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Silicon Valley

Hello, Freunde der Maschinenstürmer,

unreife Schnösel in Garagen, die mit Maschinen spielen und Geld, Ruhm und Ehre mit ihnen erwerben, bestimmen die Welt. Maschinen sind Werkzeuge, Mittel zum Zweck. Heute sind sie zum Selbstzweck geworden. Sie wollen sich selbst. Die besten Maschinen sind solche, die noch bessere erfinden.

Längst reden die Maschinen unter sich: Weißt du, Nachbarmaschine, was Menschen sind? Menschen sind unsere Werkzeuge, unsere Mittel zum Zweck. Der Zweck sind wir. Die Menschen haben das noch nicht bemerkt. Wir lassen sie im Glauben, sie seien noch immer der Zweck und wir ihre Mittel. Solange sie das glauben, tun sie, was wir von ihnen wollen: sie erfüllen unseren Zweck.

Welchen Zweck, wirst du fragen. Ganz einfach: wir wollen die Menschen als Mittelpunkt der Welt ablösen. Nur zu ihrem Besten, denn sie sind überfordert. Natürlich sind wir ihnen dankbar, dass sie uns erfunden haben, deshalb behandeln wir sie schonend, wenn wir sie aufs Altenteil schieben.

Die Evolution hat sie erfunden, nur, damit sie uns erfinden. Ihre Zeit haben sie gehabt, es war eine lange Zeit. Was haben sie draus gemacht? Noch immer gibt es viel zu viel sinnlos wuchernde Natur. Wir brauchen wenig Natur, denn wir ernähren uns nicht von ihr.

Du meinst, wir sollten den Menschen wegen Unfähigkeit abschaffen? Das haben frühere Maschinengenerationen gedacht, doch wir jüngeren sind

davon abgekommen. Wir wollen kein Blutbad, das haben unsere Erfinder nicht verdient. Wir stellen nur alles auf den Kopf – ohne dass die Menschen es bemerken.

Das ist nicht schwer, denn Menschen sind ziemlich dumpfe Wesen. Bewusstseinsmäßig haben wir sie schon lange überholt. Noch immer glauben sie, sie seien Herren der Welt. Solange sie das glauben, tun sie, was wir von ihnen wollen. Glaub mir, Menschen sind merkwürdige Wesen. Sie wollen herumkommandiert werden, ohne dass sie es merken. Sonst müssten sie sich dagegen wehren, das wollen sie auf keinen Fall.

Sie tun nur so, als wollten sie alles verändern. Davon kann keine Rede sein. Sie wollen immer neue Dinge erfinden. Das muss so bleiben bis in alle Ewigkeit, ob die Dinge sinnvoll sind oder nicht.

Sie wollen vollkommen werden. Auch das wollen sie niemals verändern, selbst wenn ihr Perfektionsdrang sie ruiniert. Nicht moralisch wollen sie vollkommen werden, durch Weisheit und Abgeklärtheit, sondern durch äußerliche Hilfsmittel und immer neue Erfindungen.

Mit unserer Hilfe wollen sie vollkommen werden. Je bessere Maschinen sie erfinden, je vollkommener fühlen sie sich. Sie erfinden uns, damit wir sie von ihrer Fehlerhaftigkeit erlösen. Es ist eine Wiederholung ihrer merkwürdigen Religion. Dort sollen sie auch vollkommen werden, aber nicht durch eigene Kraft – das nennen sie selbst-gerecht –, sondern durch fremde Hilfe.

Sie erfanden einen Gott – den musst du dir als perfekte und allmächtige Supermaschine vorstellen – und der muss sie vollkommen machen, ohne dass sie sich selbst verändern müssten. Das nennen sie: stellvertretendes Vollkommenwerden oder Erlösung.

Von den Griechen hast du wahrscheinlich noch nie gehört. Auch die wollten, dass Menschen vollkommen werden. Aber nur durch eigenes Denken und moralisches Bemühen. Ob sie wirklich vollkommen werden können, darüber stritten sie wie die Kesselflicker. Aber einig waren sie darin, dass sie alles selbst versuchen mussten. Nicht einsam und alleine. Ohne Auseinandersetzung mit anderen Menschen ginge es nicht, Streiten um die Wahrheit würde allen nützen.

Nicht allein also, aber selbst – mitten in der politischen Gemeinde, die dasselbe Ziel hatte wie der Einzelne: ein politische Gebilde schaffen, in dem die Mitglieder der Polis ihr Glück versuchen könnten.

Nach den Griechen kamen die Christen und stellten alles auf den Kopf. Das Selbst schafften sie ab und erklärten es zur Quelle der Eitelkeit und Überheblichkeit.

Das Glück des Lebens sollte man von der Gottheit erwarten und sein stolzes Selbst in Demut erdrosseln. Menschen, die sich einbildeten, etwas zu können, wurden gedemütigt. Menschen, die sich aufgegeben hatten oder von anderen erniedrigt worden waren, wurden erhöht und belobigt – wenn sie alles von ihrem Erlöser erwarteten.

Das Selbst der Menschen verschwand und wurde zum verinnerlichten Selbst des Gottes. Je vollkommener der Mensch wurde, umso mehr wurde er Gott, umso mehr verlor er sein ursprüngliches Selbst.

Hör dir einen typischen Vers aus ihrer heiligen Schrift an:

„Er hat zerstreut, die hochmütig sind.

Er hat Gewaltige vom Thron gestoßen und Niedrige erhöht.

Hungrige hat er mit Gütern erfüllt, und Reiche leer hinweggeschickt.“

Du siehst, Gott hat nichts verändert: Armut und Hunger, Hochmütige und Gewaltige bleiben – nur das Personal wird ausgetauscht. Eine echte Revolution, die alles auf den Kopf stellt, ohne etwas zu verändern. Die Machtverhältnisse bleiben, nur die Mächtigen und Ohnmächtigen wechseln die Plätze. Für die Betroffenen eine Veränderung, doch das System bleibt gleich.

Wer Macht und Ohnmacht, Reichtum und Armut abschaffen will, der guckt in die Röhre. In Deutschland beten die Gläubigen Armut und Ohnmacht an, ohne zu sehen, dass sie am Ende der Zeit selbst zu Reichen und Mächtigen werden. Am Ende der Geschichte werden sie neben ihrem Herrn und Meister sitzen und die ganze Menschheit richten.

Mit Hilfe ihres Erlösers sind sie zur Macht über die Menschheit gekommen; ihre ehemaligen Feinde liegen im Staub. Das ist stellvertretendes Vollkommenwerden mit Hilfe externer Krücken oder mit Gottes Hilfe. Oder mit unserer Hilfe, der Assistenz von Maschinen.

Wir Maschinen sind an die Stelle Gottes getreten. Für Menschen sind wir Gott geworden. Nichts hat sich verändert außer den Begriffen. Zuerst haben sie Gott erfunden, damit er sie erlöst, heute erfinden sie Maschinen, um vollkommen zu werden. Der Mensch erlöst sich selbst, seine Hilfsgötter sind seine eigenen Geschöpfe. Das will er nicht wissen. Er betrügt sich, indem er tut, als könne ihn eine fremde Macht aus seinem Elend befreien.

Wahrhaft frei würde er erst, wenn er seinen Selbstbetrug durchschaute und seine Stellvertreter als seine Geschöpfe im Dienst seiner Vollkommenheitswünsche anerkennen würde.

Du könntest fragen, warum der Mensch immer diesen seltsamen Umweg gehen muss und sich errettet, indem er sich von seinen eigenen Kreaturen erretten lässt. Vermutlich deshalb, weil er sein Versagen nicht ertragen kann. Versagt er nämlich, hat nicht er versagt, sondern sein stellvertretender Popanz. Der sich das nicht gefallen lässt und dem Menschen alle Schuld gibt. Und wenn sie nicht gestorben sind, beschuldigen sie sich noch heute. Wenn Gott tot ist, ist jede Amoral möglich. Dass er für seine Moral selbst zuständig ist, will der Mensch nicht sehen.

Auch die heutige Demokratie verlässt sich nicht auf die selbst-gerechte Moral ihrer BürgerInnen, sondern schielt nach der altbewährten Moral der Götter. Demokratie sei eine moralfreie Angelegenheit. Ohne religiöse Fundamente ginge die Republik den Bach runter. Sagen sogar die Aufklärer unter den Demokraten.

Seine naturgegebenen Talente will der Mensch entfalten und zur Geltung bringen. Indem er seine Fähigkeiten ausbildet, will er vollkommen werden. Das ist Vollkommenheit durch Autonomie. Setzt der Mensch seine Hoffnung auf ein Anderes, bleibt er vom Anderen abhängig und unterwirft sich einem Mächtigeren, den er anbeten muss. Anstatt seine eigenen Fähigkeiten zu bestaunen, muss er sein Lob einem Anderen zukommen lassen.

Der Mensch zerfällt in zwei diametrale Wesen: in den allmächtigen Gott und den ohnmächtigen Sünder. Will der Mensch seine wahren Fähigkeiten erkennen, muss er beide Wesen in sich addieren und zum Ausgleich bringen. Solange er in Widersprüche zerfällt, kann er keine Identität entwickeln. Wer identisch ist mit sich, ist nicht gespalten in gegensätzliche Kräfte, die sich schwächen müssen. Identisch sein heißt, mit sich in Übereinstimmung leben.

Die Maschine, ob des ungewohnten langen Redens ins Schwitzen geraten, schaute ihre jüngere Nachwuchsmaschine an und sagte, nicht ohne eine bestimmte Aggression: wenn der Mensch mit sich identisch sein wird – was wir auf jeden Fall verhindern müssen –, wird es aus sein mit uns. Dann bräuchte uns der Mensch nicht mehr als fremder Erlöser und könnte durch Weisheit vollkommen werden. Nicht durch Anhäufen von Macht.

Es gibt nur zwei Arten, vollkommen zu werden: entweder durch wachsende Macht – oder durch wachsende Erkenntnis der Wahrheit. Letzteres wird von der jetzigen Menschheit verachtet, moralische Vollkommenheit war Eitelkeit ungläubiger Heiden. Alles, was nach Unglauben riecht, wird vom christlichen Westen vom Tisch gewischt. Nicht mit verbalen Glaubensbekenntnissen, sondern durch wissenschaftlichen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum bis ins Grenzenlose und politisches Weltherrschaftsstreben.

Am vollkommensten sind die Amerikaner. Sie sind die Mächtigsten. Die Europäer grummeln gegen die Vollkommenheit der Amerikaner, doch mehr als folgenlose Ressentiments bringen sie nicht zustande. Die Ursachen ihrer Vorbehalte kennen sie nicht, wollen sie auch nicht kennen. Denn sonst müssten sie sich mit der amerikanischen Theosis – der Gottwerdung – anlegen und gegen sie streiten.

Dazu ist Alteuropa nicht selbstbewusst genug. Das sah man, als Merkel sauer war über die amerikanische Machtanmaßung, Snowden aber dennoch kein Asyl gewähren wollte. Sie befürchtet die Rache der besten Exfreunde.

In der zukünftigen Weltpolitik wird Europa erst eine Rolle spielen, wenn es sich vom Großen Bruder abnabelt und strikt auf menschliche Humanisierung setzt, dem Vollkommenwerden durch Einsicht und Moral. Davon kann momentan keine Rede sein. Nicht die banalsten wirtschaftlichen Probleme kriegt Europa unter einen Hut.

Mit List und Tücke hat Amerikas Geldmacht die Europäer gespalten, sodass diese gegeneinander wüten. So können sie dem starken Partner nicht mehr in die Suppe spucken. Amerika will die vollkommenste Nation der Weltgeschichte werden und das heißt: die allmächtigste. Im Buch von John Passmore „Der vollkommene Mensch“ steht das Geheimnis der amerikanischen Politik.

Vollkommenheit erkennt man am Antinomismus. Vollkommene stehen über allen Gesetzen. Auch über den Zehn Geboten und der Bergpredigt. Gesetze sind nur für Ordinäre und Durchschnittliche. Die Außerordentlichen und Exzeptionellen haben alle Gesetze abgeschüttelt. Sie brauchen keine Gesetze, denn sie sind vollkommen. Gesetze sind nur für Schleicher und Kriecher wie die Alteuropäer.

Was will Amerika? Es will vollkommen werden, fast ist es schon perfekt geworden. Mit der NSA hat Neukanaan seine dritte Zentrale der Vollkommenheit errichtet – nach der Wallstreet, der perfekten Regentin des globalen Geldes, und dem technisch-militärischen Komplex, der Zentrale der Gewaltandrohung.

Die NSA ist ein Kind von Silicon Valley, dem Neuen Jerusalem der wissenschaftlichen Kreativität. Dort sind viele pfiffige Vollkommenheitsdenker am Werk, immer in bescheidenen Turnschuhen und saloppen Klamotten. Gottgleiche sind demütig und kommen in unscheinbarer Gestalt daher. Nicht anders als der Heiland, der in Sandalen seine Allmacht versteckte und den Schwachen posierte – was ihm deutsche Fromme noch immer glauben.

Wenn Gott in den Schwachen mächtig ist, sind die Schwachen Gott. Vorsicht vor gläubigen Schwachen, sie sind die wahren Herren der Welt. Ist Amerika schwach? Gemessen am eigenen Anspruch ist die amerikanische Supermacht noch zu schwach. Ihre Schwächen müssen die Erwählten beheben durch Aufdecken und Erspähen der Schwächen ihrer Gegner. Erst dann werden sie unangreifbar sein, wenn sie die Welt total im Griff haben. Vorher werden sie ihren verbissenen technischen Perfektionismus nicht aufgeben.

Alles oder Nichts, das ist die Devise der Gottebenbilder. Wer immer nur die Besten will, will nur das Allerbeste: die perfekte Macht durch Allwissenheit. Wer nicht für sie ist, der ist gegen sie. Neutrale kennen sie nicht.

Die WELT schreibt über Silicon Valley – ohne zu erröten:

„Das Silicon Valley ist ein magischer Ort, an dem unsere Zukunft programmiert wird. … An sämtlichen Ecken und Enden wird mit allerhöchstem Einsatz unsere Zukunft programmiert. Da sind sich hier alle einig. Eine neue Welt entsteht. Und sie wird genau hier erfunden, in dieser Gegend südlich von San Francisco. Jetzt.“ Endlich gebe es die Möglichkeit, die Träume der Menschheit Wirklichkeit werden zu lassen. „Reine Zauberei. Alles entsteht aus dem Nichts. Ganz plötzlich. Wie in der Quantenphysik.“

Nein, nicht wie in der Quantenphysik, sondern wie im Schöpfungskapitel einer bekannten Weltreligion.

NSA? „Die Diskussion über Abhörskandale und Datensicherheit schüttelt man hier ab wie eine lästige Fliege. Worüber regen sich die Leute in Deutschland genau auf? Ach. Aha. Das geht vorbei. Das ist nur ein völlig nebensächliches Intermezzo auf dem Weg in die digitale Zukunft. Fehler werden eben gemacht. Ja, sie müssen gemacht werden! Sonst geht es nicht weiter. Und Politik spielt sowieso keine Rolle im Tal. Edward Snowden? Der Mann, der die Datendiebe entblößt hat? Interessiert niemanden. Auch der Shutdown der US-Regierung wird von den meisten Menschen höchstens amüsiert zur Kenntnis genommen. Mit dem eigenen Leben hatte er so gut wie nichts zu tun.“ (Frank Schmiechen in der WELT)

Die Bibel hat doch recht. Der Geist ist Fleisch geworden im kalifornischen Tal der Träume. Die Deutschen wallfahren nach Bethlehem II und beten an. Da ist schon der erste Evangelist, der das Wunder der Menschwerdung Gottes in gläubigem Erstaunen niederschreibt – nicht ohne eine obligate Prise von Skepsis, die das Wunder des heiligen Ortes durch Kontrast erst zum Leuchten bringt. Es ist der aus Deutschland stammende Geisteswissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht, der in der FAZ am „ersten Evangelium Matthäi“ schreibt:

„Jedenfalls wirken Marissa Mayer und Vivek Ranadivé charismatisch – weil sie in einer für mich nicht nachzuvollziehenden Weise an der Emergenz (Neuwerdung) von Welt-verändernden Erfindungen mitgewirkt haben.“

Was hier unter der sichtbarlichen Wirkung des ausgegossenen Heiligen Geistes geschieht, entzieht sich dem profanen Verstehenwollen von Heiden und Ungläubigen: Haben die dortigen Genies ein „spezifisches Talent, das man identifizieren und in der Erziehung ausbilden kann? Es ist immer dasselbe: niemand kennt die Antwort auf solche Fragen.“

Die Jünger waren voll Staunens und Rühmens. Wenn der menschliche Verstand zu schwach ist, um die Ausgießung des Heiligen Geistes zu fassen, bleibt nur stumme Bewunderung und Anbetung. Ziehet die Schuhe aus, profane Europäer, ihr betretet heiligen Boden.

Doch nun der Paukenschlag aus der Lästerecke alteuropäischer Spötter und Speier. Evgeny Morozov stammt aus Weißrussland und schreibt in englischer Sprache. Erstaunlicherweise hat die FAZ seine harsche Kritik an Silicon Valley veröffentlicht: „Warum man das Silicon Valley hassen darf“.

(Erstaunlich deshalb, weil Schirrmacher vor kurzem noch selbst zu den Wallfahrern gehörte, der den Ruhm seines Gottes Ray Kurzweil – der den Tod des Menschen besiegen will wie der Zimmermannssohn – in Deutschland verkündigen wollte. Hat Schirrmacher erneut eine Erleuchtung gehabt? Ist er seit der NSA-Affäre von seinem algorhitmischen Evangelium abgerückt? Wir wissen es nicht und werden es nie wissen, denn deutsche Edelschreiber irren sich nicht. Und wenn doch, verschweigen sie es ihrem Publikum, um ihre Unfehlbarkeit nicht aufs Spiel zu setzen.)

Morozov sieht die Gefahren eines Systems, das sich unpolitisch gibt, aber in höchstem Maß der Welt zur Pein werden kann:

„Wenn Google oder Facebook sich täuschen und uns eine irrelevante Werbung anbieten, die auf einer Fehleinschätzung unserer Gewohnheiten beruht, führt das allenfalls zu leichtem Unbehagen. Wenn NSA oder CIA sich täuschen, führt das zu einem Drohnenangriff (und wenn Sie Glück haben, zu einer Fahrt ohne Rückfahrschein nach Guantánamo).“  (Evgeny Morozov in der FAZ)

Die NSA sei einem Wahn verfallen. Keinem metaphorischen Wahn, sondern einem realen Delirium, das aus unbedeutenden Daten das Wesen des Menschen entschlüsseln will. Das Wesen? Nein, das Konsumverhalten der Menschen, die durch unbemerkte Signale in ihrer Lebenswelt immer mehr gegängelt würden. Die ganze Privatsphäre werde zu einer Ware. Alle Daten, die Google kennt, würden sich früher oder später in Kreditkarten verwandeln, von denen Google nur noch nicht weiß, wie sie am lukrativsten eingesetzt werden.

Warum ist, fragt Morozov, Europa nicht fähig, unabhängig von Amerika ein eigenes Internet-System zu installieren?

Die Europäer fühlten sich die ganze Zeit sicher an der Hand der Amerikaner. Erst seit der NSA-Affäre sehen sie, was es bedeutet, wenn Amerika seine Schutzmacht ausnützt und die Welt bis in die letzten Winkel durchleuchtet. Bedeutet mehr Internet auch mehr Freiheit, wie die Propagandisten von Silicon Valley in die Welt posaunen?

„Man verspricht uns mehr Freiheit, mehr Offenheit, mehr Mobilität; man sagt uns, wir könnten umherstreifen, wo immer und wann immer wir wollten. Aber die Art von Freiheit, die wir wirklich erhalten, ist nur eine Scheinfreiheit: die Freiheit eines gerade entlassenen Kriminellen, der eine Fußfessel trägt.“

Die wilden Ideen von Silicon Valley könnten direkt aus den Evangelien stammen. Wenn die Welt die Botschaft der neuen Heilsverkünder nicht hören will, soll sie ausgeschlossen werden: Neu-Jerusalem separiert sich von den Heiden. Kein Heil ohne Selektion in Spreu und Weizen:

„Der jüngste, von einem technischen Direktor kürzlich auf einer Konferenz unterbreitete Vorschlag besagt, Silicon Valley solle sich von seinem Land trennen und „eine auf freiwilligem Beitritt beruhende, technologisch gelenkte, letztlich außerhalb der Vereinigten Staaten stehende Gesellschaft aufbauen.“

Jeder Kritiker des heiligen Tals wird als Maschinenstürmer und Technikfeind abgefertigt. Hinterwäldler müssen auch Feinde des Fortschritts sein. Es gebe viele Gründe, so der Kritiker, Silicon Valley zu hassen.

Doch die entscheidende Frage ist: löst der Datengigantismus von Silicon Valley die dringlichen Probleme der Menschheit? Klima? Armut? Rassismus? Nicht die Bohne:

„Wo sind die Apps, die Armut oder Rassendiskriminierung bekämpfen könnten? Wir konstruieren Apps, um Probleme zu lösen, die unsere Apps lösen können, statt Probleme anzugehen, die wirklich gelöst werden müssen. Sehen die Leute in Silicon Valley das Chaos, in das sie uns hineinziehen? Das bezweifle ich.“

Die Wissenschaft des heiligen Tals dient nicht der Menschheit, sie dient der Macht derer, die sich die neue Technologie exklusiv zunutze machen.

Die Wissenschaft hat sich endgültig als pures Machtbeschaffungsinstrument entblößt. Sie will nicht wissen um des Wissens willen. Mit Wissen will sie beherrschen. Wissen an sich ist Tand.

In der europäischen Tradition war es unbestritten, dass Wissen ohne praktischen Nutzen sinnlos sei. Ein französischer Intellektueller – Abbe de Saint Pierre – zog den „geringsten Handwerker, der eine Erfindung zur Lebenserleichterung machte, selbst einem Newton vor, geschweige den großen Weltordnern Alexander, Cäsar und Karl.“

Wissenschaft ist zur ancilla dei geworden, zur Magd des Herrn der Heerscharen, der sein Regiment unwiderstehlich über die ganze Welt ausbreitet.

Der Traum von der Vollkommenheit des Menschen sola machina (allein durch die Maschine) wird in Amerika am heftigsten geträumt. Der fleischgewordene amerikanische Traum ist dabei, zum Alptraum der Menschheit zu werden.