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Tagesmail

Schirrmacher und Augstein

Hello, Freunde von Aldi,

es kann auch Netto, Lidl, Kaisers oder Edeka sein. Was haben Lebensmittel-Riesen mit dem Niedergang der Grünen zu tun? Sie verkaufen Lebensmittel zu Preisen, bei denen Ökobauern nicht mithalten können.

Menschen mit kleinem Geldbeutel können die teuren Bioprodukte nicht kaufen, obgleich sie es gern täten, kommen sich minderwertig vor und – können vor Scham die Grünen nicht wählen. Aldi & Co haben die Grünen besiegt. Oder haben die Grünen sich selbst besiegt, weil sie zu viel auf persönliche Moral und zu wenig auf radikale Reformen setzen?

In ihrer genialen Frühzeit hatten die Grünen eine Witterung für das Wesentliche: Geht die Natur vor die Hunde, wenn wir so weiter machen und dem blinden Fortschritt Altäre bauen? Gibt es einen „sehenden“ Fortschritt, den wir verantworten können? Ist das „Projekt Moderne“ ein Rohrkrepierer oder führt es die Menschheit ins Utopische? Ist Utopie etwas Humanes oder fällt es unter die Rubrik „totalitär“, wie Hayek – und leider auch Popper – meinten?

Solche Grundsatzfragen stellen die Grünen heute nicht mehr. Früher waren sie gespalten in Realos und Fundis, heute werden sie zusehends eine FDP mit Müslibeilage. Die Gesellschaft, die sie verändern wollten, hat sie längst wieder eingefangen.

Wenn ein deutscher Philosoph wie Habermas (der nicht in der deutschen Bevölkerung, sondern in der scientific community der Welt ankommen will) dasselbe Problem aufgreift wie die struwwligen und bärtigen Grünen, dann spricht er von

der „unvollendeten Moderne“.

Erstens lässt er damit die Kirche im Dorf, zweitens die Moderne im Glaubensbekenntnis der Progressiven, drittens lässt er offen, ob er Moderne für vollendungsfähig hält oder nicht. Ist er nun Utopist oder nicht?

Solche ordinären Klarheiten lieben die Deutschen nicht, schon gar nicht ihre „transzendentalen Bedingungen-der-Möglichkeit-Denker“, die nicht wissen, ob sie eher Kantianer (geschichtslose Universalisten) oder Hegelianer sind (alles ändert sich ununterbrochen: war Hegel etwa Vorläufer der Postmoderne? Da sei der absolute Geist vor, der am Ende der Geschichte in Berlin niederkam und die ganze geschichtliche Unruhe für immer beendete, Hegel war auch Kantianer, nur mit deutschem Vorlauf, weshalb die Deutschen immer zu spät kamen, doch wenn, dann unter Gottes Gewittern).

Alle Leute, die klar reden, sind für deutsche Denker und Blättchen-Schreiber (Feuilleton = gefallene und vertrocknete Blätter oder verfaultes Herbstlaub) verdächtige Populisten. Weshalb Menschen, die dem Klub für klare Aussprache angehören wie F. J. Strauß, gar keine echten Deutschen sein können.

Vulgär ist es, einen Standpunkt zu vertreten. Noch vulgärer, mit konträren Standpunkten einen fröhlichen Streit auszufechten. Das sieht nach bayrischen Wirtschaftsschlägereien aus. Welcher Edelschreiber wird sich die Krawatte vom Hals reißen, um seinem Widersacher linguistisch, diskursethisch und metagrammatologisch die Fresse zu polieren?

Nein, deutsche Edelschreiber stehen über allen Parteien. In diesem Sinne sind sie alle Jünger Hegels, der über allen streitenden Parteiungen schwebte, aus Gottes Perspektive die irrenden Schäfchen ihre niedlichen Kämpfe ausfechten ließ, um sie dann im deutschen Stall final zu versöhnen.

Was ist Jakob Augstein für einer? Er behauptet: Im Zweifel links. Welche Zweifel? Zweifelt er an links und wenn, wie? Wird er nach rechts driften, wenn er seine jugendlichen Zweifel abgelegt hat, wie fast alle Deutschen, die in der Jugend stürmten und drängten und im gesetzten Alter am Ufer der Väter anlegen? Ist er nur Salonmarxist – hätte man früher gesagt –, der mit guten Werken sein schlechtes Gewissen ruhig stellt, dass er zu jenen gehört, die er angeblich bekämpft?

In seinem Nachruf auf Achill Jesus Schirrmacher gibt es eine interessante Passage. Nachdem die Finanzeliten schon mehrere Male den Globus ins Wanken gebracht hatten, merkte es endlich auch ein Frankfurter Frühwarndenker und schlug – überraschend für ein solides Besitzbürgerverteidigungsblatt – scheinlinke Töne an. „Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik.“

Hat sich der Autor dieser Zeilen zu einem Standpunkt bekannt? Das soll der Leser meinen, das soll er assoziieren. Es ist ein typisch hegelianischer „Wir-schauen-mal-von-oben-drauf-Satz“. Schirrmacher konstatiert, wie die Giftschlangen der Welt über einander herfallen und sich verschlingen. Er nimmt keine Stellung.

Als Jan Fleischhauer, Spezialist für antiutopisches Wohlgefühl am rechten Besitzbürgerrand – vermutlich verwirrt ob der vermeintlichen Kursänderung seines Alphatiers – ihn wie ein Lakai seinen Monarchen fragt: „Würden Sie es als Beleidigung empfinden, wenn man Sie heute als links bezeichnet?“ antwortet jener fast belustigt:

„Beleidigung? Darauf käme ich sowieso nicht. Ich finde auch nicht, dass ich mich verändert habe. Ich bin wie wir alle nur Zeuge eines Denkens, das zwangsläufig in die Privatisierung von Gewinnen und die Vergesellschaftung von Schulden führte.“

Erstens muss ein Monarch betonen, dass er ist „wie wir alle“, zweitens ist er nur hegelianischer Zeuge, der weiß, dass die Dinge sich von selbst entlarven, drittens lässt sich ein Monarch von vulgären Begriffen wie rechts und links nicht beleidigen und viertens hat er sich gar nicht verändert.

So ganz wie wir alle kann der Monarch nicht sein, denn viele hat die Finanzkrise in die Eingeweide getroffen, nicht unbedingt deutsche Besitzbürger, die noch am besten davongekommen sind. Ein Monarch im Reich der Gedanken muss sich nicht ändern, er muss nur abwarten, bis unter ihm die irdischen Elemente sich aneinander abarbeiten, um sich am Ende selbst zu entlarven.

Schirrmachers Haltung ist identisch mit der seiner bewunderten Kanzlerin: sie lässt die Elemente unter sich wursteln, bis sie Farbe bekennen. Merkels Wurstelpolitik wird von Augstein regelmäßig gezoppelt, bei seinem Über-Ich schaut er durch die Finger.

Augstein erzählt diese Episode, um Schirrmachers Wandlungsfähigkeit vom konservativen Ernst-Jünger-Verehrer zum linken Attac-Sympathisanten zu demonstrieren.

(Diese monarchischen Gaukelkünste waren anscheinend die spitzbübische Spezialität des Junggenies. Zu Jan Feddersen von der TAZ sagte er, am Ende würden ohnehin nur FAZ & TAZ überleben, weshalb sie beizeiten an prädeterminierte Kooperation denken sollten. Schirrmacher scheint von Bill Clinton gelernt zu haben, der jeden Menschen behandelt, als sei er das einzig interessante Individuum auf der Welt. Dabei hatte der Monarch schon ein einmaliges journalistisches Waterloo hinter sich gebracht: seine fast komplette Feuilletonmannschaft hatte die Flucht ergriffen und war bei der SZ untergekommen – deren Mannschaft seltsamerweise den umgekehrten Exodus in die FAZ machte. War Schirrmacher ein moderner Moses, vor dem sein Völkchen Reißaus genommen hatte?)

Kein Wort von Augstein zur Selbstaussage Schirrmachers, dass er sich gar nicht verändert habe, wo doch Augstein ihn als Meister der chamäleonartigen Verwandlung präsentieren wollte. Nein, Schirrmacher war, wie alle großen Deutschen, weder links noch rechts. Solche spitzgeklickerten Petitessen überlässt man dem niederen Volk oder machiavellistischen Parteistrategen. Links und rechts – das ist Ideologie und mediale Fürsten sind keine Ideologen mehr. Wo sie stehen, ist der Absolute Geist.

Nun ahnen wir, welche Bedeutung für Augstein sein väterliches Motto besitzen mag: im Zweifel links. Wer seine jugendlichen Zweifel bewältigt hat, könnte sein postpubertierendes Linkssein problemlos hinter sich lassen. Augsteins Verherrlichungsrede über seinen toten Kollegen ist sein Bewerbungsschreiben um die Nachfolge Schirrmachers auf dem Thron des deutschen Schreibergurus.

Gewöhnlich beschränkt der Kandidat seine Wortwahl und seine Themen auf engbrüstig Politisches wie Mama Merkel zum Soundsovielten. In seiner Schirrmacher-Rede wimmelt es nur so von unbekannten philosophischen und literarischen Kostbarkeiten wie Kafkas Gregor Samsa, Dritte Kultur, Heuristik und was sonst das Tafelsilber des Hauses Augstein zu besonderen Anlässen hergibt.

Es ist wie bei Neureichen, die am Anfang ihres Reichwerdens noch eine Weile die Bescheidenen mimen, bis sie eines Tages diesen Firlefanz ablegen und die Preziosen aus dem Tresor holen. Soll doch ja niemand meinen, man würde als Aufschneider in der falschen Liga spielen. (Augsteins Artikel ist leider nicht online erschienen. Siehe DER SPIEGEL 25/2014, S.114)

Dirk Knipphals von der TAZ ist der einzige im Chor der enthemmten Laudatoren, der Kritisches von sich gab.

(Leider streitet er nicht mit Augstein & Co. Jan Fleischhauer schreibt über „Inklusion“ das genaue Gegenteil von Prantl, doch niemand im deutschen Blätterwald wird seinen Antagonisten namentlich beharken. Methodisches Streiten gibt es nicht. Regelmäßig werden Bundestagsdebatten als Gezerre oder Hickhack niedergemacht, Debattieren ist nur Zanken, Giften oder Abwatschen. In SWR2-Debatten heißt es regelmäßig: Namen wollen wir an dieser Stelle nicht nennen. Das Öffentliche wird von der Vierten Gewalt als Privatbesitz betrachtet, der vor neugierigen Plebsaugen sorgsam abgeschirmt werden muss. Was ihre eigenen Kollegen betrifft, von den Machteliten gar nicht zu reden, ist die Vierte Gewalt sowas von dezent und feinfühlig geworden. Über dem stehenden Sumpf der Öffentlichkeit weht nicht das geringste frische Lüftchen. Man fächelt sich abgestandene Odeurchen zu oder: gestritten wird nicht in der abendländisch-christlichen Familie.)

Knipphals ringt mit sich, um nicht nur Ungünstiges zu sagen. Doch wenn seine Kritik Recht hat, müssen die anderen Lobredner entweder einpacken – oder sie legen keinen Wert auf demokratisches Schreiben:

„An so etwas wie soziale Aushandelprozesse, intersubjektive Diskurse und gegenseitige Selbstaufklärung des Publikums hat er nicht geglaubt. Auch seine zuletzt aufsehenerregende Hinwendung zur linken Gesellschaftskritik unter dem Titel „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“ klang in meinen Ohren jedenfalls ziemlich autoritär. Aus dem Machtkreis, den er um sein Ich gelegt hat, kam er nicht heraus.“ (Dirk Knipphals in der TAZ)

Der einzige Sinn einer demokratischen Presse ist die „gegenseitige Selbstaufklärung des Publikums“, wobei die Vierte Gewalt Teil des Publikums ist. Wenn keine „sozialen Aushandelprozesse und intersubjektiven Diskurse“ in den deutschen Medien stattfinden, sind sie keine Unterstützer der Agora, sondern hinterlistige Lobbyisten der Macht – und sollen zum Teufel gehen.

Hier zeigt sich die ganze Misere der deutschen Verhältnisse – und, sollten sie repräsentativ sein für die westliche Welt – der schon längst eingetretenen Verelendungsprozesse der Demokratien, die Demokratien nicht mehr heißen dürften.

Schirrmacher hat Debatten angezettelt. Das ist besser als nichts, für einen „Neugründer des öffentlichen Diskurses“ aber zu wenig. Man muss selbst debattieren können, nicht nur eine Brandbombe zünden und die lieben Kollegen dann machen lassen. Nach Knipphals ging es Schirrmacher nicht in erster Linie um lebensnotwendige Themen und strenge Debatten:

„Hauptsächlich ging es dabei um Geschwindigkeit und um das Erhaschen des Momentums.“

Das könnte die Definition des ganzen Journalismus‘ sein. Geschwindigkeit plus Momentum ist Haschen nach Sensation, der überbietenden Schlagzeile, der Herostratentat. (Herostratos war ein jonischer Hirte, der einen Tempel in Brand setzte, um unsterblichen Ruhm zu erlangen.)

Philosophisch ist diese Ruhmsucht der Sieg jener Zeitphilosophie, die im je wechselnden Augenblick die unzusammenhängende und unberechenbare Offenbarung eines Gottes erblickt. An welchem Ort und zu welcher Zeit der Blitz des Himmels einschlägt, da muss der gewiefte Tagesbeobachter als Erster zur Stelle sein, um der Menschheit das je Neueste als Heilsbotschaft mitzuteilen.

Diese Zeitphilosophie ist die Transformation der christlichen Heilsbotschaft in griechische Begriffe. Wer als Erster den weggewälzten Stein oder den auferstandenen Erlöser im Leibe erblickt, und die Zeugnisse seiner Sinne um die Welt tickert, der kriegt den himmlischen Pulitzerpreis.

Nach Augstein war Schirrmachers biografischer Weg die „Radikalisierung eines Konservativen“. Woran soll man die Radikalisierung erkennen?

Hat er die Abschaffung des Kapitalismus gefordert? Das Ausmisten aller Atombunker? Das Ende der Naturverschmutzung? Die Aufnahme der Mühseligen und Beladenen, der Flüchtlinge und Opfer vieler Kriege? Hat er – wie Jean Ziegler – eindringlich und unermüdlich die Beendigung der Kinderarmut eingefordert? Ist er dafür eingetreten, die Hartz4-Schande der BRD abzuschaffen? Ist er den Verfallserscheinungen der Demokratie entgegengetreten? Hat er die Schäden seiner eigenen Zunft schonungslos offengelegt? Hat er die Gelehrten aufgefordert, ihre Wahrheiten in klarer Sprache der Bevölkerung zu präsentieren?

Nichts davon. Mit solchen Kleinigkeiten beschäftigt sich kein Heros des in die Zukunft offenen Feuilletons. Er beschäftigt sich allein mit der Frage aller Fragen: Warum ist überhaupt noch Analoges und nicht vielmehr Digitalisiertes und Algorithmisches?

Wofür wird er noch heute von seiner Zunftgemeinde bewundert? „Das FAZ-Feuilleton räumte er in Gänze frei, um die komplette, gerade eben von Craig Venter entschlüsselte Genomsequenz abzudrucken. Eine ungeheure Debatte über einen erweiterten Kulturbegriff setzte ein.“

War das der Aufruf, die Brisanz und Gefährlichkeit der abendländischen Naturwissenschaft zu bedenken? Nicht im Geringsten. Er wollte nur Prophet sensationeller Entdecker sein, um am Ruhm der Entdecker zu partizipieren.

Von Wissenschaftsgeschichte hatte er nicht die geringste Ahnung, sonst hätte er wissen müssen, dass seine Ray Kurzweils schon seit 800 Jahren im Abendland die Welt mit unsterblicher Technik und der Wiedereinrichtung des Paradieses traktieren wollten. Vor kurzem noch war er rückhaltloser Bewunderer jener Technologie, die Macht über die Welt verspricht:

„Fast wöchentlich werden wir von technologischen und wissenschaftlichen Innovationen überrascht wie kaum eine Generation zuvor, und Europa schweigt. Der amerikanische Computerexperte Ray Kurzweil verkündet unter dem Beifall des amerikanischen Publikums, dass Computer noch zu unseren Lebzeiten den menschlichen Verstand übersteigen werden, und in Deutschland kennt man noch nicht einmal seinen Namen. Europa soll nicht nur die Software von Ich-Krisen und Ich-Verlusten, von Verzweiflung und abendländischer Melancholie liefern. Wir sollten am Code, der hier geschrieben wird, mitschreiben.“

Augstein kommentiert im Stile eines Bewunderers großer Männer: „Im Jahre 2000 legte Schirrmacher sich und uns allen das Programm für die folgenden Jahre fest.“

Geht’s noch großartiger und großkotziger? Legt ein großer Mann fest, was eine ganze Gesellschaft zu denken hat? Zumal Schirrmacher nur der Bote war, das Ereignis aber, über das er berichtete, von anderen Leuten inauguriert wurde.

Erst seit Snowden hat Schirrmacher seine Silicon-Valley-Anbetung in Kritik umgemünzt. Das war eine Kurskorrektur von 180 Grad. Diese Korrektur hat er nie eingestanden und Augstein übergeht seine intellektuelle Unredlichkeit mit dem cool klingenden Satz: „Man nennt solche Kurskorrekturen Paradigmenwechsel.“

Von Korrektur war nirgendwo die Rede. Schirrmacher hat Europa ausdrücklich aufgefordert, nicht länger in Ich-Krise und Melancholie zu versinken und an dem neuen zukunftsträchtigen „Code mitzuschreiben“.

Das ist die offensichtliche Verfälschung eines Textes und die Verwandlung eines jugendlichen Irreseins ins pure Gegenteil. Und warum? Um eine deutsche Heiligenlegende mit keinem Jota zu trüben.

Vielleicht würde es Augstein nützen, sein Motto leicht zu variieren, um sich den Tugenden seines Vaters Rudolf zu nähern: im Zweifel die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.