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Recht

Hello, Freunde des Rechts,

ist die Welt vernetzt, kommt alles auf den Tisch. In immer geringeren Zeitintervallen wird der Menschheit die schonungslose Quittung für ihr globales Tun präsentiert. Die geringsten Rechtsverletzungen an den Enden der Welt dringen in die Machtzentren der Zivilisation und bringen sie in Not und Bedrängnis. Nicht die Sonne bringt es an den Tag, sondern die Abhängigkeit aller von allen.

Die Menschheit ist zu einem einzigen Organismus zusammengewachsen, dessen Nervenstränge alle Menschen, Völker und Staaten des Planeten erfassen. Die synchrone Rückmeldung ihres Tuns verschärft die Gefährdungen für die Menschheit und erhöht ihre Chancen für rückhaltlose Selbstwahrnehmung.

Rechte Moral muss nicht länger in theoretischen Abhandlungen bewiesen werden, sie zeigt ihre Notwendigkeit in praktischen Folgen, die jeder Mensch in seinem Alltag hautnah erfährt.

Einigt sich die Menschheit nicht auf eine wirksame Ökopolitik, verändert sich das weltweite Klima, das immer größeren Massen das Leben in ihrer gewohnten Umgebung unmöglich macht. In wachsenden Strömen machen sie sich auf, ihre Überlebenschancen dort zu suchen, wo sie Sicherheit und Wohlstand vermuten.

In früheren Zeiten blieben die Folgen ihres amoralischen Tuns für die mächtigen Staaten des Westens in weiter Ferne. Heute wird jeder direkt und unmittelbar mit Klimaverschärfung, Flüchtlingsproblemen und ökonomischen Verwerfungen konfrontiert. Selbst die Reichsten werden nicht ungeschoren davonkommen, wenn steigende Meeresfluten ihre glücklichen Inseln überschwemmen, Tsunamis ihre Luxusyachten überrollen und Tornados ihre schneeweißen Villen davontragen werden.

In vielen Jahrhunderten stritten die Menschen über wahre Moral. Der Streit konnte in vielen Dingen abstrakt bleiben, denn die Folgen der gelebten Moral beschränkten

sich auf Wirkungen innerhalb der Familie, der Sippe, des eigenen Staates oder – wenn‘s hoch kam – innerhalb des Imperiums, in dem man freiwillig oder unfreiwillig lebte. Heute gibt es solche begrenzten Konsequenzen des eigenen Tuns nicht mehr. Außenpolitik wurde zur Innenpolitik der Völker.

Abstraktes und folgenloses Streiten um die beste Moral verschärfte sich zur praktischen Überlebensfrage. Einigt sich die Menschheit nicht auf allgemeine Regeln des Zusammenlebens, werden alle Menschen die Konsequenzen ihrer dialogischen Unfähigkeit am eigenen Leibe erfahren. Wir stehen unter Verständigungs- und Einigungszwang. Das moralische Seminar einsamer Denker wurde zur politischen Weltbühne, auf der jeder seine philosophischen Qualitäten im Alltagsverhalten und in seiner Tagespolitik beweisen muss.

Das Gute oder die vorbildliche Moral, bislang als unerreichbares Ideal und weltfremde Utopie verleumdet, wurde zur ultima ratio des Überlebens. Wir müssen vorbildlich werden, wenn wir unseren Kindern die Erde als Heimstätte der Natur und irdisches Nest der Geborgenheit erhalten wollen. Wir müssen Idealisten und Utopisten, müssen klug und weise werden. Uns bleibt keine andere Wahl.

Alles, was die ideale Norm nur um ein Geringes verfehlt, kann, nein, wird uns Kopf und Kragen kosten. Der Preis der Torheit, der moralischen Verkommenheit, der Unterwürfigkeit unter Götter und Heilsgeschichten ist der Untergang.

Was ist das Gute? Was das Zusammenleben mit Mensch und Natur verträglich und friedlich macht: weiß schon jeder Säugling beim ersten Schrei. Es gibt nur eine Weltpolitik, die uns vor dem Verhängnis retten kann und das ist die realisierte und praktizierte Moral.

Die Erlösungsreligionen haben uns eine „ideale“ Moral vorgesetzt, die unerfüllbar sein muss, um unseren irdischen Stolz zu brechen und uns als unrettbare Sünder in den Staub zu treten. Natur- und menschenfreundliche Moral müssen wir erst lernen. Eine ideale Norm schließt Lernen nicht aus, sondern stimuliert die Entwicklungsfähigkeit des Menschen.

Vorbildliche Moral ist nicht unerreichbar. Normen, die der Mensch selbst bestimmt, sind nicht abschreckend, sondern anregend und antreibend. Das beweist jede Mutter, die sich für ihr Kind verantwortlich fühlt, beweist jeder Vater, der seine Kinder schultert und 1000e von Kilometern über Stock und Stein in Sicherheit bringt.

Was hat die Menschheit nicht schon alles in ihrer Geschichte gelernt? Hätten Voltaire und Kant sich träumen lassen, dass die Völker der Welt sich in den nächsten drei Jahrhunderten auf eine globale Gemeinschaft mit unverbrüchlichen Menschenrechten einigen würden? Diese stehen nicht nur auf dem Papier. Wie vieles davon wird in unzähligen Gruppen und Gemeinschaften rund um den Globus bereits in stiller Gewohnheit praktiziert?

Da beißt keine Maus den Faden ab: es sind nicht die Völker, es sind die ehrgeizzerfressenen Macht- und Reichtumseliten, die sich langweilen, wenn sie ihre gigantesquen Größenphantasien nicht mit Hauen und Stechen in schreckenerregende Realität verwandeln können. Es sind terrible simplificateurs, die die simple und jedem wachen Menschen vor Augen liegende Wahrheit als schreckliches Vereinfachen verhöhnen: die Wahrheit, dass sie selber die Unersättlichen sind, die lieber die Welt opfern, als ihre religiösen Unmäßigkeiten abzulegen.

Nein, die Welt ist nicht kompliziert. Und wo sie es ist, geht sie uns nichts an. Das freudige Leben hienieden ist das Einfachste der Welt. Das Einfache haben wir uns von frömmelnden Verwirrkünstlern nur entwenden und verleiden lassen. Das Einfache ist das schwierigste – geworden.

Diese Absurdität (ich glaube, weil es absurd ist) haben wir uns von Feinden des Lebens in zwei bis drei Jahrtausenden einbläuen lassen. Das Einfache des gelingenden Lebens müssen wir uns zurückerobern. Vor lauter geächtetem Reduzieren kognitiver Dissonanzen haben wir vergessen, die Dissonanzen und ihre Erfinder selbst zum Teufel zu jagen.

Dissonanzen sind uns als jenseitige Offenbarungen eingebläut worden. Doch von Natur aus gibt es nur lösbare Probleme, keine tragischen, aporetischen und zur Verzweiflung zwingenden Kompliziertheiten. Das zeigen jene naturreligiösen Stämme, die seit unendlichen Zeiten ihre Lebensfähigkeiten unter Beweis stellen. Der edle Wilde ist nicht edel, weil er wild, sondern weil er klüger ist als die Unedlen der allerhöchsten Zivilisationen.

Die Cleverness maschineller und geldgieriger Intelligenzler wird immer identischer mit der absoluten Borniertheit von Selbstgeißlern und Selbsttötern. Das dringliche Motto der Gegenwart und der nächsten Zukunft muss lauten: Moral – oder Untergang. Nun wählet.

Weltpolitik muss radikal moralisch werden. Machiavellistische Interessen, bislang in spießiger Naseweisheit toleriert, müssen in moralisch vertretbare umgewandelt werden. Jede Interessenpolitik, die Kriterien der Moral nicht entspricht, ist kriminelle Politik.

Machiavellismus und Moral sind keine Polaritäten, die sich gegenseitig befördern. Sie sind Widersprüche, die sich ausschließen. Machtpolitik und Humanität, Staatsraison und Menschenrechte, Machiavellismus und menschliche Solidarität sind nicht vereinbar. Es gibt keine Balance zwischen Freundschaft und Feindschaft, Eintracht und mörderischer Zwietracht. Ein Widerspruch ist ein Widerspruch und durch keine deutsche Dialektik zu harmonisieren.

Die simple Logik der Griechen wurde durch die dialektischen Hexenkünste der Deutschen zu Schanden gemacht. Hegel konnte es nicht ertragen, das bewunderte Griechentum in feindlichem Gegensatz zu seinem Kinderglauben zu sehen.

Welche Sätze hört man in deutschen Literatursendungen – den Sendungen von terribles complicateurs – am häufigsten? „Wir machen es uns einfach und wollen, dass die Probleme der Welt lösbar sind. Also suchen wir nach Ursachen unliebsamer Tatsachen, dann glauben wir, den Schlüssel zu ihrer Lösung gefunden zu haben. Doch so einfach ist es nicht. Alles ist synchron, zufällig und undurchschaubar.“

Was ist das simple Fazit aller Literatursendungen? Wir wissen nichts, können nichts, sind atomisierte Autisten und hoffnungslose Unmenschen – doch beim Lesen immer dicker werdender Romane versinken wir im Rausch unserer eigenen Unermesslichkeit. Fabula docet – wie ham wir gelacht. Ein Buch ist umso köstlicher, je weniger es dazu beiträgt, die Gegenwart zu verstehen. Soll es als Melkkuh für ratlose Politiker dienen? In Wirtschaft und Technik herrschen die Götter des unendlichen Fortschritts und Wachstums, in der Stube der Bücherfresser herrscht der Gott des fidelen Untergangs. Selbsterfüllende Apokalypse – na und?

Auch die Frömmigkeit hat ihren lustigen Zynismus:

„Mein Sohn, lass dich warnen. Des vielen Büchermachens ist kein Ende und das viele Studieren ermüdet den Leib. Um sich zu ergötzen, bereite man eine Mahlzeit und Wein erfreut das Leben. Für Geld ist alles zu haben, auch in deiner Schlafkammer fluche nicht dem Reichen. Geh, iss mit Freuden dein Brot und trink deinen Wein mit fröhlichem Herzen. Denn längst hat Gott dein Tun gebilligt. Geniesse des Lebens mit dem geliebten Weib alle die Tage des flüchtigen Daseins, das dir verliehen ist unter der Sonne.“ (Prediger)

Millionen Wohnungen stehen leer – und Flüchtlinge müssen in kalten Zelten frieren? Die Deutschen vererben Billionen – und Schäuble will das Handgeld für die Fremden kürzen? Die vielen HelferInnen in den Flüchtlingsheimen sind keine Mitglieder der upper class. Millionäre und Milliardäre triffst du selten unter jenen, die Kleider und Spielsachen sammeln, mit den Kindern spielen, die Aktionen organisieren und den Geschundenen und Traumatisierten zuhören, damit sie wieder Lebensmut schöpfen können.

Soll das ein Witz sein, dass eine vom Blitz folgenloser Barmherzigkeit getroffene Kanzlerin die Seite der Moral vertritt – worauf schreibende Möchtegernmoralisten ihr Glaubensbekenntnis ablegen? Schon revidierte sie ihren soteriologischen Satz: wir schaffen das. Von Tag zu Tag wird ihr Ton kleinlauter: wir schaffen das, aber. Aber was? Aber nur dann, wenn …weiterhin Wunder geschehen. Wunder sind göttliche Sprengungen der natürlichen Kausalketten. Merkel veranstaltet ein Lourdes-Festival. Mit überschaubarer und berechenbarer Politik hat dies nichts zu tun. Berechenbares ist für neuromantische Glubschaugen ein Sakrileg. Rechnen soll man beim Geldverdienen, nicht beim herzensreinen Helfen.

„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen

Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.“ (Novalis)

Es muss kein geheimes Wort, es kann auch ein einfaches Sätzchen sein.

Warum ist Merkel nicht bereit, leerstehende Wohnungen zu beschlagnahmen? Weil es um Eigentum geht. An heiligem Eigentum vergreift sich kein Christdemokrat.

Warum verstößt Merkel gegen das Grundgesetz? Dort steht in gewichtigen Lettern: Eigentum verpflichtet. Verpflichtet wozu? Nach Merkel zu gar nichts. Wenn je dieser Artikel verwirklicht werden müsste, dann hier im Fall eines sozialen Notstands.

Wo sind die sonst so regen Hüter des Grundgesetzes? Warum machen sie der Regierung nicht gehörigen Druck, um ihre Liebe zum Grundgesetz zu beweisen – wenn sie schon keine Fremden lieben? Warum gibt es keine Spontanklage in Karlsruhe, um die verfassungswidrigen Machenschaften Merkels zu ahnden? Wo sind die Gläubigen der lutherischen Madonna, um diese mit Nachdruck daran zu erinnern, dass Helfen nicht nur eine gepredigte Vokabel sein darf?

Eigentum verpflichtet, bedeutet: diejenigen, die in Geld ersticken, haben dasselbe rauszurücken, um es denen zu geben, die es zum Überleben benötigen. Diejenigen, die leere Häuser und Wohnungen besitzen, haben sie denen zu öffnen, die dringend Unterkunft benötigen. Was zum Henker soll dieser Artikel anderes bedeuten?

Braucht man einen komplizierten Juristenverstand, um schlichte Wahrheiten einer demokratisch verbrieften Solidarität zu erkennen? Oder gar eine Böckenförde‘sche Erleuchtung, weil der gottlose Verstand die einfachsten Gebote der Menschlichkeit nicht kennen kann? Erleuchtete, vortreten, um Merkels leicht fragmentierter Nächstenliebe auf die Sprünge zu helfen.

Nicht nur, dass Merkel das Grundgesetz verletzt, die verfassungsgemäße Hilfe für Schwache und Notleidende ignoriert und ihren heiligen Helferwillen mutwillig amputiert. Sie machte sich auch strafbar, als sie das Helfen als strafbares Delikt organisierte. Das ist keine Kleinigkeit, das ist eine deutsche Ursünde.

Deutschen ist nichts lieber, als mit Gutem die Welt zu erlösen. Und ist die Welt nicht willig, dann brauchen sie Gewalt. Um des Guten willen dürfen sie mit leichter Hand Gesetze brechen: das hat Tradition in der lutherischen Untertänigkeitstradition, die Freiheit und Moral nur – als rechtlose Tat, als Deklassierung des Gesetzes verstehen kann. Der Passauer Strafrechtler Holm Putzke:

„Einige inzwischen gefasste Schleuser beriefen sich darauf, in Abstimmung mit der Kanzlerin könnten Flüchtlinge nahezu ungehindert von Ungarn über Österreich nach Deutschland einreisen“, schreibt er in seinem Blog.

Nun, so Putzke, gebe es zwei Möglichkeiten: Entweder erfüllen Personen, die ab dem 5. September Flüchtlinge nach Deutschland befördert haben, nicht den Tatbestand des Einschleusens von Ausländern – „oder all jene haben sich ebenfalls strafbar gemacht, die bei der unerlaubten Einreise Hilfe geleistet haben, darunter die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel“, führt Putzke weiter aus. Und weiter:

„Angela Merkels Entschluss, zusammen mit Österreich die EU-Abreden über das Weiterreiseverbot von Flüchtlingen außer Kraft zu setzen, stellt sich zweifellos als eine solche Förderung dar, wenn es nicht sogar konkludent als Aufforderung zur unerlaubten Einreise zu verstehen war, was ebenfalls strafbar wäre, nämlich nach § 111 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs (StGB).“

Merkel bestimmt in diktatorischer Nächstenliebe über den Ausnahmezustand. Moralisch ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.

Frage: steht die gute Sache nicht über dem ordinären Recht?

Goethes bester Satz lautet: das Gesetz nur kann uns Freiheit geben. Moral aber ist Bestimmung aus Freiheit, was zur Folgerung führt: das Gesetz nur kann uns Moral geben. Moral außerhalb der Gesetze – oder gar gegen sie – wäre außermoralisch.

Dennoch wäre unter bestimmten Dringlichkeits- oder Notverhältnissen denkbar, dass man aus humanitären Gründen ein Gesetz missachtete, weil das Wohl der Menschen wichtiger wäre als pedantische Gesetzesbeobachtung. Eine partielle Regelverletzung zugunsten eines höheren Guts gehört zum Repertoire selbstbewusster Demokraten, die sich von niemandem vorschreiben lassen, was in einem singulären Dilemma die beste Entscheidung wäre.

Merkels Entscheidung, die von Orban malträtierten Flüchtlinge spontan über die Grenze zu lassen – wäre mit plausiblen Gründen zu vertreten. Viele Deutsche werden diese Entscheidung für richtig gehalten haben. Aber: Jeder, der ein Gesetz übertritt – aus welchem Grund auch immer – müsste das Gesetz dennoch achten, indem er die sanktionierenden Folgen des Gesetzes auf sich nehmen müsste.

Nicht alle Gesetze sind das Gelbe vom Ei. Wer ein Gesetz negiert, das er als veraltet und inhuman betrachtet, hätte die Pflicht, politisch für ein besseres zu plädieren. Der Respekt vor dem Gesetz gebietet, dass man den Konsequenzen einer Regelverletzung nicht aus dem Wege geht.

Merkel hatte gute Gründe, den Flüchtlingen in ihrer aktuellen Not beizustehen. Dennoch dürfte sie aus unbedingter Loyalität gegenüber dem Rechtsstaat den Folgen der Regelverletzung nicht aus dem Wege gehen. Freiwillig hätte sie ihren Rücktritt anbieten und eine gerichtliche Untersuchung des Vorgangs fordern müssen.

Doch Merkel erweckt den Anschein, als stünde sie aus moralischer Überqualifizierung über allen Gesetzen. Demokratische und gesetzliche Spielregeln scheinen für sie ein weltliches Kasperle-Theater zu sein, das sie aus himmlischer Höhe beliebig ignorieren kann. Ihr christliches Motto lautet: Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen. Das ist ein platonisch-totalitärer Satz, der das selbstdefinierte Gute beliebig zu einem Göttlichen stilisieren kann, um dieses über die ordinären Gesetze zu heben.

Man stelle sich vor, alle Menschen würden diesen religiösen Überheblichkeitstrick anwenden. In allen Streitigkeiten privater Moral gäbe es Mord und Totschlag. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Die Welt gewinnen: das ist ein Angriff gegen die griechische Kosmosverehrung.

Mit der Demokratie hat der Mensch ein wunderbares Mittel erfunden, die Welt als Heimstaat gleicher und freier BürgerInnen zu gewinnen. Doch der christliche Gott ist eifersüchtig auf die autonome Welt und stellt die Menschen vor die Entscheidung: die Welt – oder Ich.

Bei den Deutschen, und mögen sie noch so kirchenfremd sein, haben diese welt-verachtenden Sätze noch immer einen guten Klang. Die AnbeterInnen Merkels verteidigen die gesetzlos-übermoralische Tat der Kanzlerin ungeniert mit Sätzen des Neuen Testaments.

Ab der Deutschen Bewegung, die vom Sturm und Drang gegen die französische Herrschaft des vernünftigen Naturrechts entfacht wurde, waren die Deutschen keine Vertreter des bedingungslosen Rechts. Das Volk wurde ins biblische und obrigkeitliche Joch gespannt, doch die jungen Brauseköpfe reklamierten für sich das Recht, die pedantischen Gesetze des Staates zu missachten zugunsten eines überrationalen, individuellen und genialen Sonderrechts, das sie sich nach Belieben aus den Fingern zogen. Das Recht auf individuelle Sonderrechte war die Moral der Deutschen bis ins Dritte Reich.

Ohne Vergleiche kommen wir nicht weiter, wenn wir das Maß unserer historischen Wiederholungszwänge erkennen wollen. Hitlers Erfolg schnellte nach oben, als er bestehende Regeln missachtete – und dennoch keine Rückschläge und Sanktionen erdulden musste. Die erste Regelverletzung war der Einmarsch in die französische Zone. Die zweite die grässliche Ermordung von Röhm und anderen SA-Führern. Kein Aufschrei in Deutschland. Im Gegenteil: die Deutschen – bereits das Außerordentliche in messianischer Erregung erwartend – hielten die brutale Gesetzesverletzung, welche keinerlei juristischen Konsequenzen nach sich zog, für den Beweis des göttlichen Führers.

In Amerika sehen wir von Anfang an denselben Kampf um die Vorherrschaft des Demokratischen oder Religiösen. Was demokratische Gesinnung verbot, war im Sinne einer christlich-imperialen Missionierungstat durchaus erlaubt. Das letzte Beispiel dieser religiösen Überheblichkeit ist der von Dabbelju Bush angestrengte Krieg gegen die heidnischen Feinde der USA. Aus Oliver Stones und Peter Kuznicks Werk „Amerikas ungeschriebene Geschichte“:

„Bush rief zum moralischen Kreuzzug auf. Sechzig Länder landeten auf Bushs Liste potentieller Angriffsziele. Unverhohlen redete er dem amerikanischen Exzeptionalismus (Amerika hat das souveräne Recht zur moralischen Erhebung über jedes internationale Gesetz) das Wort. Bush sah sich wahrhaftig in einer göttlichen Mission. In der Religion, sagte er, ginge es darum, Dinge zu glauben, für die empirische Beweise fehlten. „Es gibt mir ein wenig Gelassenheit zu wissen, dass die Mahnung der Bibel „Dein Wille geschehe“ im Leben die Richtschnur ist.“

Merkels gesetzeswidrige Tat nähert sich dem amerikanischen Exzeptionalismus. Deutschland, vorbildlicher Schüler Amerikas, maßt sich dieselben religiösen Sonderrechte an wie sein mächtiger Lehrer.

Deutschlands Literatur und Philosophie ist erfüllt vom Konflikt zwischen „Pflicht und Neigung“. In Kleists „Michael Kohlhaas“ wird die Geschichte des Rosshändlers Kohlhaas erzählt, der „einer der rechtschaffensten und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ war. Weil er keinen gerechten Richter für die erlittene Untat fand, griff er zur Selbstjustiz und setzte sich über alle Gesetze hinweg, um dem Gesetz Genüge zu tun.

Im Schauspiel „Prinz von Homburg“ wird das Drama eines adligen Heerführers geschildert, der mit seinen Reitern den Sieg in einem Krieg des Kurfürsten von Brandenburg erzielte. Aber mit einem entscheidenden Handicap. Der Einsatz erfolgte auf eigene Faust, wider den erklärten Willen des Kurfürsten. Er wurde zum Tode verurteilt und konnte nur begnadigt werden, wenn er „selbst den Spruch des Kriegsgerichts für gerecht erklärte“. Begründung des Kurfürsten: der Staat müsse darauf bestehen, „dass dem Gesetz Gehorsam sei.“ Dem Staat könne es nicht gleichgültig sein, „ob Willkür darin, ob drin die Satzung herrsche.“ Der Prinz erkennt, dass er gegen das Gesetz verstoßen hat und spricht sich schuldig. Erst jetzt, nachdem dem Gesetz Genüge getan wurde, kann der Kurfürst seinem „Herzen“ gehorchen und auf Gnade erkennen.

Merkel hätte nur eine Chance, den Folgen der Gesetzesübertretung zu entgehen, wenn sie öffentlich gestehen würde, einen eminenten Fehler begangen zu haben. Wenn auch in bester Absicht.

Jedes Recht ist die Frucht einer Moral. Jedes Gesetz die schriftlich fixierte Wirkung einer kollektiven ethischen Einstellung. Wer das Gesetz verletzt, verletzt die zugrunde liegende Moral. Alle Gesetze müssen sich am moralischen Maßstab messen lassen, den wir in uns haben. Verbesserungen müssen das Werk des ganzen Volkes oder seiner gewählten Vertreter sein.

Hoheitliche Alleingänge im Namen einer persönlichen Moral – und werde sie auch als Stimme Gottes glorifiziert – sind gesetzlose Attacken gegen die Souveränität des Volkes. Merkel müsste sich nicht nur dem Votum eines Gerichts stellen, sondern auch das Placet des ganzen Volkes bekommen, wollte sie die Chance erhalten, weiterhin die Geschicke des Landes zu leiten.

Solche Subtilitäten der Vernunft sind ihr völlig gleichgültig. Sie glaubt zu wissen, dass sie das Gute, ja das Heilige tut – und das Heilige bricht alle ordinären Gesetze. Merkel hat sich zur unfehlbaren Theokratin erhoben, die alle heidnischen Spielregeln der Demokratie mit Verachtung bestraft.

Sokrates fühlte sich vor der Anklage der Athener schuldlos. Doch er stellte sich dem Volksgericht und plädierte nicht nur für Freispruch, sondern für besondere Ehrung seiner Verdienste um die Demokratie. Als er schuldig gesprochen wurde, hätte er fliehen können. Doch er blieb und nahm das Todesurteil auf sich, auch wenn er das Urteil für falsch hielt – aus Respekt vor dem Gesetz. Goethes Satz hätte von Sokrates sein können: das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

Deutschland ist auf dem Weg, sich in der Mitte zu spalten. Die Messianischen glauben das Gesetz missachten zu dürfen, indem sie das Gute über das Gesetz und ihren Gott über die Welt erheben. Ihre Gegner verstecken sich hinter dem Gesetz, um ihre menschenfeindlichen Animositäten in juristischer Korrektheit zu verbergen. Das Volk der Dialektik ist nicht fähig, beide Extreme als Irrwege zu betrachten.

Kein Gesetz darf Gegner der gelebten Moral eines Volkes sein. Gesetze, die dem moralischen Anspruch eines Volkes nicht mehr genügen, müssen durch Streit und Abstimmung fortentwickelt und humanisiert werden. Gemessen an solchen Forderungen befindet sich die deutsche Demokratie noch in der Epoche der Steinzeit.