

Der menschenfreundliche Kabarettist ist gewiss kein Feind der Juden oder anderer Menschengruppen. Aber er hat auch keine Gegenmittel gegen das Gift und kann den Anfängen nicht wehren. Käme Pogromstimmung auf, könnte er mit gutem Willen dagegen protestieren, doch Verhindern durch Verstehen wäre ihm nicht möglich.

Hier könnte man versteckte Reste von Antisemitismus wittern, denn was man nicht verhindert, will man

unbewusst vielleicht selbst – ohne bewusst schuldig zu werden.

Es klingt sympathisch, wenn ein Mensch sein Nichtwissen einräumt. Wer nicht von Demut sprechen will, könnte Poppers Lieblingsbegriff Bescheidenheit verwenden. Bescheiden sein heißt, seine Grenzen anerkennen und nicht so tun, als ob man mit links alles könne oder mehr wisse, als Menschen wissen können.

Poppers Vorbild Sokrates schien bescheiden, als er seinen Satz sagte: Ich weiß, dass ich nichts weiß. In theoretischer Hinsicht war sein Eingeständnis des Nichtwissens tatsächlich ein Zeichen der Bescheidenheit. In moralischer Hinsicht war er sich hingegen seiner Sache so sicher, dass er es gegen die ganze Stadt Athen aufnahm.

Für diese Sicherheit würde er von der heutigen Presse selbstgerecht und dogmatisch gescholten werden. Einige würden sogar von totalitärem Moralismus reden.

Das moderne Gegenmittel gegen sokratische Selbst-Gerechtigkeit ist Relativismus. Woher soll ich wissen, welche Moral die richtige ist? Woher weiß der Nichtwissende, dass Menschenrechte die wahre Moral sind?

Die höchste Kritik an moralischem Fehlverhalten lautet heute: schade. Oder die Steigerung: eigentlich schade. Schade, dass Hoeneß ein wenig gegen Gesetze verstoßen hat. (Kaiser Franz: wer einmal in seinem Leben einen Fehler gemacht hat, sollte nicht gleich bestraft werden.) Eigentlich schade, dass die EU immer mehr Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lässt. Eigentlich schade, dass es in Russland und China keine Menschenrechte gibt. Schade, dass Friedrich und Pofalla nicht zurücktreten. Zuerst verharmlosen sie die NSA-Affäre, dann wollen sie von den USA eine Entschuldigung, dass sie die Kanzlerin abgehört haben.

Der Relativist hält sich für moralischer als der Moralist, weil er gegen jede Moral skeptisch ist. Er merkt nicht, dass er durch seinen Wankelmut diejenigen Kräfte unterstützt, die er hätte verhindern können, wenn er eine klare moralische Haltung gehabt hätte.

Wankelmut und Feigheit vor dem Kapitalismus unterstützen den Kapitalismus, weil sie ihm nichts Klares entgegen zu setzen haben. Jede relative Haltung stabilisiert die herrschenden Kräfte, die sie ungehindert schalten und walten lassen muss.

Relativismus vor der Judenfrage ist potentielles Unterstützen judenfeindlicher Bewegungen. Wer sein Kind gegen drohende Kinderlähmung durch ärztliche Betreuung nicht zu schützen weiß – wie manche Sektierer, die mit ihren Kindern nicht zum Arzt zu gehen – setzt sie den Gefahren dieser Krankheit aus. Ist Nichtverstehen des Antisemitismus heute noch erlaubt? Besonders im Lande des Holocaust?

Jeder kann leichtsinnig behaupten, dass er verstanden hat. Verständnis kann man auch heucheln. Woran erkenne ich, dass ich wirklich etwas von einer Sache verstehe oder Verstehen nur mime?

Wenn jemand behauptet, er verstehe etwas von TV-Apparaten, kann er es dadurch beweisen, dass er einen Apparat reparieren kann. Kann man Antisemitismus durch Verstehen reparieren?

Könnte man dies nicht, wäre Antisemitismus eine irreparable Krankheit. Theologisch gesprochen eine Sünde oder das Zeichen des irreparablen Bösen. Es gibt Stimmen, die Antisemitismus für die Erbsünde halten. Antisemitismus, so meinen sie, habe es immer gegeben und werde es immer geben, selbst da, wo es keine Juden gibt.

Menschen, die an eine solch unauslöschliche Schuld nicht glauben, halten sie für Heuchler, blauäugige Narren oder gutmütige Trottel. So weit, so schlecht.

Die deutsche Öffentlichkeit scheint an das standardisierte Maß von 20%igem Antisemitismus als unveränderbare Charaktereigenschaft der Deutschen zu glauben. Den Beweis für diesen Fatalismus kann man darin sehen, dass es in den Medien nicht den Anhauch eines deutsch-jüdischen Gesprächs gibt, in dem über potentielle Ursachen des uralten Giftes nachgedacht würde. Einen leidenschaftlichen Streit über die Quellen der antisemitischen Krankheit suchst du in Deutschland vergebens.

Der Grund liegt in der Feigheit der Deutschen, die sich Philosemiten nennen, um ihrer Feigheit ein artiges Mäntelchen überzuwerfen. Deutsche Profi-Philosemiten wie die meisten Vertreter der Medien überlassen das Kommentieren und Erklären antisemitischer Vorfälle – immer um die Zeit der Gedenktage herum – regelmäßig den Sprechern der Opfer.

Jüdisches und Antijüdisches muss von Juden besprochen und erläutert werden. Deutsche Judenfreunde machen sich an solch unappetitlichen Angelegenheiten ihre Hände nicht schmutzig. Allzu leicht spricht man ein verräterisch Wörtchen – und schon steht man am Pranger. Da kann man nicht vorsichtig genug sein.

Sind Juden nicht die besten Experten in eigener Sache? Selbst, wenn dem so wäre: haben Juden die Holocaust-Verbrechen begangen – oder die Deutschen, die ergo den Nachweise zu erbringen hätten, dass sie ihre Vergangenheit ausgeräumt haben? Haben Deutsche automatisch verstanden, wenn ihre Opfer ihnen ihre Frevel vorhalten? Oder werden sie dadurch erst recht verstockt?

Opfer sind nicht automatisch die besten Experten im Erklären der Täter. Sonst müsste man die Opfer eines Raubs als Gutachter vor Gericht laden, um die Räuber zu durchleuchten und angemessen zu bestrafen. Opfer sind nicht per se Experten im Erklären von Menschenrechts- und Völkerverbrechen. Krebskranke haben keine Ahnung von der Entstehung und Behandlung ihrer grässlichen Krankheit. Warum sollten Juden die einzigen und besten Fachleute in Antisemitismus sein?

In Wirklichkeit glaubt das auch niemand, solange die Mächtigen des Landes sich bedeckt halten und ihre verächtliche Ignoranz mit dem ewig gleichen Singsang überspielen können, an den sie selbst nicht glauben.

Die Bösen sind immer die anderen, der rechte Rand der Gesellschaft, die Stiernacken von Unten. Obgleich öfter zu hören ist, die Pest sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen, hört man nichts aus der Mitte der politisch Korrekten. Wo befinden sich alle Parteien der Republik? In der Mitte der Gesellschaft. Bekanntlich sind Eliten besser trainiert, ihr Mundwerk zu beherrschen und das Opportune zu äußern als die Ungeschlachten von Unten, die kein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegen.

Im Vergleich mit westlichen Demokratien, die sie für moralische Heuchlerbanden hielten, empfanden sich die Nationalsozialisten als Vorbilder an Aufrichtigkeit. Alle Welt würde die Juden hassen, doch aus Rücksicht auf die „jüdische Weltmacht“ könnte sie sich eine rückhaltlose Judenkritik nicht leisten. Nur die deutschen Ehrlichkeits-Weltmeister wären zu dieser weltrettenden Tat fähig.

Am alljährlichen Antisemitismus-Erinnerungsritual begnügen sich heutige Medien mit kommentarlosen Berichten, die Empathie signalisieren sollen, obgleich ihnen das Schlottern anzumerken ist, sie könnten eingeschliffene Sprachhülsen verletzen.

Der SPIEGEL-Artikel von Samuel Acker besteht nur aus Zitaten jüdischer Mitmenschen. Nichtjüdische Deutsche kommen nicht zu Wort, ihre Meinungen werden ignoriert. Man glaubt zu wissen, dass sie nur Halbseidenes, Peinliches oder Gefährliches zu sagen haben. So wird jeder Deutsche ein Verdächtiger.

Schon gar nicht bietet der Artikel Erklärungsversuche, warum der Antisemitismus nicht weichen will – obgleich immer mehr Juden nach Deutschland kommen, darunter viele junge Israelis, denen es hier nicht schlecht zu gehen scheint. Würden sie sonst freiwillig hierher kommen? Dass zwischen den beiden Tatsachen eine kognitive Dissonanz herrscht, scheint niemanden zu interessieren. 

Es ist ein Riesenunterschied, subjektive Befindlichkeiten der Menschen zu protokollieren oder objektive Diagnosen zu erstellen. Nicht jeder Hypochonder ist so krank, wie er sich fühlt. Gegen diese sozialwissenschaftliche oder journalistische Grundregel verstößt der SPIEGEL-Artikel von Barbara Hans vehement.

Zwar ist es unerlässlich, die subjektive Perspektive jüdischer MitbürgerInnen zu erkunden, eine objektive Studie über Antisemitismus kann eine solche Reportage gleichwohl nicht ersetzen. Zwar wird unterschieden zwischen absoluten Zahlen antisemitischer Übergriffe – um die es hier nicht ginge – und der persönlichen Einschätzung der Gefahren, dennoch erweckt der Artikel den Eindruck einer objektiven Erhebung des Antisemitismus in Deutschland und Europa.

Davon kann keine Rede sein. Zwei Dinge müssen unterschieden werden.

a) Wie Juden und Jüdinnen das Täterland Deutschland erleben, muss für jeden selbstkritischen Deutschen von Interesse sein.

b) Eine Korrelation zwischen Gefühlen und quantitativ nachweisbarem Antisemitismus kann sein, muss aber nicht sein. Automatisch liegt sie nicht vor.

„Jeder zweite Befragte fürchtete, verbal angegriffen zu werden. Ein Drittel der Befragten fürchtete gar, im Heimatland auch körperlich angegriffen zu werden. Von den befragten Großvätern und Großmüttern sagten rund 50 Prozent, sie fürchteten, ein Enkelkind werde angegriffen, sofern es jüdische Symbole öffentlich sichtbar tragen würde.“ 

Diese Unterscheidung kann nicht dazu dienen, Entwarnung zu geben oder mögliche Gefahren herunterzuspielen. Dennoch könnte sie dazu verhelfen, hysterische Übertreibungen oder einen übertriebenen Alarmismus zu dämpfen. Zur Einschätzung der Realität brauchen wir subjektive Äußerungen und möglichst präzise objektive Untersuchungen.

Es fällt auf, dass die geäußerten Ängste sich weniger auf reale Vorkommnisse beziehen als auf projektiv-befürchtete Ereignisse in der Zukunft. Seine eigenen Ängste wahrzunehmen, ist lebensnotwendig, dennoch sind Ängste sind nicht immer die besten Ratgeber. Schon gar nicht sind sie objektive Parameter ihrer vermuteten Ursachen.

Es gibt Angstneurosen, die unfähig sind, die Wirklichkeit realistisch einzuschätzen. Dennoch muss gefragt werden, wie solche Angstneurosen zustande kommen. Es könnten subjektive Gründe, es könnten gesellschaftliche sein. Es könnte eine Mischung aus beiden sein.

Nichtjüdische Deutsche müssen Wert darauf legen, dass sie von ihren jüdischen MitbürgerInnen Rückmeldungen erhalten, in welchem Maß sie gelernt haben, mit ihnen wie „normale Menschen“ umzugehen.

Gerade deshalb ist es wichtig, die Rückmeldungen realistisch einzuschätzen. Schließlich müssen sie wissen, ob ihre eigenen Verstehensbemühungen sinnvoll waren und die deutsch-jüdischen Beziehungen verbessert haben – oder ob sie gescheitert sind. Die Juden müssten Wert darauf legen, dass ihre Rückmeldungen den Nachfolgern der Täter ein belastbares Bild der momentanen Verhältnisse liefern.

Zwei Rückmeldungen beißen sich:

A) In Deutschland sei es für Juden noch nie so gefahrlos und angenehm zu leben gewesen wie heute.

B) In Deutschland werde es immer schlimmer. Der Antisemitismus wachse unaufhörlich.

Der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, lobt Deutschland fast immer in höchsten Tönen. Inländische Antisemitismus-Experten oder jüdische Funktionäre hingegen kokettieren mit ärgerlichen Widersprüchen: Zwar wird alles besser, doch jährlich wird’s schlimmer.

Um ihre Erinnerungsarbeit einzuschätzen, brauchen die Nachkommen der Täter Rückmeldungen, die ihnen gestatten, ihre Arbeit richtig einzuschätzen. Das ist heute nicht der Fall. Vor lauter konträren Rückmeldungen wissen die Deutschen nicht, wo ihnen der Kopf steht und ob sie was verändern müssen.

Immer mehr israelische Jugendliche strömen nach Berlin, weil sie in ihrer Heimat keine Zukunftschancen sehen – und dennoch soll es hier jährlich unangenehmer für sie werden? Das ist Double-Bind-Politik, die den Effekt haben könnte, dass bestimmte Ressentiments – die noch lange nicht spurlos verschwunden sind – bei den Deutschen wieder an die Oberfläche kommen und den Eifer zur Normalisierung der Beziehungen erlahmen lassen.

Ohnehin ist Antisemitismus zu einem expandierenden Ballonwort geworden, das sich immer mehr unterschiedliche Diagnosen einverleibt, was den Begriff unbrauchbar gemacht hat. Deutschjüdische Verteidiger des rechten Netanjahu-Regimes bewerten die kleinste Israelkritik als versteckten Antisemitismus. Jede Amerika-, jede Kapitalismus- und Modernekritik gilt als sekundärer oder tertiärer Antisemitismus, denn Amerika wird als eine mit Israel überidentische Supermacht angesehen.

Geradezu abwegig und gefährlich ist es, die Aussage, Israel sei mächtiger, als es einer kleinen Macht in Nahost zustünde, als aggressiven Antisemitismus einzustufen. Es gehört zur politischen Grundkompetenz jedes mitdenkenden Demokraten, die Machtverhältnisse in der Welt richtig einzuschätzen. Wenn Juden von ihrer gewaltigen Macht in Amerika reden –„Wir regieren Amerika“, sagte der Expremier Sharon –, dann soll es okay sein. Wenn Nichtjuden dasselbe tun, ist es ein Zeichen, dass noch immer antisemitische Klischees die Sicht der Deutschen prägt.

Ein Klischee ist eine Hypothese, die darauf wartet, falsifiziert oder verifiziert zu werden. Klischees sind nicht a priori falsch. Kein Jude wird das Klischee zurückweisen, Juden seien hochintelligente Menschen. (Allerdings haben sie sich zu Recht gegen Sarrazins falsches Lob gewehrt, der sie gegen andere Volksgruppen ausspielte, um die anderen zu diskriminieren.)

In einer Weltpolitik, die nicht ins Dunkel des Mittelalters zurückfallen will, müssen die rivalisierenden, feindlichen, befreundeten Machtblöcke die „Zahl ihrer Bataillone“ angeben, damit die Welt nicht zum Opfer ihrer Vermutungen und Spekulationen wird. Eine Macht, die ihren Einflussbereich nicht offen legt, erweckt den Verdacht, ihre Macht solle durch projektive Ignoranz noch höher eingeschätzt werden, als sie ohnehin schon ist.

Man kann nicht Klischees beklagen und gleichzeitig die Macht der Klischees durch Geheimhaltung und Denkverbot stabilisieren und erhöhen. Hat die NSA auch Israel ausgespäht? Oder kooperieren beide Länder, um den Rest der Welt auszuspähen? Kein einziges Wort zu diesem Thema im ganzen Blätterwald. Und dies in der „tabufreiesten Epoche“ der Weltgeschichte.

Nicht alles, was nach Antisemitismus aussieht, ist auch schon Antisemitismus. Kritik an der menschenfeindlichen Besatzungsmacht Israels ist Kritik an Menschenrechtsverletzungen. Alles andere sind Vermutungen, die die Kritik nicht einfach vom Tisch wischen können. Noch gilt der Satz: die Ursachen des Antisemitismus lauern dort, wo sie am wenigsten vermutet werden.

Wer neoliberal die Vergangenheit verleugnet, kann kein Freund der Vergangenheitsbewältigung sein. Wer immer nach vorne starrt, könnte mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Antisemit sein, dem es lästig geworden ist, die Last der Vergangenheit auf sich zu nehmen.

Es gibt inzwischen, wie in allen anderen Bereichen, so viele Formen des Antisemitismus, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen soll. Der moderne Antisemitismus soll mit dem traditionellen nichts mehr zu tun haben. Wie immer ist der Grund der Verleugnung: das Heilige soll geschont werden.

In Amerika ist Religion der unbestrittene Motor der Politik. Dennoch soll sie im Leben der Nation keine Rolle spielen. Man glaubt, die Weltbevölkerung für dumm verkaufen zu können. Herrscht Religion, dann herrscht auch religiös determinierter Antisemitismus, der sich im Verlauf der Neuzeit in verschiedene Pseudomorphosen – Verkleidungen – differenziert hat.

Die Mutter aller modernen Antisemitismen ist der neutestamentliche Hass der Christen auf die Mörder ihres Erlösers:

„… die Juden, welche auch den Herren getötet haben, Jesus und die Propheten, und uns verfolgt haben und Gott nicht zu gefallen suchen und gegen alle Menschen feindselig sind … Doch das Zorngericht ist endgültig über sie gekommen.“ (1.Tim. 2,14 ff)

Die Deutschen haben es in vorauseilendem Gehorsam exekutiert: das Zorngericht, das endgültig über die Juden gekommen ist.

Solange die Religionen tabuisiert werden, damit sie ihre Macht bewahren, solange werden die Gefahren des Antisemitismus nicht zu bändigen sein. Ein riesiger unterirdischer Pool von Antisemitismus lauert im amerikanischen Bible Belt, der nach außen judenfreundlich, im Innern voller Hass auf die Mörder ihres Heilands ist. Sagt Uri Avnery:

„Heute empfängt die zionistische extreme Rechte ungeheure Unterstützung von den amerikanischen, fundamentalistisch eingestellten Christen, die von der Mehrheit der amerikanischen Juden – nach einer in dieser Woche veröffentlichten Umfrage (Die amerikanischen Juden sind eher Bush-Gegner) – zu tiefst als antisemitisch betrachtet werden. Ihre Theologie geht davon aus, dass am Vorabend der Wiederkunft Christi alle Juden zum Christentum konvertieren müssen oder sie ausgerottet würden.“

Frau Knobloch fordert die nichtjüdische Jugend des Landes auf, Verantwortung für die Geschichte zu übernehmen. Eine sinnlose Floskel, denn niemand kann Verantwortung für die Vergangenheit übernehmen. Wir können aus der Vergangenheit nur lernen, um sie nicht noch einmal Gegenwart werden zu lassen.

Die deutschen Medien in ihrem demonstrativen Philosemitismus, der keine Stellung mehr bezieht, sind ebenfalls als antisemitische Sickergrube zu betrachten. Denn versteckte Feigheit vor dem Freund schlägt um in offenen Hass gegen den wiedergefundenen Feind.

Was ist zu tun? Das jüdisch-deutsche Streitgespräch muss zum kollektiven Ereignis werden. Beispielhaft sind Jonas Fegert und Alina Treiger in Berlin, die täglich den Dialog mit Deutschen und Juden suchen:

„Vor einem Jahr gründete Fegert die „Jüdische Studierendeninitiative Berlin“ mit. Man müsse neben großen Gedenkakten viel stärker den Dialog zwischen jungen Juden und Nichtjuden fördern, sagt er. Alina Treiger steht täglich im Dialog mit Juden und Nichtjuden. Die 34-Jährige ist die erste in Deutschland ordinierte Rabbinerin nach der Shoa.“

Es sieht nicht gut aus, was den Dialog zwischen Opfern und Tätern betrifft. Die Deutschen schlottern vor Angst, ihre unterdrückten Gefühle zu erforschen. Die Juden verwechseln ihre subjektiven Ängste mit objektiven Zuständen und reduzieren den Antisemitismus allzu plakativ auf Gewalttätigkeiten der Unterschichten. Die Medien verbergen ihre Ressentiments hinter Schweigen und Schmähen jener, die sich am Tabuisieren des Themas nicht beteiligen.

Der wirklich gefährliche Antisemitismus versteckt sich in Zeitgeistphilosophien, hinter Masken eines vorbildlichen Philosemitismus. Vor allem in heiligen Formeln der Religion, die man entweder verschweigt oder mit salbadernden Neudeutungen verfälscht.

Zu Recht sagt Frau Knobloch, „die Deutschen müssten den Juden dankbar sein, dass sie im Land geblieben oder hierher gezogen sind, um die Nachkommen der Täter bei den Völkern der Welt zu rehabilitieren“.

Sie fügt hinzu: „Aber die deutsche Gesellschaft kann auch stolz darauf sein, dass sich im Rahmen der von ihr gestalteten verantwortungsbewussten Politik seit 1949 wieder ein lebendiges Judentum in Deutschland entwickeln konnte.