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Religionen

Hello, Freunde der Religionen,

auch Religionen sind Interessen. Ja, sie sind die wichtigsten Interessen der Menschen, die ihr ganzes Dasein von ihnen prägen und bestimmen lassen. Für die einen in irdischer Zeit, für die anderen in Zeit und Ewigkeit.

Vordergründig sieht es aus, als ließen die Erfinder sich von ihren Erfindungen bestimmen, genau genommen bestimmen sie sich selbst. Denn die Menschen haben alle Religionen erfunden, auch diejenigen, die sich Offenbarungsreligionen nennen.

Als die Religionen entwickelt wurden, war die Menschheit selbstbewusst genug, um sich eine umfassende Deutung ihres Lebens zu geben. Aber nicht selbstbewusst genug, um die Autorenschaft ihrer numinosen Gebilde anzuerkennen und persönliche Verantwortung für ihre Selbstdeutung zu übernehmen. So erfanden die Menschen Götter und Mächte, als seien sie deren Kinder, Knechte oder Sklaven, denen sie sich unterwerfen durften und mussten.

Durften: nicht sie waren verantwortlich für ihr Geschick, sondern überdimensionale Elternfiguren und ins Gigantische projizierte Autoritäten, deren Hilfe sie anflehen und erbitten durften.

Mussten: wehe, sie unterwarfen sich nicht, dann hätten sie mit langfristigen, oft irreversiblen Sanktionen rechnen müssen, vor

denen sie sich fürchteten.  

Tremendum und Fascinosum, Furcht und Anziehungskraft, Angst und Vertrauen sind die konträren Gefühle in jeder Religion. Du sollst Gott lieben und fürchten, schreibt der Reformator in seinem Großen Katechismus.

Furcht und Schrecken haben Luthers Erben längst aus ihren Predigten entfernt, um den lieben Gott in der Welt besser zu vermarkten. Das Furchterregende wurde Allah, dem muslimischen Konkurrenzgott, als terroristisches Alleinstellungsmerkmal untergejubelt.

Der Mensch, der Götter produziert, um sich von ihnen in Liebe leiten und in Furcht unterjochen zu lassen: in dieser zwiespältigen Epoche der evolutionären Entwicklung des Menschen befinden wir uns. Befinden wir uns seit Erfindung der Religionen, besonders der Erlöserreligionen, in denen der Mensch ein Fastnichts, Gott das Ein-und-Alles ist.

Erst wenn der Mensch die religiöse Phase indirekter Selbstunterjochung und der Furcht vor direkter Selbstbestimmung überwindet, wird er fähig sein, auf der Erde zu überleben.

Religionen sind nicht Religionen. Die meisten Naturreligionen sind harmlose Danksagungen an die Natur. Das Problem der Moderne sind Erlöserreligionen, die das Ziel haben, die Natur zu überwinden, um das illusionäre Reich einer Übernatur zu errichten.

„Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte werden nicht vergehen“, sagt der Messias der Christen. „Denn siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, man wird der früheren Dinge nicht mehr gedenken.“

Hier beginnt die postmoderne Wut auf das Alte, der fanatische Zwang, sich jeden Tag neu zu erfinden. Wie wollen die Frommen die Schöpfung bewahren, wenn der Schöpfer sein missratenes Produkt selbst ans Messer liefert?

Da die Gläubigen schon seit Ausbleiben der Wiederkunft des Herrn ahnen und fürchten, dass ihr Glaube auf Sand gebaut ist, sind sie gezwungen, ihre Glaubenssätze selbst zu erfüllen. Die gesamte Kultur des christlichen Westens in Technik, Wissenschaft, Wirtschaft und Weltpolitik ist nichts anderes als die selbsterfüllende Prophezeiung ihrer Dogmen.

Erlöserglauben ist Politik. Die Agenda der Erlöserpolitiker steht in ihren heiligen Büchern, getarnt als passive Erwartung an gigantische Taten eines Gottes. Sie sprechen von Jenseits und meinen das Diesseits, sie sprechen im Passiv und meinen ihre aktiven Interessen, um die Welt zu beherrschen.

Gegenwärtig werden Religion und unheilige Interessen strikt unterschieden. Am liebsten von Frommen, die ihre Religion als das Allerwichtigste auf der Welt bezeichnen – obgleich irdische Interessen wichtiger sein sollen als alle Inhalte ihres kostbaren Glaubens zusammen.

Das intellektuelle Portefeuille des christlichen Abendlands ist ein heil-loses Sammelsurium aus Heiligem und Unheiligem. Gern zitiert man den gottlosen Materialisten Karl Marx und sein unheiliges Sein, um dem Ortsgeistlichen kokett eins auszuwischen. Doch im Zweifel muss die Kirche im Dorf bleiben. Man weiß schließlich, was man hat, wenn man Golgatha störungsfrei aussprechen kann.

Nicht das Bewusstsein – und sei es noch so religiös – bestimmt die Wirklichkeit, sondern das irreligiöse Sein bestimmt die Abläufe der Welt, sagen die Frömmsten der Frommen, die jeden Tag beten: Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden.

Entweder ist Erlöserreligion das Zentrum des Abendlands, dann gibt es nichts Wichtigeres als das Interesse der Verlorenen an der ewigen Seligkeit – oder das Abendland kann sich sein Tremendum und Fascinosum an den Hut stecken.

Glaube ist Politik, die nicht zugeben will, dass sie Politik ist, damit sie für das sündige Geschehen auf Erden keine Haftung übernehmen muss.

Es ist noch immer wie bei mittelalterlichen Inqusitionstribunalen. Die Stellvertreter Gottes, Repräsentanten der civitas dei (des Gottesstaates, also der Kirche) führen die Untersuchung und sprechen das Urteil, die dummen Knechte der civitas terrena (des irdischen Staates, der gottlosen, aber notwendigen Räuberhorde) müssen das Urteil in grausame Wirklichkeit umsetzen. Die Knechte haben in Blut zu waten, damit die Kleriker fleckenlos bleiben. Auch das gottwohlgefällige Foltern durften die tumben Werkzeuge des Klerus in sadistischer Lust exekutieren.

Die Mühen der Alltagspolitik überlassen die Soutanenträger gern Berliner Laienschauspielern aus dem Kanzleramt, doch die finalen Prinzipien der Politik werden seit Jahrtausdenden bestimmt und entschieden von uralten heiligen Schriften (siehe Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen). Das weltliche Schwert ist ausführendes Organ des geistlichen – oder es ist nicht.

Wo stehen wir? Wie immer, wenn‘s Krieg gibt, mitten im Getümmel von Kreuzzügen. Nicht die kleinste Grausamkeit gegen die gesamte nichtchristliche Welt im Verlauf der abendländischen Geschichte, die nicht von der Posaune des Jüngsten Gerichts: Deus lo volt, begleitet worden wäre. „Geschieht ein Unglück in der Stadt und Gott hätte es nicht gewirkt?“

Wenn Gott im Regiment sitzt, kann das kleinste Härchen nicht gekrümmt werden ohne seinen Segen. Ist das nun der relevante Glaube der Abendländer oder ist er es nicht? „Der ich das Heil wirke und das Unheil schaffe, ich bins, der Herr, der alles wirkt.“

Worum ging es bei den mittelalterlichen Kreuzzügen? Um die Eroberung der Goldenen Stadt auf dem Berge.

Worum geht es in den heutigen Kreuzzügen? Um Rückeroberung der Goldenen Stadt auf dem Berge, um die Dominanz über ganz Nahost, um bedenkenloses Ausplündern der dortigen Bodenschätze, schließlich um Sieg über den muslimischen Widerstand gegen den übermächtigen Westen.

Christen und Juden haben sich zusammengeschlossen, um den Muslimen zu zeigen, was eine rechtgläubige Erlöserreligion ist und wie man ein imperial erobertes Ressourcenrevier eisern unter Kontrolle behält. Hier zeigt sich: religiöse und materielle Interessen sind identisch – dank Gottes heiligem Willen.

Sarah Eltantawi, Religionswissenschaftlerin, bestätigt in der TAZ die Diagnose:

„Das amerikanisch/westliche Paradigma für den Nahen Osten seit 1967 ist: Öl, Israel und Sicherheit. Just hierin wurzeln die tiefgreifendsten Probleme des Nahen Ostens.

Öl, weil die Abhängigkeit des Westens die konservativen bis reaktionären Regime in der Region päppelt.

Israel, weil das westliche unendliche Verständnis gemeinsam mit den beinah ebenso grenzenlosen Waffenlieferungen die arabische Welt massiv destabilisieren. Und das Stabilitätsdiktum schließlich beschert uns all die Diktaturen, die von der Arabellion herausgefordert wurden. Der Wunsch nach Stabilität bedeutet vor allem stabile Unterdrückung der breiten Bevölkerung und relative Sicherheit für Israel. Ohne diesen Kontext zu berücksichtigen, ist es unmöglich zu verstehen, was die arabische Welt so schmerzt.“

Auf der letzten Strecke des Heilsfinales haben Christen und Juden sich zusammengeschlossen, um der dritten und jüngsten Erlöserreligion aus Mekka zu zeigen, wo Bartels den Most holt. Sind die Dritten im Bunde erledigt, wird das letzte Szenario der Heilsgeschichte anbrechen: der ultimative Kampf zwischen Christen und Juden um die Goldene Stadt, dem Zentrum der neuen Schöpfung.

Das jetzige Bündnis zwischen amerikanischen Biblizisten und jüdischen Ultras ist ein Zweckbündnis auf Zeit, das in dem Moment zerbrechen wird, wo die Amerikaner ungeduldig erwarten, dass die Juden endlich zum Christentum übertreten. Was diese mit Sicherheit nicht tun werden – dann kommt die allerletzte Phase der Kreuzzüge.

Der interne Vernichtungskampf der drei Erlöserreligionen beherrscht die Weltgeschichte. Alles andere ist Staffage. Wenn die nichtchristliche Welt sich nicht entschließt, dem Heils- und Unheilsfuror der konkurrierenden Messianisten energisch die rote Karte zu zeigen, wird sie von den heiligen Drei Musketieren in den Abgrund mitgezogen.

Wer kennt die Geheimnisse der selbsterfüllenden Heils- und Unheilsgeschichte?

a) Die fundamentalistischen Korananhänger,

b) die amerikanischen Buchstabengläubigen und

c) die jüdischen Ultras, die ihre apokalyptischen Bücher ebenfalls wortwörtlich auslegen.

Wer weiß, wie immer, nicht Bescheid?

Die ach so aufgeklärten Europäer, die allen mythologischen Kram überwunden und dem verbalinspirierten Buchstabenfetischismus schon vor Jahrhunderten den Abschied gegeben haben. (Allerdings nur unter den historisch-kritischen Gelehrten! Die dumm gelassenen Gemeinden kennen nicht mal das Problem und normale Christen rätseln, was ein Neues und Altes Testament sein soll.)

Warum will ISIS der ganzen nichtmuslimischen Welt den Kopf abschneiden? Weil es wortwörtlich im Koran steht. Ein ISIS-Glaubensfighter in einem SPIEGEL-Streitgespräch:

„Es ist die Pflicht eines jeden Muslims, Andersgläubige zu bekämpfen, bis auf der ganzen Welt nur Allah verehrt wird. Jeder hat die Chance, sich zu Allah zu bekennen und auf dem rechten Weg zu wandeln. (Rezitiert auf Arabisch aus dem Koran, 5. Sure, Vers 37) „Siehe, der Lohn derer, welche Allah und seinen Gesandten befehden und Verderben auf der Erde betreiben, ist nur der, dass sie getötet oder gekreuzigt oder an Händen und Füßen wechselseitig verstümmelt oder aus dem Lande vertrieben werden.“

Kaum jemand im Westen, der den ISIS-Kreuzzug für einen religiösen Krieg hält. Von Obama bis Pastor Gauck wissen alle Christen, dass Erlöserreligionen identisch sind mit Friede, Freude, Eierkuchen.

Religion ist Liebe, was nicht Liebe ist, ist keine Religion, skandieren sie im höhern Chor – obgleich in ihren heiligen Schriften von der ersten bis zur letzten Seite Gottes Gewaltpolitik beschrieben und gepredigt wird. Da die Frommen Ebenbilder dieses Gottes sein wollen, besteht ihre Liebe darin, die Ungläubigen ins Jenseits zu befördern.

„So aber deine Hand oder dein Fuß dich ärgert, so haue ihn ab und wirf ihn von dir. Es ist besser, daß du zum Leben lahm oder als Krüppel eingehst, denn daß du zwei Hände oder zwei Füße hast und wirst in das höllische Feuer geworfen. Und so dich dein Auge ärgert, reiß es aus und wirf’s von dir. Es ist dir besser, daß du einäugig zum Leben eingehest, denn daß du zwei Augen habest und wirst in das höllische Feuer geworfen.“

Warum, obgleich die Texte in den heiligen Schriften unmissverständlich sind, dürfen Religionskriege keine religiösen Kriege sein?

Weil nach Meinung des Westens der Buchstaben der Schrift tötet, der Geist aber, die humanistische Deutung, die wahren Absichten des Gottes zeigen sollen.

Dreh- und Angelpunkt der ganzen Frage ist: muss die Schrift wörtlich genommen – oder kann sie nach Belieben ausgelegt werden?

Wörtliche Auslegung nennen Theologen Verbalinspiration: jedes Wörtchen ist direkt vom Heiligen Geist diktiert und also unfehlbar. Luthers sola scriptura – allein durch die Schrift – begründete die Lehre von der Verbalinspiration. Obgleich Luther selbst den Jakobus-Brief oder die Johannes-Apokalypse gar nicht als unfehlbar betrachtete.

Spätestens mit dem Sieg der Naturwissenschaften und dem Zeitalter der Aufklärung wurde die Verbalinspiration zugunsten freier Deutungen abgeschafft. Man hätte sonst die ganze Bibel als Wort Gottes abschaffen müssen, wenn man seinen Willen nicht mehr am sklavischen Buchstaben, sondern an der Erleuchtung des neugeborenen Jüngers orientiert hätte.

Ab der Romantik wurde Schriftdeutung völlig aus der Buchstaben-Pflicht entlassen und der grenzenlosen Deutungskür der Jünger Jesu überlassen. Alles Anstößige, Widersprüchliche, Inhumane darf seitdem im Namen einer omnipotenten Deutung eliminiert, humanisiert oder sonstwie dem herrschenden Zeitgeist angepasst werden.

Diesen Prozess einer freien Deutung kennen weder fundamentalistische Korankrieger noch biblizistische Amerikaner. Und wenn sie ihn kennen, lehnen sie ihn als Teufelswerk ab.

Dürfen Bücher nicht frei flottierend gedeutet werden?

Antwort: Wenn Platon, das BGB, die täglichen Printmedien ad-libitum gedeutet werden dürften, kämen geistbegabte Althistoriker, Juristen und Zeitungsleser auf der Stelle ins Abseits. Warum sollen für „heilige Schriften“ andere Regeln gelten als für unheilige? Vor der Vernunft sind alle Schriften gleich. Extrawürste gibt’s nicht, sie wären ein Hohn für jedes wissenschaftliche Textinterpretieren.

Ein Streit um richtiges Verstehen wäre unmöglich, jeder Deuter wäre unfehlbar und omnipotent. Sein Motto wäre: was in dem Text steht, bestimme immer noch ich. Das wäre keine Deutung des alten Textes mehr, das wären völlig neue Texte und Bücher.

Kann man seine Religion durch zeitgemäße Interpretation nicht fortlaufend humanisieren?

Man kann. Die Humanisierung ihrer homerischen Göttermythen erfanden bereits die Griechen. In allegorischer Deutung interpretierten die Stoiker die Götter Homers als physikalische und vernünftige Elemente. Was die Griechen durften, dürfen das die Modernen nicht?

Die Griechen ließen keinen Zweifel daran, dass sie Vernunft anlegten, um den alten Texten einen bislang unentdeckten subkutanen Sinn zu entlocken. Das alleinige Kriterium der Deutung war Vernunft.

Es ging nicht um prinzipielle Rettung alter Texte, sondern um radikale Prüfung der Texte im Licht der Aufklärung. Der Mythos war nur zu retten, wenn Logos sich selbst im Mythos wiederfand und dieser seinen mythischen – also unvernünftigen oder unmoralischen – Charakter verloren hatte. Der alte Text war nicht unfehlbar und auf keinen Fall das Ergebnis eines offenbarenden Gottes.

Ganz anders die theologische Hermeneutik (die Kunst der Deutung) der Moderne. Der alte Text soll beliebig geändert werden – und dennoch der alte unfehlbare Text bleiben. Das ist, als wollte ich den Kuchen essen und ihn dennoch behalten.

Wohl muss man jeden Text interpretieren, doch immer so, dass konkurrierende Deutungen sich auf den Buchstaben der Texte berufen können, um ihre Version als die wahrscheinlichere zu beweisen. Wer seine Deutung als willkürliche Veränderung versteht, will den Text kritisieren – ohne ihn kritisiert zu haben.

Der willkürliche Interpret ist kühn als Erfinder neuer Deutungen, aber ängstlich und feige als Kritiker. Am unfehlbaren Charakter der Schrift will er nicht rühren, obgleich er die Heilige Schrift in hohem Maße für hoffnungslos veraltet hält.

Kritikloser Unfehlbarkeitsglaube und anarchische Deutungswillkür sind wie Feuer und Wasser. Die Kür-Deuter geben sich autonom im Erfinden ständig neuer Sinnzusammenhänge, sind aber furchtsam-heteronom und klammern sich an die angebliche Unfehlbarkeit der Texte. Im Grund wollen sie eine neue Bibel. Doch sie trauen sich nicht, die alte zu entsorgen.

So treiben sie Polygamie: die neue Deutung wollen sie heiraten, sich von der alten aber nicht scheiden lassen. Das sind polyamore Verhältnisse, im Sinnlichen eine interessante Möglichkeit, im Wahrheitsbereich ein Skandal und eine Katastrophe. Hier gilt: man kann nicht zween Herren dienen.

Entweder Kritik oder keine. Zu seiner Kritik muss man stehen, darf nicht gleich den Schwanz einziehen, man habe nur deuten, aber nicht kritisieren wollen. Buchstabengetreue Deutung will den Sinn des Textes zur Entfaltung bringen, willkürliches Deuten und Hineinprojizieren den alten Text ungeschehen machen.

Schminken will die Schönheit einer Frau zur Geltung bringen, ein Ganzkörper-Niqab will sie verhüllen. Seine Religion kann man humanisieren, indem man ihre Inhumanität kritisiert und ins Humane korrigiert, aber nicht, indem man sie verändert und sie gleichwohl weiterhin als unfehlbare anbetet.

Was sind die politischen Folgen dieser akademisch klingenden Unterschiede?

Wer deutet, ohne die inhumanen Texte zu attackieren, der gibt dem Fundamentalisten die Legitimation, seine inhumanen politischen Zwecke als Willen Gottes darzustellen.

Die momentane Situation könnte nicht perverser sein. Just der Militante ist intellektuell redlicher beim Deuten heiliger Texte als der Humane, der mit List und Tücke seine humanen Absichten den alten Texten aufoktroyieren will.

Durch Deutungsfinessen verleugnet der christlich-jüdische Westen den inhumanen Sinn seiner Religion. Deshalb will er den Muslimen verwehren, ihre Barbarismen als Religion auszugeben. Also muss Buchstabentreue als veraltete Hermeneutik diskreditiert werden, damit niemand im Westen auf die Idee komme, die Texte der Bibel zu lesen, wie sie wirklich geschrieben sind.

Der Westen will seine gewalttätige und zwangsbeglückende Erlöserreligion nicht decouvrieren. Ergo muss er leugnen, dass ISIS im Namen einer Erlöserreligion agiert.

Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig? Umgekehrt wird ein Schuh draus. Geist ist die getreue Entzifferung des Buchstabens. Wer fühlt sich verstanden, wenn seine Gesprächspartner ihm ständig die Worte im Munde herumdrehen, damit sie hören, was sie hören wollen?

Die Epoche der menschheitsspaltenden Religion geht vorüber. Noch bäumt sie sich ein letztes Mal auf, doch ihr Ende ist abzusehen. Eine mündige Menschheit braucht keine heiligen Texte. Weder als verbalinspirierte noch als künstlich gedeutete Offenbarungen eines Gottes.

Die Sprache ist dem Menschen gegeben, damit er sich verständige und gemeinsam zum Wohl der Menschheit handle.