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Selbstentlarvung

Hello, Freunde der Selbstentlarvung,

erleben wir gegenwärtig eine grundsätzliche Kurswende? Leben wir in einer Zeit des Umbruchs? Nein, wir leben in einer Zeit der Selbstentlarvung.

Was bislang unter der Decke der Normalität verborgen war, drängt ans Licht. Das Verdrängte wird bewusst, das Unterdrückte wird offenbar, die unansehnlichen, unangenehmen, nicht vorzeigbaren Schattenseiten unseres Lebens zeigen sich öffentlich, lassen sich nicht länger verleugnen.

Was unserem Selbstbild nicht entspricht, pflegen wir nicht wahrzunehmen, wir ignorieren es, wir nehmen es nicht zur Kenntnis, ja, wir verleugnen es und unternehmen alles, um es ungeschehen zu machen.

„Das hast du getan! sagt mein Gedächtnis. Das kannst du nicht getan haben! sagt mein Stolz. Endlich gibt das Gedächtnis nach.“ (Nietzsche)

Das ist der Vorgang der Verdrängung. Das Gedächtnis wird vom Stolz überwunden. Die moralische Norm siegt über die moralische Wirklichkeit, das erwünschte Selbstbild über die ernüchternde Realität des Selbst. Das Gewissen schlägt die Selbstbeobachtung.

Je mehr das Wunschbild des Selbst sich von der Wirklichkeit entfernt, je psychisch kränker wird der Mensch. Der Verleugnungsvirtuose kann seine Neurose bis zur Psychose steigern, ein Zustand, der für ihn und seine Umgebung

gefährlich werden kann.

Wer seine eigene Unmoral nicht erkennt und sich als hochmoralischen Bürger sieht, wird Dr. Jekyll und Mr. Hyde: tagsüber ein tadelloser Bourgeois, des Nachts ein Serienkiller.

Will ein Mensch erkennen, wer er wirklich ist, muss er seine Verdrängungen und Verleugnungen wahrnehmen und die abgespaltenen Seiten seines Selbst seiner Gesamtpersönlichkeit integrieren. Er muss lernen, dass er sich belog, dass er so gut und vorbildlich nicht ist, wie er sein wollte.

Seine Gesundung beginnt mit einem Akt illusionsloser Selbstwahrnehmung. Alle Seiten seines Selbst, die dem Bewusstsein entzogen waren, müssen ins Licht der Wahrnehmung. Ich nehme wahr, wenn ich die Wahrheit erkenne.

Zur ungefälschten Wahrnehmung seines Selbst gehört eine bestimmte Ich-Stärke. Ich-schwache Menschen sind unfähig, sich ungeschminkt im Spiegel zu betrachten. Sie haben Angst vor der Mischung aus Elend und Bosheit, das sie als Konterfei erblicken. Es bedarf einer nachgereiften Ich-Stärke, die die garstigen und bösartigen Anteile ihrer Persönlichkeit als Abbild ihres demaskierten Ich akzeptieren kann.

Seine Schattenseite muss man in gewisser Hinsicht sich selbst und anderen zumuten, um herauszufinden, wie man sie durch Bewusstsein entschärfen kann, um sich mit sich selbst zu versöhnen. Ohne Antithese – der Schattenseite einer These – war Hegels dialektische Methode undenkbar. Die Synthese konnte nur zur finalen Versöhnung werden, wenn nicht nur erwünschte Perspektiven bewusst gemacht werden konnten.

Diese Phase antithetischer Garstigkeit ist für alle Teilnehmer des Geschehens unangenehm, ja, es kann gefährlich werden. Entdeckt jemand seine Suizidwünsche und ist unfähig, diese Gedanken durch eine autonome Ich-Moral an die Kette zu legen, kann es zu brenzligen Situationen führen.

Hier, an dieser Stelle stehen wir in der jetzt beginnenden Phase eines Weltbürgerkriegs, der eine Epoche der Selbstentlarvung ist. Die hohen Über-Ich-Normen der Völkergemeinschaft, gestochen scharf in der UNO-Charta formuliert, haben die tatsächliche Ich-Reife – genauer die versteckte Ich-Unreife – der Völker überfordert.

Ein halbes Jahrhundert träumten die Völker aller Welt von Friede, Selbstbestimmung und materiellem Wohlstand auf der Welt. Die Schrecken der beiden Weltkriege trieb sie zu einer – in der bisherigen Geschichte einmaligen – globalen Verständigung. Auftretende Probleme sollten durch Debatten im Weltparlament, durch Kompromisse und Zugeständnisse ohne Kanonendonner gelöst werden.

Unter solch vorbildlichen Vorzeichen konnte sich selbst der Kalte Krieg nicht halten. Die totalitäre Sowjetunion warf freiwillig das Handtuch, einen kurzen Moment schien es, als ob die Welt – in Form der „pax americana“ – einer planetarischen Friedensepoche entgegen ginge.

Diese neu erwachte Ich-Stärke der Völkergemeinschaft war nun stark genug, ihre bislang unterdrückten, verharmlosten und verleugneten Schattenseiten aufzudecken und von der Leine zu lassen Die kriegerischen Aspekte der rivalisierenden Religionen, des menschenschindenden Kapitalismus, der fortschreitenden Zerstörung der Natur durch Technik und Wissenschaft, drängten an die Oberfläche und konnten nicht länger unter der Decke gehalten werden.

Was vorher nur als ideologischer Konflikt auftrat: jetzt zeigt sich die nicht mehr zu leugnende Miserabilität unserer ungerechten Wirtschaft, unserer nicht demokratischen Demokratien, unserer inhumanen Humanität. Selbst Milliardäre und Wirtschaftsnobelpreisträger, die bislang alle Kritik am Neoliberalismus als Neidkampagne verwarfen, sehen sich genötigt, die Schwächen der Wirtschaft anzuprangern.

In Amerika ist es ein Milliardär namens Hanauer, der die Wirtschaftspolitik des „trickle down“ – von jedem Wohlstandswachstum würden auch die Kleinen und Schwachen profitieren – „idiotisch und selbstzerstörerisch“ nennt.

Einer der wichtigsten Anhänger Hanauers ist Robert Reich, ehemaliger Arbeitsminister Bill Clintons. Nach Einschätzung Hanauers hätten nicht kritische Ökonomen wie Joseph Stiglitz, Paul Krugman oder Thomas Piketty die Stimmung im Lande gedreht, sondern die Occupy-Bewegung. Nach Umfragen seien inzwischen 70% der Bevölkerung für höheren Mindestlohn.

Ein anderes Beispiel ist Peter Buffet, der Sohn des steinreichen Warren Buffett. Buffett junior prangert einen „Mäzenatenkolonialismus“ an:

„Als Insider dieser Branche erlebe er den Drang von Geldgebern, Menschen aus einem anderen Kulturkreis mit einer Patentlösung zu beglücken. „Egal ob Anbaumethoden, ob Ausbildungssystem, ob Wirtschaftsförderung – wieder und wieder habe ich erlebt, wie diese Leute einfach Konzepte von einem Ort auf den anderen übertrugen, ohne Rücksicht auf Kultur, Geografie oder gesellschaftliche Normen.“ Die Hilfe werde den Menschen viel zu oft einfach „übergestülpt“.“ (Heike Buchter in ZEIT Online)

Peter Buffett lässt sich an seiner Kritik am Neoliberalismus durch das ablass-artige Almosengeben schwerreicher Stifter nicht irre machen:

„Weit schlimmer sei etwas anderes: Die Stiftungen der Industriellen und Finanziers mühten sich um Lösungen für Probleme, die sie und ihre Mitstreiter mit ihren kommerziellen Aktivitäten selbst angerichtet hätten. In gleichem Maße, wie die soziale Ungleichheit wachse, wachse auch die Wohltätigkeit. „Fast immer, wenn sich jemand besser fühlt, weil er etwas Gutes getan hat, wird auf der anderen Seite der Welt oder der Straße jemand tiefer in ein System gedrängt, das ihm keine Chance lässt“, sagt Buffett. Gutes zu tun mindere also an anderer Stelle den moralischen Druck, Schlechtes zu unterlassen.“

Bei Hegel heilt der Geist die Wunden, die er selber hervorbringt. Der Kapitalismus ist die Karikatur dieses auto-therapeutischen Systems: er begnügt sich mit der Pose der Selbstheilung – die in Wirklichkeit die Systemschäden immer weiter vergrößert und ausweitet. Die Superreichen begnügen sich mit weißer diakonischer Salbe, die sie in religiöser Selbstergriffenheit Agape nennen.

In Lindau treffen sich alljährlich die Nobelpreisträger für Wirtschaft (diese Nobelpreise sind keine „echten“ und werden nicht vom Nobelkomitee verliehen, sondern von Bankenkonsortien). Die immer mehr in den Himmel wachsende Ungleichheit des Kapitalismus ist nun endlich auch bei den wissenschaftlich hochdekorierten Apologeten des Kapitalismus angekommen. Der Laie kann es kaum glauben: „Die Ökonomie hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum für Verteilungsfragen interessiert.“ (DIE WELT)

Verteilungsfragen sind Gerechtigkeitsfragen. Doch Gerechtigkeit ist eine Frage der Moral und Moral ist in einer Wissenschaft, die sich als moralfreie Naturwissenschaft geriert, nicht gern gesehen.

Es gibt zwei Hauptquellen des herrschenden modernen Amoralismus: a) Machiavellis bedenkenlose Staatsraison und b) Newtons neue Sicht der Natur als Maschine.

Wer genauer hinsieht, wird schnell bemerken, dass Machiavellis Sicht des Staats und Newtons Sicht der Natur auf demselben Humus gewachsen sind: die Welt sollte nicht länger von einem persönlichen Gott mit geoffenbarten Willkürgesetzen abhängen, sondern eine unabhängige, objektive Qualität besitzen, die von einer vorurteilsfreien Vernunft erkannt werden kann und auf das Hören klerikaler Spezialoffenbarungen nicht angewiesen ist.

Staatsraison ist die Vernunft des Staates. Doch zumeist ist sie nichts anderes als machtgesteuerte Unvernunft.

Adam Smith, der noch immer als Begründer des modernen Kapitalismus gilt, obgleich er das billionäre Raubrittersystem von heute mit Abscheu betrachten würde, war Teil der schottischen Aufklärung, die das Universum als „eine riesige Maschine“ definierte. Einmal angeworfen und angekurbelt, würde sie sich von selbst regulieren. Von selbst heißt auf Griechisch automatisch.

Nicht Silicon Valley, sondern die europäische Aufklärung hat die Natur als Maschine entdeckt, sodass der Schritt zur Maschine als bessere Natur nur ein kleiner war.

Bei Platon war Natur ein beseelter Organismus, ein fühlender und empfindender Kosmos. Im Christentum wird Natur zum Revier des göttlichen Widersachers, die zur Empfindung nicht mehr fähig ist. Aus dem Kosmos wird eine gefühllose Maschine.

Zu dieser Maschine gehört auch der Leib des Menschen – und der Tiere. Während der Mensch ein Doppelwesen aus Leib und Geist ist, sind Tiere geistlose Leib-Maschinen, die keiner Empfindung fähig sind. Auch keiner Schmerzempfindung, weshalb man Tiere nach Belieben quälen darf. Sei es in der experimentellen Forschung, sei es in einer fabrikmäßigen Aufzucht, sei es beim bedenkenlosen Abschlachten unter Folterbedingungen.

Adam Smith: „Ein System ist eine imaginäre Maschine, die wir erfinden, um in Gedanken die verschiedenen Bewegungen und Wirkungen miteinander zu verbinden, die bereits in der Wirklichkeit vorhanden sind.“

Wenn Wirtschaft eine automatische Maschine ist, ist Moral überflüssig, ja schädlich, um sie zu regulieren. Man muss sie nur zum Laufen bringen – was vor ewigen Zeiten geschah – und sie läuft und läuft und läuft.

Zwischen Newton und Leibniz gab es einen Streit um die Ermüdbarkeit der Maschine. Für Leibniz war die Natur eine perfekt und ewig laufende Maschine, die Gott, der Maschinist, niemals nachregulieren oder neu einstellen musste. Bei Newton war Gott eine Art Uhrmacher, der das Uhrwerk regelmäßig aufziehen und nachjustieren musste. Für Leibniz war Newtons Gott eine lächerliche menschliche Imitation. Sein Gott war unfehlbar und benötigte keine Fehlerkorrektur oder Ermüdungstherapie.

Wenn nun Wirtschaft als Teil der Natur wie eine Maschine läuft, wozu wäre eine Moral notwendig? Jede moralische Tat wäre eine schädliche Intervention, die die wundersame Maschine ruinieren würde.

Wenn heute, in bester Tradition der Deutschen Bewegung, die Moral aus der gesamten Politik zugunsten von Interessen ausgeschlossen wird, reduziert man die Eingriffsmöglichkeiten des Menschen auf amoralische Interessen. Interessen aber sind nicht automatisch vernünftig. Allzu oft sind sie irrationale Bedürfnisse nach Macht und Einfluss.

Diese politische Maschine darf durch Moral nicht beschädigt werden. Interessen verfolgen ist wie wissenschaftliches Knöpfedrücken. Moralisches Tun hingegen ist maschinenabträglich.

Wenn man die Maschinenbasis des Smith‘schen Denkens berücksichtigt, versteht man vielleicht die seltsam schwankende Moral seines Wirtschaftssystems. Einmal soll der Egoismus das Gesamtwohl der Nationen befördern, ein ander Mal nur die Eigeninteressen der Einzelnen, die am Ende durch eine Unsichtbare Hand Gottes zum Wohle aller zusammengefügt werden muss.

Smith war so allergisch gegen den verlogenen Altruismus der Kleriker, die mit dieser Heuchelei zur reichsten Institution Europas geworden waren, dass er in trotziger Reaktionsbildung eher den Egoismus der Wirtschaft betonte, der für ihn zum eigentlichen Motor des Wohlstands wurde.

Die Sicht der Gesellschaft als Maschine hielt die Ökonomen bisher davon ab, ihre zwanghafte Mathematik mit Moral zu kontaminieren. Gerechtigkeit war für sie ein Relikt aus vorwissenschaftlicher Zeit. Welche Gerechtigkeit überdies? Jeder Mensch hätte seine eigene Gerechtigkeit, wer könne schon entscheiden, wer Recht hätte?

Die endlose Verkomplizierung aller politischen Probleme ist heute zur Paradedisziplin aller Wissenschaften geworden. Wissenschaftler benötigen seriös klingende Rechtfertigungen ihrer politischen Abstinenz – die keine echte ist: wer sich nicht einmischt, unterstützt nur die herrschenden Mächte, die das Geschehen einspruchslos bestimmen. Doch jetzt scheint ein Groschen gefallen zu sein.

„Die Ökonomie hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum für Verteilungsfragen interessiert. Doch nun ist klar geworden ist, dass Ungleichheit in die ökonomischen Modelle hineingehört, um das langfristige Wachstum einer Volkswirtschaft vorauszusagen. „Ungleichheit kostet die Welt Billionen an Wohlstand“.

Aber auch jetzt geht’s nicht um Moralfragen. Die mangelhafte Verteilung der Gewinne erschwere lediglich das weitere Wachstum der Wirtschaft. Es geht nicht um Gerechtigkeit, es geht um weiteres Wachstum der Wirtschaft.

„Ein zu hoher Grad an ungleich verteiltem Wohlstand dämpfe das Wachstum der Volkswirtschaften erheblich. «Wenn wir nichts gegen die Ungleichheit tun, verschärft sich das Problem weiter. Denn in der Regel wird Armut der nächsten Generation vererbt und damit bleiben Talente ungenutzt. Das können wir uns nicht nur aus moralischen Gründen nicht leisten»“, sagt der Harvard-Professor Eric Maskin der WELT.

Die übermäßig wachsende Kluft zwischen Reich und Arm ist auch das Thema des inzwischen als zweiter Marx gefeierten französischen Ökonomen Thomas Piketty. Doch dessen Forderung nach erhöhten Steuern bei den Reichen wird von den Nobelpreisträgern abgelehnt. Steuererhöhen und Wohlstandverteilung wären ein moralischer Akt – und sind strikt abzulehnen.

„Das Gros der Nobelpreisträger sieht die Politik in der Pflicht. Die Laureaten rufen aber nicht nach der klassischen Umverteilung, etwas den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben. Vielmehr solle die Politik eine Chancengleichheit herstellen. Die meisten Spitzen-Ökonomen fordern Investitionen in die Bildung. Damit greifen die Nobelpreisträger den Vorschlag des Franzosen Piketty frontal an, der sich für eine weltweite Steuer ausgesprochen hat. „Piketty mag spannende Daten zur Ungleichheit erhoben haben. Seine Theorie und Schlussfolgerungen sind für mich nicht nachvollziehbar“, sagt Maskin. Die meisten Spitzen-Ökonomen in Lindau rechnen nicht damit, dass Piketty so bald den Nobelpreis bekommen wird.“

Jetzt auf einmal soll der Staat eingreifen, der bislang als Gottseibeiuns einer schnurrenden Wohlstandsmaschine angesehen wurde. Fällt das Kind in den Dreck, wird plötzlich nach Gott oder dem Staat gerufen. Auch hier trifft das Gleichnis vom Verlorenen Sohn. Wenn die verlorenen Söhne der Moderne im eigenen Morast versinken, rufen sie nach der väterlichen Autorität, die ihnen zur Hilfe kommen soll.

Immerhin, es tut sich Gewaltiges in der Welt. Wäre man vor einem Jahr ins Koma gefallen und würde heute aufwachen, man würde sich verwundert die Augen reiben. Es gibt fast keine ernst zu nehmende Stimme mehr, die den Neoliberalismus, wie er leibt und verwest, mit innerer Überzeugung verteidigen würde.

Noch gehen die Therapievorschläge der Koryphäen weit auseinander. Es gibt keinen Grund, die defensiv gewordenen Experten ernst zu nehmen. Ihre Irrtümer bewegen sie nicht, ihre Basisaussagen grundsätzlich unter die Lupe zu nehmen. Zumeist begnügen sie sich mit halbherziger Alibikritik. Genau genommen stehen sie vor dem Gesamtbankrott, sind aber unfähig, das Maß ihres Scheiterns grundsätzlich zu reflektieren.

Die vielen Spannungen und Kriege der Gegenwart, die sich wie Flächenbrand um den Globus verbreiten, sind keine Wende, kein Bruch mit bisherigen Tatsachen und Denkweisen. Sie bringen nur ans Licht, was die ganze Zeit in einem faulen Frieden verdrängt und verdeckt worden war.

Wir kommen in eine Phase der Selbstentlarvung unserer kollektiven Selbstbelügungen und Verblendungen. Auf der einen Seite ist dies ein Fortschritt durch Gewinn an Bewusstsein und Klarheit, auf der anderen Seite eine unvermeidliche Barbarisierung vieler Völker, die sich unter Wut und Ängsten daran machen, die koloniale Ungerechtigkeit vieler Jahrzehnte und Jahrhunderte durch pure Gewalt zu korrigieren.

Die schrecklichen Folgen einer 500 Jahre dauernden christlichen Herrschaft über die Welt dringen den Völkern aus allen Poren. Die westlichen Urheber dieser Ungerechtigkeiten fühlen sich am wenigsten schuldig. Die Deutschen empfinden es als Tabubruch und Sündenfall, wenn sie sich als Teil der Weltkonflikte betrachten.

Madame de Stael hatte sie schon vor 200 Jahren als Gelehrte, Denker und Dichter beschrieben, die keinen wirklichen Kontakt mit der Realität gefunden hätten. Politik zu betreiben, war noch für den jungen Thomas Mann eine Zumutung, die ihm den Magen umdrehte. Selbst eine Politik der Menschlichkeit war für ihn eine Aufforderung zu undeutschem Verhalten. „Auch eine Politik der Menschlichkeit bleibt eben Politik und ist dem Menschlichen nicht eben zuträglich.“

Das schrieb Mann vor 100 Jahren. Noch heute gilt jede Politik im Namen der Moral als Sünde wider heilige machiavellistische Interessen. Die Deutsche Bewegung, sie schreitet munter voran.

Gottlob wiederholt sich Geschichte nicht – oder doch?