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Guru

Hello, Freunde der Gurus,

wenn die babylonischen Krisentürme in den Himmel wuchern, wird’s Zeit für Erlöser. Sie sprechen einen magischen Satz und werden mit Hosianna überschwemmt.

„Wir schaffen das“. „I am the normal one“.

„Wie ein Erlöser, wie ein Heiland, ein Guru, ein Jesus traten Sie bei Ihrer ersten Pressekonferenz auf. Ein Magic-Satz in der Magic City,“ jauchzt BILD einem Fußballtrainer entgegen.

Wir schaffen das: ist das kein löblicher moralischer Satz? Er wäre es, wenn er eingebettet wäre in eine verantwortliche Gesamtpolitik. Davon kann bei Merkel keine Rede sein. In einem neoliberalen Chaos, das sie an führender Stelle mit verursacht hat, will sie eine kleine reine Enklave von der bösen Welt abgrenzen und sich als barmherzige Samariterin feiern lassen.

Vor kurzem hätte man gesagt: sie betreibt symbolische Politik. Das ist hehre Himmelspolitik, die für die Folgen auf Erden nicht aufkommen muss. Der religiöse Hintergrund lautet: „Bei Menschen ist dies unmöglich, bei Gott aber sind alle Dinge möglich.“

Unter der geistlichen Führung einer frommen Frau wird Deutschland trutzig-lutherisch, bekenntnishaft, glaubens- und gesinnungsfest. Rechtzeitig zum Lutherjubiläum präpariert sich das Volk der Reformation zum Widerstandsakt gegen die ganze Welt: Hier stehen wir, wir können nicht anders. Wir sind nun mal eine vorbildliche Nation, ihr alle seid nur neidisch auf uns.

Nichts spricht gegen gute Absichten. Doch alles spricht gegen dieselben, wenn sie zu einsichtslosen Glaubensakten werden, die ihre eigenen Zwecke ruinieren. Journalisten, denen man einen gesunden Menschenverstand zugetraut hätte, argumentieren

nicht mehr, sie absolvieren den Kierkegaard‘schen Glaubenssprung in die gnädigen Hände des Herrn. Zuerst muss der Verstand gekreuzigt werden, dann erfolgt der Sprung. Weg vom Verstand in die weit geöffneten Arme des Herrn.

„Der Glaube fordert als Bedingung die „Kreuzigung des Verstandes“. Dies ist das Scheitern des Verstandes, dessen sich der Mensch bewusst werden muss. Hat er dies erkannt, so steht erst der Weg in den Glauben offen, der aus dieser Erkenntnis der eigenen Begrenztheit hervorgehen kann. Im Glauben nun wagt der Mensch den Sprung weg vom Verstand hin zum eigentlich Unmöglichen.“

Seit Tertullian hat sich nichts geändert: Sie glauben, weil es absurd ist. An Merkel muss geglaubt werden, obgleich sie ihren intellektuellen und praktischen Bankrott selbst erklärt hat. Glaubt sie den Flüchtlingen zu helfen, wenn sie Europa vor den Kopf stößt und ihre Bevölkerung über alles Menschenmögliche hinaus strapaziert? Dabei gäbe es tatsächlich Möglichkeiten, noch viel mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Durch radikale Veränderung unseres menschenfeindlichen Wirtschaftssystems.

Genau dies aber ist mit Frau Merkel nicht zu machen. Wie es gelingen soll, das zu schaffen, scheint ihr gleichgültig. Wer nicht die rechte Gotteszuversicht aufbringt, gehört nicht in ihr Land. Sie fordert Glauben – an sich, die Kanzlerin.

Bettina Gaus gehört zu den Neubekehrten, die Zeugnis ablegen für das Jesuanische, wenn die Bösen die Kreuzträgerin beschimpfen und bespucken.

„Und die Männer, die ihn bewachten, verspotteten und schlugen ihn und sie verhüllten ihn und fragten ihn: sag an, wer ists, der dich geschlagen hat?“

Gaus schreibt über Merkel, zu der sie sich spontan bekehrte – wie viele ihrer moral-allergischen KollegInnen, die plötzlich ihr schlechtes Gewissen entdecken und nur noch kompromisslos das Gute wollen:

Ungekrönt und angefeindet verfolgt sie in der Flüchtlingspolitik unbeirrt weiter eine Linie, die sie unbeliebt macht. Innerhalb Europas, innerhalb der eigenen Partei, bei ihren Wählern. Angela Merkel hat nichts davon, dass sie sich für Menschenrechte einsetzt. Im Gegenteil. Warum also tut sie es? Aber sie hat einen Anspruch auf Solidarität, wenn sie selbst Solidarität zeigt. Ich sage es sehr gerne: Beim Thema Flüchtlinge bin ich mit Angela Merkel solidarisch. Einschränkungslos. Und ich habe meine Meinung über sie geändert. Auch so etwas kommt vor.“ (Bettina Gaus in TAZ.de)

Fast alles ist grotesk an diesem Kommentar. Da muss der Bekehrungswille die letzten rationalen Synapsen ausgeschaltet haben. Merkel habe nichts von ihrem humanitären Intermezzo? Und deshalb wurde sie Kandidatin für den Friedensnobelpreis? Und deshalb bestaunte die westliche Presse die „bewundernswerte Merkel“. Ohnehin darf die mächtigste Frau der Welt sich nun auch die frömmste und vorbildlichste nennen. Nein, sie zeigt keine Solidarität, wenn sie solche nur predigt, die praktische Umsetzung aber anderen überlässt.

Dieselben Medien, die bis gestern ihre eigene Fremdenfeindlichkeit irren Pegadisten zuschoben – was nicht bedeutet, dass diese nicht auch fremdenfeindlich wären: Zusatz für Intelligenzler –, warten immer sehnlicher aufs Umkippen der Stimmung. Es wird so oft mit Umkippen gedroht, bis die Stimmung kippen wird, ja, kippen muss. Dann sind die alten Hackordnungen wieder hergestellt.

Wie oft gab es schon Brandanschläge gegen Flüchtlingsheime? Bisher hatten wir mehr Glück als Verstand. Ein einziger Irrer mit Molotowcocktail und die Sirenen beginnen quer durch die Republik zu heulen. Wie wird dann die „pragmatische“ Kanzlerin – so wurde sie im Presseclub genannt; die Tagesschreiber können pragmatisch nicht von opportunistisch unterscheiden – auf diese Bedrohung reagieren? „Okay, Leute, das hätte ich nicht gedacht, dass man sich für Moral entschuldigen muss. Jetzt muss ich tun, was ich nie tun wollte: die Verhältnisse zwingen mich, mit harter Hand durchzugreifen. Dann werde ich mir überlegen, ob das noch mein Land sein kann.“ Sprachs, flog flugs nach New York, um den Sessel von Ban ki Moon zu übernehmen. Was immer sie tut, ihr Weg geht immer nach oben.

Auch Hajo Schumacher gehört zur Kirche der Neubekehrten. Schumacher hält es für möglich, dass Merkel 2017 wenn schon nicht den Rückhalt der Wirtschaft, dann doch die Zustimmung der Bevölkerung verliert. Dann würde „erstmals eine Bundeskanzlerin wegen Menschlichkeit abgewählt, wäre auch mal was Neues“. So äußerte er sich in Jauchs Talkshow.

Kann es sein, dass eine Kanzlerin für ihre Politik das Volk werben muss? Mit harten Fakten und geschliffenen Argumenten? Spätestens seit dem Griechen-Bashing hat die Demütige keine Lust mehr auf Überzeugen, Ermuntern, Werben und Debattieren. In ihrem Gebetskämmerlein spricht sie mit ihrem Herrn und Meister, das war‘s. Dann weiß sie, was sie deo gloria zu tun hat.

Kann es sein, dass sie das Flüchtlingsproblem – das schon lange voraussehbar war – langfristig bei den europäischen Partnern hätte ansprechen müssen? Nichts davon ist geschehen. Wozu auch? Streng genommen, macht Merkel überhaupt keine irdisch-verantwortliche Politik. Sie lässt das Chaos laufen. Gemäß dem Spruch des Herrn: gebet dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist. Der Sinn dieses Spruches ist: was die Welt bis zum Ende der Tage noch zu bieten hat, ist belanglos. Zu retten ist sie ohnehin nicht. Rette, meine getreue Magd, spricht der Herr, die, die ich erwählt habe aus der steigenden Sündenflut. Alles andere geht dich nichts an.

Was unterscheidet die Tat des barmherzigen Samariters von der durchdachten Tat einer solidarischen Demokratie?

„Ein Samariter aber reiste und kam dahin; und da er ihn sah, jammerte ihn sein, ging zu ihm, verband ihm seine Wunden und goß darein Öl und Wein und hob ihn auf sein Tier und führte ihn in die Herberge und pflegte sein. Des anderen Tages reiste er und zog heraus zwei Groschen und gab sie dem Wirte und sprach zu ihm: Pflege sein; und so du was mehr wirst dartun, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme.“

Nichts gegen den Samariter, der – im Gegensatz zu etlichen Superfrommen – noch ein Gefühl für Menschlichkeit hatte. Ein verantwortlicher Sozialstaat aber kann nicht auf die Prinzipien Zufall und Willkür setzen. Er braucht flächendeckend Notrufsäulen, eine funktionierende medizinische Notfallhilfe und nachhaltige Unterstützungsmethoden, die von der ganzen Bevölkerung getragen werden.

In einer Theokratie unterliegt alles dem unberechenbaren Willen eines Gottes, der seiner Devise folgt: 90% (viele, aber nicht alle) sind berufen, nur EINPROZENT sind auserwählt. Seit 2000 Jahren wird dieses Prinzip durch westliche Ökonomien in der ganzen Welt verbreitet. Dann wundere man sich, dass EINPROZENT die Welt beherrscht. Merkel mimt die Samariterin. Demokratische Politik ist ihr schnuppe, seitdem sie unfehlbar wurde.

Wie Religion die Nächstenliebe nutzt, um die Spreu vom Weizen zu trennen, so benutzt die Kanzlerin ihre spontan-eingeübten Samariter-Parolen, um ihr eigenes Volk zu spalten. Wie können Deutsche den Fremden helfen, wenn die xenophobe Hälfte die andere verbeißt?

„Zwar stimmt es auf einer strukturellen Ebene, dass Deutschland keine so starke rechte Partei wie Frankreich oder Österreich hat und dass die NPD immer mehr an Einfluss verliert. Aber dennoch erlebt Deutschland gerade einen Rechtsruck. Einfach weil sich die Zahl der rechtsextremistischen Taten so vervielfacht hat. Und ist es nicht völlig egal, ob ein Rechtsterrorist nun SPD oder die NPD wählt? Zudem ist ein Trend klar: Offener Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie wurden in den letzten Jahren wieder salonfähiger.“ (Jasmin Kalarickal in TAZ.de)

Deutschland zerlegt sich. Und Merkel sägt mit. In dürren Worten zeigt Henrik Müller den Zusammenhang der Flüchtlingskrise mit allen anderen Krisen der letzten Jahre.

„Europa sieht sich gefangen in einer Abfolge von Ausnahmezuständen. Unvorhersehbar, unabwendbar, unlösbar – so jedenfalls scheint es. Tatsächlich liegen die Dinge etwas anders. Krisen, die lange vor sich hin schwelen, ziehen die nächsten Schwierigkeiten nach sich. Aus den ungelösten Problemen von gestern wachsen die Krisen von morgen. Daran ließe sich sehr wohl etwas ändern.“ (Henrik Müller in SPIEGEL.de)

Wenn Wirtschaft nicht mehr stimmt, verfällt der Wohlstand. Wenn Gerechtigkeit nicht stimmt, verfällt das Gleichgewicht der Gesellschaft. Geht das Gleichgewicht flöten, werden alle moralischen Werte mit in den Abgrund gerissen.

All diese lebensnotwendigen Erkenntnisse nimmt Merkel nicht zur Kenntnis. Sie dreht an allen Knöpfen, die sich drehen lassen und Stimmen bringen. Ihre Politik entbehrt aller Prinzipien. Ihr gläubiges Haupt schwebt im Himmel, nur ihre unedlen Teile wandeln kopflos auf Erden.

Wer stand in allen Krisen der letzten Jahre am Steuer und kriselte kräftig mit? Die Gesinnungsillusionistin aus dem Kanzleramt. Für diese Heldentaten wird sie von ihrer neuen Fan-Gemeinde belohnt. Solche Petitissen interessieren keine betenden Symbolprediger. Sie wollen das Gute in überirdischer, unbefleckter Währung. Warum sind die neugermanischen Edlen plötzlich so agapös? Weil sie seit der Deutschen Bewegung leidenschaftliche Machiavellisten und Anhänger der Staatsraison waren.

Die Deutsche Bewegung begann, als Deutschland sich von der französischen Dominanz zu lösen begann. Ausgelaugt und erschöpft von endlosen Religionskriegen, die Deutschlands Bedeutungslosigkeit noch bedeutungsloser gemacht hatte, wollten die aufstrebenden Talente der Sturm und Drang-Zeit von Moral – die sie mit Religion verwechselten – nichts mehr wissen.

Voltaire war der führende Aufklärer und Moralist der Franzosen. Voltaire, scharfer Kritiker des Christentums, kämpfte leidenschaftlich gegen alle Ungerechtigkeiten in der Welt. Sein „Naturrecht“ war keine ambivalente Offenbarung des Himmels, sondern eine widerspruchsfreie Moral, die zu allen Zeiten für alle Menschen dieselbe war.

Wer Widersprüche in seiner Moral zulässt, macht sie zu Makulatur. Geschichte habe keine Lizenz, so Voltaire, das Wahre im Namen einer linearen Destruktion des Bewährten über den Haufen zu werfen. „Es gibt nur eine sehr einfache, aber universal gültige Moral“, wie ein Historiker Voltaires Haltung beschreibt.

Eine sinnvolle und effiziente Moral darf nicht widersprüchlich sein – wie etwa die biblischen Antinomien, bei denen sich jeder nach Belieben wie in einem großen Kaufhaus bedienen kann. Direkt neben dem Sonderschlussverkauf für Feindesliebe steht der Verkaufsstand für das Ausrotten aller gottlosen Horden. Das ist die wohlfeilste Ethik der Welt, in der man sich nach Lust und Laune die göttliche Erlaubnis für selbstlos scheinenden Altruismus wie für hemmungslosen Egoismus ergattern kann. Selbstlos scheinend, da jede Liebestat die Chancen zur ewigen Seligkeit erhöht.

Jede Glaubens-Tat hat einen außermoralischen und selbstischen Zweck. Den Zweck, die Aufstiegschancen in den Himmel zu erhöhen. Mit guten Taten sammelt man glühende Kohlen aufs Haupt des Hilfsobjekts. Keine Caritas hilft dem Anderen beim Erwerb des ewigen Lebens. Die christliche Moral ist das größte egoistische Täuschungsmanöver der Geschichte im Mantel des Gegenteils.

Das war der Grund für Adam Smith, den heuchlerischen Selbstlosigkeiten seiner christlichen Tauschpartner zu misstrauen. Deshalb seine – leider genau so sinnlose – Reaktionsbewegung ins Gegenteil.

Der frühe Kapitalismus besaß noch einen moralischen Impetus, der heute zur Farce wurde: wohlverstandener Egoismus ist die effektivste Möglichkeit, seiner Nation durch ehrlich verdienten Reichtum zu dienen. Man lese Carnegies „Evangelium des Reichtums“. Reichtümer dürften keinen Erben hinterlassen werden, um deren unverdiente Privilegien zu verstärken, sondern sollten durch Stiftungen und Geschenke der Gesellschaft zugute kommen.

In Warren Buffetts caritativen Impulsen kann man noch die letzten Reste dieser frühamerikanischen Altruismus-Egoismus-Vertauschung beobachten. (Buffetts Spruch: „Umgib dich mit Leuten, die besser sind als du selbst“, hat Merkel getreu befolgt. Sie findet nur keine mehr, die besser wären als sie. Deshalb wird es einsam um sie.) Würden Smith und Carnegie allerdings die heutigen Raff- und Vererborgien erleben, würden sie ihr Lebenswerk nachträglich verfluchen.

Die Voltaire‘sche Vernunft-Humanität war für den jungen Goethe in Straßburg ein hohler abstrakter Mechanismus. Was der Frankfurter von Humanität hielt, erfahren wir aus seinem Satz: Gewiss werde die Humanität einmal siegen, doch so, „dass die Welt zu gleicher Zeit ein großes Hospital und einer des anderen humaner Krankenwärter sein werde.“ Damit verschärfte er Herders Zweifel „an dem absoluten Werte des Humanitätsideals.“

Wie Hegel „dem Kammerdiener“ das Recht verweigerte, die Weltgeschichte nach seinen bornierten Winkeltugenden zu beurteilen, so höhnte der Weimarer „Fürstenknecht“ über jene Philister, die die große Geschichte nach moralischen Maßstäben bewerteten. „Mir, auf meiner einzelnen Warte“, schrieb er an Reinhard, „ist abermals aufgefallen, dass man aus dem moralischen Standpunkt keine Weltgeschichte schreiben kann.“ Jedes Ding dürfe nur aus sich selbst beurteilt werden, nicht nach einem von außen kommenden Kriterium.

Wenn das Ding aber schon in sich selbst verkommen ist, was dann, oh Weimarer Fürst der Poesie: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut?“ Nur keine Sentimentalitäten beim Betrachten der Geschichte: „Ob dieser oder jener stirbt, dieses oder jenes Volk untergeht, ist mir einerlei, ich wäre ein Tor, mich darum zu bekümmern.“ Das traf auch für sein eigenes Volk zu, als er keine Skrupel hatte, Napoleon, dem Besieger Preußens, mit seinem Besuch zu huldigen.

Goethe rechtfertigte auch die preußische Einverleibung polnischer Gebiete und verwarf die „gewöhnlichen platten moralischen Politiker“ mit der Erklärung: „Kein König hält Wort, kann es nicht halten, muss stets den gebieterischen Umständen nachgeben. Für uns arme Philister ist die entgegengesetzte Handlungsweise Pflicht, nicht für die Mächtigen der Erde.“

Was heute verächtliche Gutmenschen sind, waren früher Kammerdiener und Philister der Moral. Gewöhnliche Tugenden sind nur für den Pöbel, die Mächtigen können nach Belieben hausen. Diese Zweiteilung der Moral hat sich im Kapitalismus bis auf den heutigen Tag verewigt. Fürsten verwandelten sich in Geld- und Machteliten, die Unterschichten durften Predigten der Popen folgen.

Merkel ist eine Mischung aus Moral und haltloser Mitläuferin der jeweiligen Trends. Philisterhafte Moralität geht gewöhnlich an ihr vorbei, jetzt hat sie die Chance ergriffen, per kollektiver Kammerdienermoral eine weltweite Heldin der Barmherzigkeit zu werden. Das muss ihr einer erst nachmachen.

Nicht mal Kant konnte seine kategorische Moral konsequent festhalten. Er benötigte einen geheimen Plan der Natur, der den zur Trägheit und Bequemlichkeit neigenden Menschen anstachelte, in rabiater Konkurrenz seine Mitmenschen zu übertrumpfen. Im Kampf der Interessen musste Moral oft genug den Kürzeren ziehen.

Bei Hegel war Moral nichts Besseres als das Aufplustern deutscher Stammtisch-Strategen, die die großen Züge der Weltgeschichte nicht überschauen.

Marx war ein Verächter der Moral. Sozialisten, die per Moral die Welt der Ausbeutung verändern wollten, schalt er utopische Sozialisten. Er hätte auch von Traumtänzern sprechen können. In diesem Punkt blieb der Trierer ein hegelianischer Romantiker.

Von Marx übernahmen alle linken Nachkriegsrevoluzzer die Verachtung der Moral, heute sitzen dieselben in den Redaktionsstuben der großen Gazetten.

Für Deutsche war Moral westliche Vernünftelei. Goethe, Herder, Hegel und Marx: alle waren sich zu schade für ordinäre Moral. Ihr Ingenium ragte in die irrationalen, untergründigen, unbewussten, unberechenbaren, numinosen Abgründe und Tiefen einer genialen Nation. Die Geniereligion löste den Heiligen Geist ab und deklassierte alle Moralisten zu Flachköpfen. Den Exzess des Amoralischen exekutierten deutsche Romantiker in der kriegerischen Bedenkenlosigkeit im Dritten Reich. Sie begingen ihre Völkerverbrechen in völliger Gesinnungsreinheit.

Weder Wunder noch Zufall, dass die amoralische Nation irgendwann in die Gegenreaktion kippen musste. Auch die Ideologie der Befreier – der unbändige Finanzkapitalismus – war noch eine Fortsetzung des deutschen Amoralismus. 70 Jahre dauerte es, bis die Deutschen von Anwandlungen nach dem reinen Guten befallen wurden. Gerade jetzt, da die Krisen Europas überhand zu nehmen beginnen.

Kurt Sontheimer beschreibt in seinem Buch „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik“ die nach Heilanden und Gurus lechzende Atmosphäre der beginnenden NS-Zeit. Ähnlichkeiten mit der Gegenwart wären überzufällig:

„Hier stoßen wir auf den Kern des nationalistischen Führermythos: die Erwartung eines vom Himmel auserkorenen, mit besonderen Gnadengaben versehenen großen Menschen, der Deutschland aus seiner Not reißen und es wieder empor zum Licht und zu neuer Größe führen wird. Sontheimer zitiert Wilhelm Stapels Buch über den „Christlichen Staatsmann“:

„Der wahre Staatsmann vereinigt in sich Väterlichkeit, kriegerischen Geist und Charisma. Väterlich waltet er über dem seiner Hut anvertrauten Volke, wenn sein Volk sich mehrt und wächst, schafft ihm, indem er die kriegerischen Kräfte des Volkes sammelt, Raum zu leben. Gott aber segnet ihn mit Glück und Ruhm, so dass das Volk verehrungsvoll und vertrauend zu ihm aufblickt. So wägt der Staatsmann Krieg und Frieden in seiner Hand und hält Zwiesprache mit Gott. Seine menschlichen Erwägungen werden zum Gebete, werden zu Entscheidungen. Seine Entscheidung ist nicht nur der abgezogene Kalkül des Verstandes, sondern die ganze Fülle der geschichtlichen Kräfte. Seine Siege und Niederlagen sind nicht menschliche Zufälle, sondern göttliche Schickungen. So ist der wahre Staatsmann Herrscher, Krieger und Priester zugleich.“

Man ersetze die Hauptbegriffe Stapels durch moderne Machtbegriffe und erhalte das Porträt der Kanzlerin. Mütterlichkeit statt Väterlichkeit, neoliberale Raffgier statt kriegerischer Geist, Konjunkturdaten statt Krieg und Frieden. Dann können wir das Fazit ziehen: So ist Merkel die wahre Mutter der Nation, alternativlose Herrscherin, amoralische Wirtschaftskriegerin – und priesterliche Erlöserin in einer Person.

„Die charismatische Führerin richtet sich nicht nach der Masse, sondern nach ihrer Sendung. Sie schmeichelt dem Pöbel nicht. Unbeugsam, gerade und rücksichtslos geht sie voran, in guten und bösen Tagen. Die Führerin ist radikal. Sie ist ganz, was sie ist, und tut ganz, was sie tun muss. Sie tut den Willen Gottes, den sie in sich verkörpert.“ (Stapel)

Die Deutschen sehen wieder die Chance, an die Spitze der Welt vorzurücken. Diesmal nicht mit bösen, sondern mit ausnehmend guten Taten. Endlich kann Realität werden, was der Hauptphilosoph der Romantiker in gewohnter Bescheidenheit zu Papier brachte:

„Ihr sehet im Geiste durch dieses Geschlecht den deutschen Namen zum glorreichsten unter allen Völkern erheben, ihr sehet diese Nation als Wiedergebärerin und Wiederherstellerin der Welt.“ (Fichte)

Die Deutschen werden die Welt als neue wiedergebären. Woran Obama scheiterte, wird Merkels Charisma mit dem schlichten Sätzchen gelingen: wir schaffen das.